„Frankfurter Präventionsräte – Opfer aller Stadtteile, vereinigt Euch!“

Die Gemeinschaft der Ängstlichen ist undemokratisch und autoritär!

Das Zauberwort der aktuellen Diskussion über die Probleme der inneren Sicherheit lautet: „Verbrechensprävention“. Entgegen altbackener „law and order“-Vorschläge verspricht die moderne Präventionsstrategie neue Wege in der Verbrechensbekämpfung. Die traditionelle „kriminalistische Nachsorge“ soll nun durch gemeinschaftliches Handeln in der Nachbarschaft und im Stadtteil ergänzt werden. Ziel ist es, das Sicherheitsgefühl der Bürger zu stärken und Verbrechen von vornherein zu verhindern.

Die Stadt Frankfurt am Main hat, wie keine zweite, die Voraussetzungen dafür, eine Vorreiterin dieser neuen Kriminalitätspolitik zu werden: Die Mainmetropole gilt als die deutsche Hauptstadt des Verbrechens, als Drogenumschlagplatz erster Klasse und habe zudem – was immer wieder in diesem Zusammenhang Erwähnung findet – den höchsten Ausländeranteil aller deutschen Großstädte. Bereits in der Vergangenheit stand das Thema Kriminalität nicht nur dauerhaft auf der politischen Tagesordnung am Main, sondern es schmückt auch alle Jahre wieder zur Wahlkampfzeit unzählige Werbeflächen und Häuserwände.

Es ist jedoch nicht nur der von allen Parteien diagnostizierte „Handlungsbedarf“, sondern auch die aktuelle parteipolitische Konstellation, die Frankfurt für Experimente so attraktiv macht: Im Frankfurter Römer ist die CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth auf Gedeih und Verderb mit einer schwächelnden SPD verbandelt. Das Überspringen von Parteigräben gehört deshalb gerade in Frankfurt zur politischen Überlebensstrategie und wird von allen Seiten rege betrieben. Die real existierende Große Koalition im Römer ist gezwungen, neue Wege zu gehen und diese in höchsten Tönen zu besingen, um ihre zersplitterte und demotivierte Wählerschaft und nicht zuletzt sich selbst bei Laune und der Stange zu halten. Das Thema „innere Sicherheit“ bietet hierfür eine gute Gelegenheit: Einerseits können überparteiliche Gemeinsamkeiten gepflegt und Handlungswilligkeit zur Schau gestellt werden; andererseits soll der verunsicherte Bürger durch direkte Zusammenarbeit mit Politik und Polizei wieder Vertrauen zu staatlichen Institutionen schöpfen.

„Gewalt-Sehen-Helfen“ – die neue Sicherheitskampagne der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth – offenbart diese Zielsetzung: Unter dem Motto „Reagieren statt Gaffen“ will Roth gegen „den zunehmenden Egoismus der Menschen und die Auflösung sozialer Bindungen“ vorgehen (Frankfurter Rundschau, 16.10.97). Mit zahlreichen Plakaten, Handzetteln und Veranstaltungen soll das verloren gegangene „Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft“ beschworen werden, denn schließlich, so betonte der Frankfurter Polizeipräsident Wolfhard Hoffmann, „könne jeder zum Opfer werden“. Um den Zusammenhalt dieser neuen Opfergemeinschaft zu schmieden, sind außerdem die Einrichtung eines Aktionstelefons sowie zahlreiche Projekttage an Frankfurter Schulen geplant. Hierüber sollen den kleinen und den großen Bürgern das Ausmaß der allgemeinen Bedrohung sowie sinnvolle „Verhaltensstrategien“ näher gebracht werden. Als besonders fortschrittlich wird zudem gepriesen, daß die Aktion nicht allein aus den ohnehin leeren Römerkassen finanziert wird. So wird in Polizeikreisen die Hoffnung geäußert, es mögen sich private Sponsoren bereit erklären, die Aktion zu finanzieren – ein geschicktes Manöver: Die Bürger sollen sich von Experten zunächst einschüchtern und dann „ausbilden“ lassen, ihre Sicherheit anschließend selbst organisieren – und dafür bezahlen.

Diese Kampagne ist jedoch nur ein Beispiel für die „experimentelle“ Sicherheitspolitik des Frankfurter Magistrats. Jenseits großer Öffentlichkeit ist Verbrechensprävention bereits seit längerem zu einem zentralen Bestandteil Frankfurter Kommunalpolitik geworden. Im Stadtpräventionsrat laufen die Fäden der parteiübergreifenden Kooperation zusammen.

Ihm gehören mit der Oberbürgermeisterin Roth, dem Polizeipräsidenten Hoffmann, dem Leiter der Frankfurter Staatsanwaltschaft, dem Ordnungsdezernenten und dem Dezernenten für Soziales und Jugend Repräsentanten der wichtigsten städtischen Behörden an. Dieses Gremium hat sich zum Ziel gesetzt, zukünftig in fast allen Frankfurter Stadtteilen die Errichtung regionaler Präventionsräte zu fördern. In ihnen sollen ehrenamtliche Bürger, Sozialarbeiter, Politiker und Sicherheitsbehörden auf lokaler Ebene in Sicherheitsfragen zusammenarbeiten. Neben Sensibilisierung und Ermunterung der Bürger steht vor allem die Suche nach erfahrenen und vertrauenswürdigen Führungspersönlichkeiten, die sich in den Räten engagieren sollen, im Zentrum der Arbeit. Der erste lokale Präventionsrat arbeitet seit Mai 1997 im Frankfurter Stadtteil Sossenheim. Unter dem Vorsitz der Vizepräsidentin der Industrie- und Handelskammer, Dagmar Bollin-Flade, hat der Rat unter anderem die Bewachung und Sicherung von Schulhöfen organisiert sowie eine Initiative zur Kennzeichnung von Kampfhunden mit Warnplaketten gestartet.

Als „kleines Stadtteilkabinett“ bezeichnet der Referent des Ordnungsdezernenten, Frank Goldberg, das Sossenheimer Gremium, dem neben Kirchenvertretern und Sozialarbeitern auch Schulrektoren und Vertreter des örtlichen Gewerbevereins angehören. Sichtbare Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung erwarte man zwar nicht – „Prävention ist nicht messbar“ -, bestätigt Goldberg, dennoch arbeite der Rat „mit großem Erfolg“: Die anfängliche Skepsis der Bevölkerung sei mittlerweile aufgrund der guten Öffentlichkeitsarbeit soweit gewichen, daß man „nicht mehr ständig die Existenz des Rates rechtfertigen“ müsse.

Offensichtlich bedurfte es einiger Überzeugungsarbeit, um den Sossenheimern klarzumachen, daß sie dringend einen Präventionsrat brauchen. Den Bewohnern von Frankfurt-Zeilsheim soll dies im November dieses Jahres beigebracht werden. Unter der Leitung des Frankfurter Landtagsabgeordneten Alfons Gerling (CDU) soll ein ähnliches Gremium gemeinsam mit Bürgern im Stadtteil gegen die sich zusammenrottenden kriminellen Jugendlichen vorgehen. Zwar sei die Situation in Zeilsheim keineswegs spektakulär, betont Gerling, sondern eher mit der in anderen Vierteln zu vergleichen, dennoch könne ein solche Rat die „Kräfte im Stadtteil bündeln, besser als jede Partei“.

Auch andere Befürworter der staatlich geförderten Bürgerzusammenschlüsse stellen deren integrierende Rolle in der modernen „atomisierten Gesellschaft“ heraus. Nach Ansicht des Geschäftsführers des hessischen Landespräventionsrates, Dr. Helmut Fünfsinn, geht es um „soziale Kontrolle im positiven Sinn“: Die lokalen Initiativen sollen „den Straßenbahnschaffner und den Hausmeister ersetzen“, die früher den Menschen als Ansprechpersonen galten. Heute sei es wichtig, insbesondere im nachbarschaftlichen Umfeld ein „Wir- und Heimatgefühl aufzubauen, in dem der eine auch mal die Blumen des anderen gießt oder auf dessen Wohnung aufpaßt“. Mit „Blockwart“ oder dem „gläsernen Stadtteil“ habe dies nichts gemein.

Kritik an den Präventionsräten wird seit Jahren aus den Reihen der Rechtswissenschaft geübt. Betont wird in erster Linie die ungeklärte Rechtslage und die mangelnde demokratische Kontrolle der Stadtteilräte. Sowohl für Fünfsinn als auch für den bündnisgrünen Bundestagsabgeordneten Rezzo Schlauch aus Stuttgart ist diese Kritik jedoch aus der Luft gegriffen. Fünfsinn argumentiert, rechtsstaatliche Kompetenz erführen die Räte durch die mitarbeitenden Vertreter von Politik und Polizei. Schlauch hingegen hält generell die Frage nach der rechtsstaatlichen Verankerung der Präventionsräte für „formalistisch“ und fordert, man solle angesichts der großen Defizite bei der Verbrechensverhütung „nicht päpstlicher sein als der Papst“.

Diese Antworten offenbaren den problematischen Charakter der Präventionsräte: Wenn die rechtsstaatliche Kompetenz der Räte einzig durch Politik und Polizei gewährleistet werde, bedeutet dies, daß diese Vereinigungen letztlich nichts anderes sind als die zivile Ausdehnung staatlicher Ordnungsmacht. Was der unbeliebten Polizei und der entrückten Politik an berechtigtem Misstrauen entgegengebracht wird, soll nun mittels „öffentlich-rechtlich begleiteter Bürgerwehren“ wieder ausgeglichen werden. Dies erklärt auch, warum insbesondere Kommunalpolitiker sich für diese Räte stark machen. Die „Bündelung aller Kräfte im Stadtteil“, wie sie in Frankfurt-Zeilsheim angestrebt wird, bedeutet keineswegs den Ausbau der demokratischen Mitbestimmungsrechte der Bevölkerung im Viertel. Nicht der mündige politische Bürger, der, so er will, seine Politiker zum Teufel jagt, ist hier gefragt. Im Zentrum steht der schutzbedürftige und nach Kontrolle rufende Bürger, der in seiner Eigenschaft als Betroffener und als Opfer den Zusammenhalt der verunsicherten Gesellschaft aufrechterhalten soll. Schlechte Aussichten für die Freiheit!

Erschienen in Novo31, November 1997

„Greenpeace gegen die gelb-schmutzige Gefahr“

Das Greenpeace-Magazin zog in seiner Mai/Juni-Ausgabe (1997) alle Register des ökologisch korrekten anti-chinesischen Chauvinismus.

Man fühlt sich an längst vergangene Zeiten erinnert, die man nur aus vergilbten Zeitungen und Schwarz-Weiß-Filmen kennt. Und doch ist das Titelbild des Greenpeace-Magazins ein Symbol für eine Weltsicht, wie sie heute weit verbreitet ist. Mehr als 50 Jahre nach dem Ende Zweiten Weltkrieges ist die „Gefahr aus Fernost“ ein Titelbild wert; diesmal jedoch nicht auf einer staatstragenden Zeitschrift oder einem Kriegspropagandablatt, sondern in der offiziellen Publikation der größten Umweltschutzorganisation der Welt.

Das Titelbild der Zeitschrift zeigt einen schlitzäugigen Blaumannträger mit rotem Kommunistenstern an der Brust, der unaufhaltsam mit seinen Proletenstiefeln über den untergehenden grün-bewaldeten Planeten Erde hinwegtrampelt, dem Fortschritt entgegen, im Rücken die aufgehende und brennende Sonne am glutroten Himmel. „Vorwärts um jeden Preis“ lautet der Untertitel des Bildes, und „Wie Chinas Wirtschaftsboom die Umwelt ruiniert“. Das Innere des Magazins gibt einen Vorgeschmack auf das, was uns wahrscheinlich als Umweltjournalismus des 21. Jahrhunderts noch öfter unter die Augen kommen wird.

Was das Greenpeace-Magazin hier präsentiert, ist ein Musterbeispiel für das, was man ohne weiteres als anti-chinesischen Öko-Chauvinismus bezeichnen kann: Eine „schmutzig-gelbe Gefahr“ aus Fernost ist, so will uns das Heft warnen, drauf und dran, die Lebensgrundlagen der zivilisierten Welt zu zerstören. Der um jeden Preis grinsend vorwärtstrampelnde Kommi-Proleten-Asiat mit dem fanatisch nach vorne gerichteten „Nach-mir-die-Wüste-Blick“ vereint alle anti-asiatischen Vorurteile, die heute im Umlauf sind: Nach der Invasion japanischer Touristen, Kleinwagen und Kunstsammler und der Überflutung des europäischen Marktes durch koreanische Kleinbildkameras laufen wir nun Gefahr, von fernöstlichem Dreck und Gestank und Umweltkatastrophen made in China überrollt zu werden. Die Bilder im Innern des Heftes sprechen hier für sich. In glutrot und verbrannt-gelb gehaltenen Bildern erscheint China als verschmutzte und lebensfeindliche Boom-Wüste mit Bildüberschriften wie „Pech und Schwefel über den Metropolen“, „Das Ende der Wälder“, „Das Land der toten Flüsse“ und „Die tödliche Kraft des Atoms“.

Diese Darstellung der Gefahr aus Fernost knüpft geradezu nahtlos an das traditionelle westliche Asien-Bild an. Waren es in der Weltkriegspropaganda in erster Linie die Japaner, die in Zeitungskarikaturen als Ratten, blutrünstige Monster oder Insekten die westlichen Pfründe bedrohten, so sind es heute die boomenden Tiger-Staaten sowie China, die mit einer Mischung aus insgeheimer Bewunderung und offener Feindseligkeit beäugt werden. Die Vorstellung der japanischen Gesellschaft als anonymer Ameisenhaufen sowie die Schreckensvisionen der unendlichen, gesichtslosen chinesischen Arbeiterarmeen sind heute präsenter denn je. Sie zeugen davon, daß auch heute tiefsitzendes Misstrauen und Verachtung das westliche Asienbild prägen.

Dass heute nicht mit Insektenbildern hantiert wird, ist kein Anlass zur Entwarnung. Der Chauvinismus bedient sich heute lediglich einer anderen Sprache. Denn ob durch die Darstellung als Ungeziefer, als Ameisenvolk oder als unverbesserliche, fanatische Weltverpester – die Schlussfolgerung ist die gleiche: Asiaten sind eine aggressive Bedrohung für die zivile, demokratische und offene Gesellschaft des Westens.

Das Gefährliche an dieser neuen Form des Chauvinismus ist, dass er von den meisten Menschen nicht als solcher erkannt wird. Gekleidet in ökologische Formeln ist oberflächliche und vorurteilsbeladene Ablehnung von Menschen jedoch keinesfalls weniger gefährlich. Im Gegenteil: Hier erhält Chauvinismus eine neue, „verdauliche“ Konsistenz. Das Greenpeace-Magazin hat ganze Arbeit geleistet: Es hielt seinen Titelbild-Chinesen scheinbar für so gelungen, daß es ihn auch noch in Postkartenformat über der Welt ausschüttete.

Erschienen in Novo29, Juli 1997

„Ein paar der fettesten Enten schlachten“

Eine Besprechung von Burkhard Müller-Ullrichs Buch „Medienmärchen. Gesinnungstäter im Journalismus“, Karl-Blessing Verlag, München 1996, 254 Seiten.

 

Burkhard Müller-Ullrichs Buch Medienmärchen. Gesinnungstäter im Journalismus will aufräumen im Entenstall des 90er-Jahre-Journalismus. Und es will nicht nur Enten zählen und erzählen, es fragt auch nach Möglichkeiten, den zu Text erstarrten Schall und Rauch des „Gesinnungsjournalismus“ aus dem journalistischen Geschäft zu drängen. Daß es Müller-Ullrich dabei sehr ernst meint, stellt der Leser schon daran fest, daß der Name des Vorzeigefälschers der deutschen Medienlandschaft Hans-Michael Born beruhigenderweise auf den ersten 187 Seiten keinerlei Erwähnung findet. Während viele Medienkritiker das Jahr 1996 zum Born-Jahr kürten und an ihm ein oberflächliches, „Born-iertes“ Exempel für die Verführbarkeit von Chefredakteuren und Nachrichteneinkäufern statuierten, befaßt sich Müller-Ullrich mit einem viel grundlegenderen Trend, der die Grundfesten des Journalismus viel entscheidender in Frage stellt, als oben genannter Starfälscher es jemals zu tun gewagt hätte.

Der Autor, selbst interner Kenner des verschlungenen Kanalsystems im ”öffentlich-rechtlichen Äther sowie der ausgetretenen Pfade des deutschen Blätterwaldes, unternimmt in Medienmärchen den Versuch, dem sich rasant ausbreitenden „Nonsense“, sprich, „der Systemik, mit der Fehler und Irrtümer erst verbreitet und gestärkt werden“, zu Leibe zu rücken (S.14). Als „Enemy of Nonsense“, wie Müller-Ullrich mit einem Zitat von George Orwell die Devise eines guten Journalisten beschreibt, muß man mehr tun, als lediglich die Verbreitung einzelner Exemplare der Gattung „Nonsense“ durch die Medien zu verhindern, denn es geht letztlich um die Ausmerzung dieser besonderen Spezies des Journalismus, die er auch „Gesinnungsjournalismus“ nennt. Nicht BILD-Journalismus ist also der Stein, der ins Rollen und Trudeln kommen soll, sondern die moderne taz-Variante.

Burkhard Müller-Ullrich („BMU“) richtet seine Aufmerksamkeit nicht – wie viele seiner Kollegen – auf den Parteienfilz der Medienwelt, die Korruption oder die Geldgier, sondern erklärt unumwunden, daß „Journalisten keine Opfer“ sind.Während der bekannte Journalist Heinz Burkhart in seinem Buch „Medienknechte“ von 1993 anmahnt, ein Journalist sollte „kein Parteibuch haben“ und die parteipolitischen Verflechtungen im Medienapparat anprangert, geht „BMU“ einen Schritt weiter und konfrontiert die Journalisten direkt. Nach seiner Einschätzung ist das, was in den Köpfen der journalistischen „Gewissenschaftler“ vorgeht, entscheidender als jeder Filz:

„Denn viele Journalisten, zumal hierzulande, wollen gar nicht reagieren, sondern regieren und agieren – um nicht zu sagen: agitieren. Für sie ist Journalismus vor allem eine Sache der Gesinnung.“ (S.19)

Medienmärchen handelt also von den Überzeugungstätern und von der zunehmenden Fälschungssucht gerade der „engagierten“ Journalisten, die jede konservativ-politische Verstrickung weit von sich weisen würden. Sie werden treffend „Solidaritäter“ genannt, die in der Verfolgung ihrer zum Teil sicherlich hehren Ziele ihre eigentliche Aufgabe verdrängen und den Journalismus ad absurdum führen:

„Sie wollen Betroffenheit zeigen und Betroffenheit erzeugen; sie wollen Überzeugungsarbeit leisten. Die Nachrichten müssen sich halt danach richten… Gesinnungsjournalisten verstehen sich als Vorkämpfer des Guten in einer bösen Welt. Deshalb stoßen sie beständig Warnungen … aus. Warnen heißt: eine Befürchtung proklamieren. Eine Befürchtung hat etwas nicht Bewiesenes zum Inhalt. Befürchtungen sind somit das Gegenteil von Nachrichten.“ (ebd.)

In diesem Kampf gegen „das Böse“ geraten Nachrichten und Fakten unter der Feder mehr und mehr zu „Vehikeln der Empörung“. Der Autor listet unzählige Beispiele für solche „Nachrichten“ auf, die in ihrem schonungslos aufgedeckten Umfang – der Autor zitiert eine Untersuchung, nach der gegenwärtig in den Medien bis zu 46 Prozent mehr gelogen werde als vor zehn Jahren – die bedrohlichen Ausmaße des Gesinnungsjournalismus offenbar werden lassen.

Medien-GAU

In der Folge zeichnet der Autor anhand der ökologischen und moralischen Reizthemen „Waldsterben“, „Tschernobyl“, „Brent Spar“ und „Organhandel“ nach, zu welchen Verfehlungen und öffentlichen Fehlwarnehmungen gewissensmotivierter Journalismus führen kann. Ganz im Tenor von Dirk Maxeiners und Michael Mierschs Buch „Ökooptimismus“ wird erklärt, daß es den schreibenden „Zeitgeistverstärkern“ und „Hiobsbotschaftern“ nicht daran liegt, realistische und faktische Berichterstattung zu liefern, frei nach dem Motto: „Dies mag für die Umwelt eine gute Nachricht sein, für den Umweltjournalisten ist es, so paradox es klingen mag, eine schlechte“ (Ökooptimismus“, S.23). Das Aufbauschen von Untergangsszenarien hat System, „BMU“ erkennt darin den „Fundus traditioneller Zivilisationskritik“ sowie den „linksgewendeten Phänotyp der Nach-Achtundsechziger-Zeit“, in der Optimismus schädlich, weil keine Betroffenheit erregend, und deshalb mit allen Mitteln verhindert wird. Da oft die nahende Katastrophe nicht gesehen werden kann und – angesichts der Tatsache, daß mittlerweile sogar Forstwissenschaftler vom „Tod des Waldsterbens“ sprechen – wohl auch zukünftig unsichtbar bleibt, entlarvt Medienmärchen den Ökojournalismus, der „mit Worten und Zahlen versuchte … aufzuwiegen, was Bilder nicht hergaben“.

Am Beispiel der Berichterstattung über den Atomunfall in Tschernobyl sowie dem Skandal um die deutsche Atom-Molke, die monatelang auf deutschen Eisenbahngleisen hin-und-her-gerollt wurde, wird die unkritische Übernahme von Horrormeldungen verdeutlicht, die zu den absurdesten Nachrichten mutierten. Da wurde mit angeblich radioaktiven Überdosen gehandelt, in verwirrender Maßeinheiten-Vielfalt das nahende, globale Ende heraufbeschworen und kurzerhand alle 125.000 seit 1986 verstorbenen Ukranier als Tschernobyl-Opfer aufgelistet. Angesichts dieses haarsträubenden „Medien-GAUs“ bleibt Müller-Ullrich in Bezug auf die Tatsache, daß oft sogenannte Höchstwerte sogar die natürliche Radioaktivität überstiegen, nur noch die sarkastische Bemerkung, der liebe Gott habe sich bei der Erschaffung der Welt „offensichtlich nicht an die Empfehlungen der internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP)“ gehalten (S.35). Aber auch hier stellt „BMU“ einen Kontext her zu den Veränderungen in der Gesellschaft. Als Grundproblem benennt er, daß

„… nach einem Vierteljahrhundert soziologisch zugerichteter ‚Wissenschaftskritik‘ … Repräsentanten des naturwissenschaftlich-technischen Forschungsbetriebs in der öffentlichen Meinung zu Generalverdächtigen geworden [sind]. Der Fallout dieser Kenntnislosigkeit schlug sich in allen Medien nieder… Nach dem Zusammenbruch der Kommunikation zwischen Sachverständigen und Laien haben im öffentlichen Diskurs eindeutig die Laien das Sagen. Daß dies auf Dauer nützlich ist, ist nicht unbedingt anzunehmen.“ (S.41)

Eßbare Mitbürger

Mit der Diskussion über Tierrechte und Tierversuche greift der Autor ein weiteres heißes Eisen auf und beschreibt, wie auch in diesem Falle die Medien als Themenschmiede fungieren. Behutsam wird hergeleitet, daß die unterschiedlichen Begründungen des Tierschutz-Gedankens auf moralischen, religiösen und humanistischen Gefühlen basieren – denn noch hat kein Tier eigenständig seine Rechte eingeklagt. Müller-Ullrich fügt trocken hinzu, daß für „die Gefühlskultur … bekanntlich die Massenmedien zuständig“ seien (S.119). Was folgt, ist eine augenöffnende Beschreibung der journalistischen Methoden, um immer neue Empörung zu entfachen und das Thema Tierschutz seit nunmehr einigen Jahren in den besten Sendezeiten zu plazieren. „BMU“ führt die Inszenierung tendenziöser Talkshows an, etwa in der Besetzung 8:1 für die Tierversuchsgegner, in denen aufgestachelte Moderatoren, untermauert von einer Vielzahl sogenannter Experten, höhnische Bemerkungen über die „berufsmäßigen Tierquäler“ fallen lassen. Hervorgehoben wird Lea Rosh, in deren Live-Sendung „Freitagnacht“ am 30. März 1990 scheinbar überfallartig Tierversuchsgegner vor die Kameras zogen, später aber von der Moderatorin „mit Küßchen links und Küßchen rechts“ verabschiedet wurden (S.120). Hier sind die Medien nicht mehr nur „Zeitgeistverstärker“, sondern „-produzenten“.

Auch die reißerischen Enthüllungsfilme des Tierfilmemachers Stefan Eckert werden, trotz dessen gerichtlich nachgewiesener Qualifikation als notorischer Fälscher, eifrig weiter gesendet. Die von Müller-Ullrich so bezeichnete „moralische Überhöhung des Nichtwissens und Nichtbesserwissenwollens“ sowie der von ihm diagnostizierte „moralische Überdruck“ führen zu emotionalen Ergüssen wie „Tier-KZs“ und „Holocaust der Tiere“. Da tröstet es auch wenig, wenn der Chefredakteur der Zeit, Robert Leicht, feststellt, daß „… irren eben doch menschlicher“ sei. Denn der Irrtum ist zwar menschlich, dieser kann aber nur als solcher entlarvt werden, wenn es auch das menschliche „Besserwissenwollen“ gibt.

Die Entstehung solcher an den Haaren herbeigezogener Berichte führt Müller-Ullrich auf die allgemeine intellektuelle Abkehr von Wissenschaftlichkeit und Rationalität zurück:

„Nachdem das Projekt rationaler Normenbegründung offenbar auf Grund gelaufen ist, steigt man nun um in die Rettungsboote der Irrationalität. Die Auffassung, daß ethischer Fortschritt einen Preis an Vernunft koste, kommt allgemein in Mode und findet in den Kampagnen der Tierversuchsgegner ihr Exempel.“ (S.122)
In besonders peinlicher Offenheit präsentierte sich die kreative Energie des Bestürzungsjournalismus‘ im Falle der Brandkatastrophe in einem Lübecker Asylbewerberheim Anfang 1996, bei der zehn Menschen ums Leben kamen. Anstatt objektiv über die Katastrophe zu berichten, wurde sofort zur Jagd auf eventuelle Täter geblasen. Und so wurde aus der standesgemäß vagen Aussage eines Einsatzleiters der Rettungsmannschaften:

„Auch die Feuerwehr schließt nicht aus, daß…“, ohne sich groß mit weiteren Details zu befassen, der „rassistische Alptraum“ von Lübeck. Chaotische, internationale Journalistenhorden belagerten den Ort auf der Suche nach unbehaarten Jugendlichen und Hakenkreuzen an den Wänden.

Als RTL-Reporter tatsächlich ein solches auftreiben konnten und dann auch die Polizei vier Glatzköpfe aus dem Örtchen Grevensmühlen festnehmen konnte, war die Hypothese vom rassistischen Übergriff bereits Realität. Der oben bereits zitierte, bedauernswerte Einsatzleiter äußerte am nächsten Morgen den Eindruck: „Die Medien wollen, daß es Rechtsradikale waren.“ Diesen Eindruck bestätigen die folgenden Ereignisse: Auf der Suche nach der rechten Grevesmühler Ortsjugend erfolglos geblieben – die Jugendlichen hatten sich als Treffpunkt ausgerechnet eine Döner-Imbißbude ausgesucht -, war erneut die Kreativität der „Bewußtseinsindustrie“ gefragt.

„In der Not griff der NDR beherzt ins Archiv und zauberte mit diesem Kunstgriff die Grevesmühler Neonazis ins Abendprogramm. Die Aufnahmen waren gut drei Jahre alt… am Samstag, als sich die Kunde von der Freilassung der vier jungen Männer verbreitete, gab es Entwarnung, und die Reportermeute zog so schnell von dannen, wie sie gekommen war.“ (S.129)

Nun mußten sogar eingefleischte Gesinnungsjournalisten den Schwanz einziehen. Die taz entschuldigte sich ebenso bei ihren Lesern wie Die Zeit, die sogar bekannte, doppelt so viele Reporter nach Lübeck entsandt zu haben als 1989 nach Berlin zum Fall der Mauer.

Doch auch Flexibilität ist gefragt: Als nur ein paar Tage später ein 20jähriger Libanese als Verdächtiger in Lübeck festgenommen wurde, war aller Selbstzweifel und kurzzeitige journalistische Zurückhaltung schon wieder vergessen. „BMU“ beschreibt die fast hyänenhafte Jagd der Medien wie folgt: „Er galt fortan als Hauptverdächtiger, was wiederum so gut wie allen Medien ausreichte, um ihn unzählig viele Male mit Bild und vollem Namen der Öffentlichkeit vorzuführen. Dieser Richtungswechsel geschah so abrupt und entschieden, daß die Blamage für einen Großteil der Presse nicht ausblieb.“ (ebd.)

Ähnliche „pawlowsche Medienreflexe“ (S.131) hatte man schon im Winter 1993/94 beobachten können, als das behinderte Hallenser Mädchen Elke mit eingeritztem Hakenkreuz vorgab, von Skinheads überfallen worden zu sein, sich aber später in Widersprüche verwickelte und das Ganze als „Fake“ in die Geschichte einging. Nicht jedoch für alle – Elke bekannte noch eineinhalb Jahre später: „An den Überfall glaub‘ ich noch immer“ (Stern, 17.8.95). Das ist ihr gutes Recht, jede/r soll an das glauben, was er/sie für richtig h„lt. Bei Journalisten ist das jedoch etwas anderes, denn glauben heißt nicht wissen, und Wissen ist gefragt. Um so bedenklicher der Kommentar der Zeit zum Thema: „Nein, für Zweifel an jener ersten Nachricht aus Halle gibt es keinen Spielraum. Das Erschrecken bleibt, denn noch in der Lüge steckt auch die Wahrheit“ (21.1.94). Noch Fragen?

Ja! Und Burkhard Müller-Ullrich stellt sie in seinem Buch, jedoch ohne eine wirklich überzeugende Antwort zu finden. Zum Beispiel die Frage nach dem „Was tun?“ gegen die Front der Gesinnungsjournalisten. Seine Schlußbetrachtung „Nachrichten im Crashtest“, in der er Lösungsansätze präsentiert, fällt etwas flacher aus als seine spitzzüngigen und peinlichen Enthüllungen und gleitet mitunter ins Ironische ab. Eine Forderung Müller-Ullrichs lautet, daß dem Namen eines jeden Autoren zukünftig immer auch dessen Alter angefügt werden müsse, damit man wisse, mit wem man es zu tun habe. Nicht unbedingt logisch erscheint dieser vermutete direkte Zusammenhang aus Geburtsjahr und Gesinnung. Des weiteren klagt Müller-Ullrich die bessere Ausbildung von Journalisten ein. Gut, aber ist es nicht auch die zunehmend von Moral und Verantwortungsbewußtsein durchtränkte Ausbildung in Journalistenschulen, die den journalistischen Nachwuchs verdirbt?

Braucht man eine besondere Ausbildung, um die Wahrheit zu sehen und darüber zu berichten? Oder gibt es etwa tatsächlich Probleme damit, die Wahrheit zu erkennen? Der Autor suggeriert hier, als ob dies tatsächlich schwer sei. Seine Anregung, für Nachrichten „Crashzonen“ und somit für den Nachrichtenkonsumenten eine Art „Informations-Airbag“ einzurichten, klingt fast nach einem Zugeständnis. Sollen wir Nachrichten grundsätzlich nicht mehr ernst nehmen, da es auch alles ganz anders gewesen sein k”nnte? Man stelle sich Nachrichtensprecher vor, die am Ende der „Tagesschau“ anfügen, daß „alle Angaben wie immer ohne Gewähr“ seien. Brauchen wir dann überhaupt noch die Tagesschau? „BMU“ hat zwar recht, wenn er es als bedenklich erachtet, daß Peter Glotz die Errichtung einer Art „Bundeswahrheitsinstitut“ befürwortet (S.235). Aber das Problem besteht nicht in der Wahrheit selbst, sondern darin, daß sie kaum mehr eingefordert wird. Dafür muß gestritten werden. Der Schlußsatz von Medienmärchen läßt erahnen, um was es gehen sollte:

„Die Besorgnis, der gegenwärtige Gesinnungsschmus könnte bei den Massen auf die Dauer Überdruß auslösen und zu einer Gegenreaktion führen, ist sicherlich nicht unberechtigt… denn wenn es dem Verfasser vor etwas mehr graut als vor dem linksökologischen, multikulturellen, politisch korrekten Meinungsterror von heute, dann ist es derjenige von morgen mit den umgekehrten Vorzeichen.“ (S.236)

Burkhard Müller-Ullrich trägt mit Medienmärchen dazu bei, daß die Diskussion ums journalistische Selbstverständnis weiter belebt wird. Publikationen anderer Journalisten zur gleichen Thematik (nicht zuletzt immer wieder auch in Novo) und die zunehmende Defensivität der „Solidaritäter“ machen deutlich, daß ein solcher Diskurs begonnen hat. Bleibt zu hoffen, daß er nicht in unproduktive Zynik abrutscht. Medienmärchen ist ein harter Tritt vors Schienbein der „Bewußtseinsindustrie“ in traditionell eher linksliberalen Redaktionen.

Erschienen in Novo27, März 1997

Matthias Heitmann