Gunther von Hagens: „Tante Frieda ist in der Ausstellung genauso happy wie der Universitätsprofessor“

Von 31. Oktober 1997 bis 1. März 1998 war das Mannheimer Landesmuseum für Technik und Arbeit Schauplatz einer der umstrittensten Ausstellungen der letzten Jahre: Die Körperwelten des Heidelberger Anatoms Prof. Dr. Gunther von Hagens zeigten echte menschliche Körper und Körperteile, die mittels der von ihm erfundenen Methode der Plastination auf ewig konserviert wurden.

Die Mannheimer Grünen beschimpften von Hagens als “moderne Version des Doktor Frankenstein”. Forderungen nach einem Verbot der Ausstellung wurden erhoben. Die Besucherzahlen sprachen hingegen ein deutliches Wort gegen das Verbot: Nachdem bereits über eine Million Menschen die Ausstellung in Tokio gesehen hatten, besuchten sie in Mannheim, trotz aller Kritik, mehr als 600.000. Ein Interview mit dem Erfinder der Plastination und Leiter der Ausstellung.

 

Wie schätzen Sie die Reaktionen der Ausstellungsbesucher ein?

Gunther von Hagens: Ich bin positiv überrascht, daß einer Besucherumfrage zufolge 95 Prozent der Besucher die Ausstellung gutheißen und sie weiterempfehlen. Nach der anfänglichen Kritik habe ich das nicht mehr zu hoffen gewagt. Die Ausstellung befriedigt das Bedürfnis vieler Menschen, sich über den eigenen Körper und dessen Funktionen zu informieren. Insbesondere bin ich aber überrascht darüber, dass die Ausstellung auch unter Medizinern so gut ankommt. Auch der medizinische Berufstand hat die Notwendigkeit der Laieninformation absolut verinnerlicht und zur eigenen Aufgabe gemacht. Die Umfrage zeigt, daß die Kritiken aus Medizinerkreisen nur vereinzelte sind. Ich kenne Berliner Arztpraxen, die komplett für einen Tag schließen, um nach Mannheim zu kommen und die Ausstellung zu sehen.

Wie erklären Sie sich, dass auf der einen Seite die Besucher die Ausstellung fast einstimmig begrüßen, auf der anderen Seite aber eine sehr kontroverse Debatte über die Ausstellung in der politischen Öffentlichkeit stattfand?
Gunther von Hagens: Das zeigt, daß die Presse noch am meisten das Ohr am Volk hat, die Politiker schon weniger und die Kirche gleich gar nicht. Ich habe mir aus den Besucherbüchern, die wir sammeln und auswerten, alle Kommentare unter dem Stichwort “Kirche und Glauben” herausgesucht und durchgelesen. Es ist erstaunlich, was dort geschrieben wird: Es soll von der Kirche und von der Kanzel dazu aufgefordert werden, hierher zu gehen und diese Ausstellung zu sehen, ist da zu lesen. Das Beharren auf alten Traditionen in einer sich wandelnden Welt ist der größte Fehler, der gemacht werden kann. Statt dessen sollten alle sich bietenden neuen Möglichkeiten genutzt werden. Insgesamt muß ich sagen, dass über die Ausstellung in der Presse zwar kontrovers, aber nicht negativ berichtet wurde.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel hatte sich anfangs für ein Verbot der Ausstellung eingesetzt, und die Mannheimer Grünen verglichen Sie mit “Doktor Frankenstein”. Berührt Sie solche Kritik?
Gunther von Hagens: Zunächst war ich in der Tat sehr besorgt, denn das Nichtzustandekommen der Ausstellung hätte meinen finanziellen Ruin und den Bankrott des Instituts für Plastination bedeutet. Die Sorge ging aber nicht in existentielle Tiefen, da ich überzeugt war, dass, wenn nicht in diesem Museum, ich die Ausstellung in einem privaten Museum oder auch in einer angemieteten Halle gezeigt hätte und die Leute gekommen wären, keine Frage. Im Gegensatz zu meiner Frau, die sehr viel besorgter war, war ich überzeugt, dass die Sache läuft.

Ich meine, dass die Stimme aus den Reihen der Grünen eine Einzelstimme war. Ich meine auch, dass die Stimme des Politikers Teufel eine einzelne Stimme ist. Es ist ja das Tolle in einer Demokratie, dass auch Politiker unterschiedliche Meinungen haben dürfen und sollen. Meiner Ansicht nach ist der Ministerpräsident falsch beraten worden, und er hat sehr gut daran getan, die Ausstellung nicht zu verbieten. Und ich habe meine Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass er die Ausstellung irgendwann noch sehen wird. Denn was hier vorgestellt wird, ist eine Blüte der weitsichtigen Landespolitik seines Amtsvorgängers Lothar Späth, der die Nebentätigkeitsverordnung der Universitäten so liberal gestaltet hat, dass es mir in den ganzen Jahren möglich war, die Plastination im universitären Rahmen zu entwickeln und durch eine ganz private Nebentätigkeit zu finanzieren.

Warum ist es Ihnen wichtig, Laien den menschlichen Körper näher zu bringen?
Gunther von Hagens: Ich habe gelernt, dass ich meiner ärztlichen Aufgabe, durch Aufklärung Prophylaxe zu betreiben, mit der Plastination in ganz besonderer Weise gerecht werden kann. Ich habe versucht, eine größere Ausstellung in Heidelberg zu organisieren, bekam aber von Museen nur Absagen. Da kam mir eine Einladung der Japanischen Anatomischen Gesellschaft gerade recht. Die Ausstellung in Tokio stellte einen Tabubruch sondergleichen dar. Seit über 300 Jahren durften in Japan keine Leichen gezeigt werden. Die japanischen Besucher waren dementsprechend fasziniert, und das Staunen stand in ihren Gesichtern geschrieben. Diese Erfahrungen haben mich emotional tief bewegt, und so kitschig es klingt: Seither fühle ich mich als Anwalt aller derjenigen Laien und Mediziner, die es als gerecht empfinden, einen direkten Einblick in das Körperinnere, ohne Umweg über Abbild oder Modell, nehmen zu dürfen.

Generell sollte den Laien unbegrenztes Wissen zugestanden werden. Ich finde, dass in der deutschen Wissenschaft die Informationspflicht des Wissenschaftlers dem Laien gegenüber, der die Wissenschaft ja finanziert, generell zu unterentwickelt ist. Man kann nicht auf der einen Seite vom mündigen Bürger und von Demokratie sprechen, wenn man dem Laien auf der anderen Seite das Recht auf Autopsie – das Selbst-Sehen – verweigert. Diese Autopsie ist von den Urvätern der Anatomie wie Leonardo da Vinci oder Andreas Vesalius zur Grundlage aller Wissenschaft gemacht worden. Wer sich als Laie informieren will, tut am besten daran, sich den Quellen der Wahrheit, nämlich den authentischen, zuzuwenden.

Der aufgeklärte Patient, der im Detail über Operationen aus gutem Grund Bescheid wissen muss und sich nicht mehr mit Unwissenheit begnügt, muß Zugang auch zu den Wissensquellen haben, die der Arzt in seiner Ausbildung nutzt. Es gibt kein Buch und kein Präparat, das dem Laien nicht zugänglich gemacht werden sollte. Als ehemaliger DDR-Bürger ist mir das ganz besonders wichtig, denn ich habe gesehen, wohin eine Gleichschaltung der Gesellschaft führt. Und wenn es auch für manche Ohren unpopulär klingt: Ich bin immer noch begeistert von der deutschen Demokratie, die dem Laien eine so große Macht ermöglicht, daß selbst wenn sich Kirchenvertreter und einige Politiker und Fachleute gegen eine Ausstellung aussprechen, diese trotzdem stattfindet, wenn sie vom Laien gewünscht wird. Insofern ist diese Ausstellung wie auch die öffentliche Debatte gelebte Demokratie im besten Sinne des Wortes.

Die Besucher Ihrer Ausstellung wurden vor Eintritt auf Schildern und Handzetteln auf die Brisanz der Ausstellung und die kontroverse, öffentliche Diskussion hingewiesen und belehrt. Kinder unter 14 Jahren sollten nicht bzw. nicht ohne Erziehungsberechtigte die Ausstellung besuchen dürfen. Warum sind solche Warnungen überhaupt notwendig?
Gunther von Hagens: Das ist eine Forderung des Stiftungsrates, der auf politischen Druck kurz vor der Ausstellungseröffnung zusammengetreten ist. Ich persönlich halte diese Maßnahmen für nicht notwendig. Die Ausstellung in Japan hat gezeigt, dass gerade Kinder sehr problemlos, weil nicht durch Tabus belastet, mit solchen Präparaten umgehen können.

Kritik an der Ausstellung kam ja nicht nur aus christlichen und konservativen Kreisen der Gesellschaft. Gerade aus liberalen Kreisen ist oft zu hören, Menschen könnten mit vielerlei Wissen nicht umgehen und seien auch moralisch und ethisch überfordert.
Gunther von Hagens: Das ist intellektueller Snobismus. Ich meine, dass sich der Laie in der Ausstellung über die sinnliche Erkenntnis sowie über die verstandesgemäße Instruktion sein Körperbild zusammenbaut. Ich beziehe mich hier auf Immanuel Kant, der vom doppelten Erkenntnisvermögen des Menschen spricht, zum einen über die sinnliche Perzeption und zum anderen über den Verstand. Dies ist der Grund dafür, weshalb Tante Frieda aus dem Fleischerladen in der Ausstellung genauso happy ist wie der Universitätsprofessor.

Ihnen wurde der Vorwurf gemacht, Sie hätten “Kunst” zur Schau gestellt und die Präparate künstlerisch, also künstlich verändert.
Gunther von Hagens: Jede Präparation, jede Darstellung auch nur eines einzigen Organs, ist ein ganz bewusster Eingriff in den Körper. Wenn ich mich da zum Schöpfer aufspielen sollte, dann macht das jeder, der Leichenteile in Präparate umwandelt. Es macht keinen Unterschied, ob ich ein Herz nehme und es in ganz besonderer, didaktisch sinnvoller Art und Weise aufschneide oder ob ich einen ganzen Körper lebensnah darstelle. Der Kunstvorwurf ist deshalb möglich, weil der moderne Kunstbegriff ein sehr offener und nicht allgemeingültig definiert ist. Deshalb muß ich mich ganz klar abgrenzen: Ich mache Anatomiekunst, und die definiere ich ganz scharf als die ästhetisch-instruktive Darstellung des Körperinneren. Insofern sehe ich mich in der Tradition der Urväter der Anatomie, die ihre Präparate immer auch als ein Kunstwerk verstanden haben wollten – aber im Sinne von Kunsthandwerk.

Sie haben auf einer Podiumsdiskussion gesagt, die Gesellschaft solle “dem Neuen und Revolutionären keine Schranken auferlegen”. Was meinen Sie damit?
Gunther von Hagens: Man soll nicht schreien: “Gib dem Kätzchen keine Milch, denn Du könntest es in ihr ersäufen!”. Man soll statt dessen durchaus Freiräume zugestehen und sie nicht beschränken, insbesondere wenn es sich um Entwicklungen handelt, die von der Mehrheit der Bürger gewünscht werden. Mir ist der moralische Kontext sehr wichtig. Dieser wird aber von den Bürgern gemacht und gelebt und nicht von Kommissionen oder Moralaposteln bestimmt.

Was ist der medizinisch-wissenschaftliche Nutzen der Plastination? Wird sie auch in der Lehre und im Forschungsbetrieb angewandt?
Gunther von Hagens: Es gibt zwei Modifikationen der Plastination: zum einen die Imprägnierung mit Silikonkautschuk, ich nenne sie Gestaltplastination, weil diese Präparate gestaltet werden; zum anderen die Fertigung von dünnen, transparenten Körperscheiben mit Epoxydharz. Beide haben unterschiedliche Anwendungsbereiche. Die Scheibenplastination eignet sich in hervorragender Weise als wissenschaftliche Methode zur kontinuierlichen Darstellung submakroskopischer Strukturen. So kann man dreidimensionale Nerven-, Bindegewebs- und Gefäßverläufe von Scheibe zu Scheibe verfolgen bis in den mikroskopischen Bereich hinein. Diese Methode wird z.B. in der Orthopädie in Heidelberg eingesetzt und brachte völlig neue Einblicke und Erkenntnisse.

Die Gestaltplastinate sind hingegen besser für die Lehre geeignet, für die studentische, aber auch insbesondere für die Lehre des Laien, weil die Präparate trocken und damit im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar und geruchlos sind und ein detailgetreues Oberflächenrelief haben. Insofern haftet ihnen nicht der Nachteil des Formalins an, das die Präparate farblich wie geruchsmäßig unattraktiv macht und durch die notwendige Aufbewahrung in Flüssigkeit allmählich verderben läßt. Die Plastination ist somit die modernste Technik, begreifbare, ästhetisch-instruktive Präparate herzustellen.

Was sind Ihre weiteren Pläne mit der Plastination?
Gunther von Hagens: Ich habe bereits das Zehnfache der gezeigten Präparate gedanklich im Kopf vorpräpariert. Ich möchte langfristig ein Menschenmuseum aufbauen, aus dem man, wenn man lange genug drinbleibt, als ein anderer Mensch wieder herausgeht. Als ein Mensch, der sich seiner Natürlichkeit und Verletzlichkeit, aber auch der Stärke seines Leibes bewusst wird.

Zusatzinformationen:
Der Plastinator: Prof. Dr. med. Gunther von Hagens wurde am 10.1.1945 in Alt-Skalden/Posen geboren und wuchs in der DDR auf. Nach seinem Medizinstudium in Jena wurde er nach misslungener Republikflucht 1968 inhaftiert und 1970 als politischer Häftling von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft. Seit 1974 lebt und arbeitet er in Heidelberg, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, später als Anatom im Anatomischen Institut der Universität Heidelberg. Dort erfand und entwickelte er die Plastination. 1994 gründete er das unabhängige “Institut für Plastination” (IfP) in Heidelberg, dem er als wissenschaftlicher Direktor vorsteht. Seither gründete er weitere Plastinationszentren in Kirgisien und China und wurde von der Medizinischen Universität Dalian in China zum Gastprofessor ernannt. Die Entwicklung der Plastination schildert Prof. Dr. von Hagens wie folgt: “Ich bin durch Zufall darauf gekommen. Als mir ein Präparator ein in Kunststoff eingebettetes menschliches Organ zeigte, fragte ich ihn, warum der Kunststoff um das Präparat herum gegossen würde, man könne ihn doch auch hineinspritzen, um es dann besser anfassen zu können. Der Präparator meinte, dies ginge nicht, da man den Kunststoff nicht in die Zellen hinein bekäme, ohne diese zu zerstören. Diese Antwort hat mich lediglich oberflächlich befriedigt… Als ich später in einem Uni-Shop eine Wurstschneidemaschine sah, kam mir die Idee, man könnte doch Präparate in Millimeter dünne Scheiben schneiden und sie anschließend zur weiteren Verwendung mit Kunststoff durchtränken. Mir kam dann der Gedanke, in einem zweistufigen Prozess der Konservierung zunächst das Gewebewasser gegen Aceton und in einem zweiten Schritt Aceton gegen einen Reaktionskunststoff auszutauschen. Mein erstes so behandeltes Präparat war zwar maximal geschrumpft und sah verkohlt aus, doch ich arbeitete mit anderen Kunststoffen weiter an der Methode. Am 10. Januar 1977 hielt ich schließlich mein erstes plastiniertes Präparat in Händen und wusste: Das ist meine Chance, die anatomische Lehre zu revolutionieren.”

Die Plastination und das Institut
Die Plastination ist ein sehr aufwendiges und komplexes Verfahren, dass übergreifendes Fachwissen und Erfahrung erfordert. Dabei tritt ein hochwertiges Polymersystem im Vakuum an die Stelle von Gewebsflüssigkeit und schützt so jede Körperzelle des Präparates dauerhaft vor Verwesung. Selbst die genetische Individualität bleibt hierbei erhalten. Die Präparate werden mit Aceton entwässert und anschließend in ein Gefäß mit Plastinationskunststoff gelegt. Im fast luftleeren Raum einer Vakuumkammer perlt dann das niedrigsiedende Aceton aus dem Präparat heraus. Dabei entsteht ein Volumendefizit im Präparat, das den Kunststoff in jede Gewebszelle “hineinsaugt”. Nach Abschluß der Vakuumimprägnierung erfolgt dann die Härtung des Präparates (Quelle: Informationsblatt Körperspende zur Plastination, Institut für Plastination Heidelberg, 3. Auflage 1997). “In einer Universität”, so Prof. von Hagens, “ist es nicht möglich, eine große öffentliche Plastinationsausstellung auf die Beine zu stellen. Ein solches Projekt sprengt einerseits die räumlichen und technischen Möglichkeiten einer Universität, ist aber andererseits auch politisch kaum durchsetzbar. Die ganze Geschichte – und auch die Anatomiegeschichte – lehrt uns, das Gremien und Parteien immer beharrlich und konservativ sind. Der gesellschaftliche Fortschritt wird hingegen immer von Einzelpersonen vorangetrieben. Auch jetzt wird mir noch der Vorwurf gemacht, ich dränge mich zur Presse und zur Öffentlichkeit und beschädige dadurch den Ruf der Universität und der Anatomie. In einem eigenen und unabhängigen Institut kann ich über solche Kritik hinwegsehen, aber in der Universität bin ich auf die Zustimmung aller angewiesen.”
Erschienen in Novo33, März 1998