„Herzog-Tum Deutschland“

Die ”Berliner Rede” des Bundespräsidenten Roman Herzog und was ihr folgte.

Ein Ruck solle durch Deutschland gehen, hatte Bundespräsident Roman Herzog gefordert, und die 250 Vertreter deutscher Prominenz aus Politik und Gesellschaft, die Ende April 1997 diese Worte im Berliner Hotel “Adlon” vernahmen, nickten und klatschten eifrig. Wenn auch kein Ruck, so doch ein kräftiger Windstoß fuhr tags darauf durch den deutschen Blätterwald: Zeitungen druckten ehrerbietend Herzogs ”Berliner Rede” ab und kommentierten sie zumeist wohlwollend. Als bahnbrechender und sinnstiftender Beitrag zur politischen Modernisierung des Landes soll die Rede nun sogar in deutschen Schulen und Hochschulen verteilt und diskutiert werden.

Es scheint, als ob Herzog heute der einzige Vertreter der politischen Klasse ist, dem noch Gehör und Glauben geschenkt wird – zu groß ist der Verdruss angesichts der Richtungslosigkeit und Schwäche der Parteien. Da tut es scheinbar gut, wenn der höchste Repräsentant des Staates vom Berliner Olymp hinab ins alltägliche Rampenlicht steigt und Standpauken hält, Rundumschläge gegen Politik und Gesellschaft verteilt und Visionen zu versprühen versucht. Auf einem anderen Blatt steht, was Herzog tatsächlich an neuen Ideen von seinen weltlichen Beratern ins Manuskript geschrieben bekam. Die Reaktionen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft deuten jedenfalls an, welche Wendung der von Herzog anvisierte ”Aufbruch ins 21. Jahrhundert” nehmen wird: Sowohl Roman Herzog als auch Wirtschaftsvertreter und Öko-Strategen sind sich einig in ihrer Kritik am schwerfälligen, demokratischen Prozess und dem dazugehörigen wohlstandsverwöhnten Wahlbürger. Scheinbar müssen neue Strukturen her, die das Volk ins nächste Jahrtausend geleiten – und auf die Zuschauertribüne des politischen Prozesses.

Alte Sprechblasen

Einige bemerkten es doch: Neue Erkenntnisse hatte auch Roman Herzog in seiner ”Berliner Rede” nicht anzubieten. Im HANDELSBLATT wurde die Rede süffisant mit einem ”richtig diagnostiziert. Aber mit Verlaub: So weit waren andere auch schon”, kommentiert (28.4.97). Die STUTTGARTER ZEITUNG nannte mit ”Wolfgang Schäuble, Josef Fischer, Rudolf Scharping, auch Helmut Kohl” sogar die Namen derer, die bereits ähnlich weit gekommen waren (28.4.97).

Roman Herzog rekapitulierte in seiner Rede die allseitig bekannten Schilderungen der sozialen und wirtschaftlichen Lage in Deutschland, die von oben nach unten durch Lähmung, Immobilität, Angst und Selbstmitleid geprägt sei. In Einklang mit post-materialistischen Erklärungsmustern diagnostizierte er ”mentale Depressionen” und ”fehlende Innovationsfähigkeit im Kopf” der Deutschen und resümierte, die mentale und intellektuelle Verfassung eines Landes sei heute sogar wichtiger als der Finanzstandort und die Lohnnebenkosten. Entsprechend blumig führte Herzog dann seine Vision des ”Deutschland im Jahre 2020” aus. In der Sprache führender Soziologen pries er die Zukunft der ”Informations- und Wissensgesellschaft”, der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung, der Toleranz und der Menschenrechte, in der die Bundesrepublik eine führende Rolle als Motor des Fortschritts zu spielen in der Lage und gefordert sei.

Dass es bis dahin jedoch noch ein sehr langer Weg sein werde, dokumentierte Herzog allerdings selbst, als er die Reihe der zur inneren Erneuerung notwendigen Reformen skizzierte: An erster Stelle rangierten dann doch die zuvor noch zurückgesetzten Lohnnebenkosten, die es zu senken gälte. Die Stichworte ”Arbeitsmarkt”, ”Subventionen”, ”Deregulierung”, ”Arbeitslosigkeit” und ”Steuerreform” die auf den Plätzen folgten, boten in ihrer Gesamtheit die treffendste Zusammenfassung dessen, was seit Monaten in Bonn die Parlaments- und Gedankengänge verstopft. Aber nicht nur die Elite habe umzudenken: Auch ”der ewig verzweifelte Versorgungsbürger” müsse endlich von alten ”lieb gewonnenen Besitzständen” Abschied nehmen und die Freiheit der Marktwirtschaft annehmen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt fügte sich Roman Herzog wieder ein in den Kanon etablierter Politik und forderte das, was alle fordern: Den Menschen müsse beigebracht werden, dass es so nicht weitergehe und dass sie – sei es nun zum Wohle der Wirtschaft, des Staatshaushalts oder der Umwelt – den Gürtel enger zu schnallen hätten.

Kein Wunder, daß angesichts mangelnder inspirierender Vorschläge des Staatsoberhauptes in den Reihen der frustrierten Volksvertreter Aufbruchsstimmung nur schwerlich aufkommen wollte. Bei aller rhetorischen Raffinesse konnte Roman Herzog eines nicht verheimlichen: Er selbst ist Teil dieser perspektivlosen politischen Elite in Deutschland, mag er sich auch durch moralisierende Standpauken oder post-moderne Visionen noch so klar von ihr abzugrenzen versuchen.

Abbau der Demokratie

Auch wenn die “Berliner Rede” des Bundespräsidenten wenig Neues beinhaltete, bot sie dennoch zahlreichen Politikern und Wirtschaftsvertretern einen Ansatzpunkt, eigene Vorstellungen über ein erneuertes Deutschland zu entwickeln. Der Rundumschlag des Präsidenten und dessen Forderung, alles müsse neu überdacht werden, lud geradezu ein zum Auswalzen alter Vorurteile und zum ”Überbordwerfen” grundlegender gesellschaftlicher Prämissen. Im kürzlich erschienenen Band ”Stimmen gegen den Stillstand – Roman Herzogs ‘Berliner Rede’ und 33 Antworten” offenbart sich die ”intellektuelle Verfassung” der deutsche Eliten: Die Kritik an Politik und Parteien wurde von vielen Autoren ausgeweitet zu einer Kritik am demokratischen System, das für die heutigen Anforderungen des globalen Wettbewerbs nicht mehr angemessen sei.

Zahlreiche Industrielle meldeten sich hier zu Wort und forderten tiefgreifende Veränderungen des Staates. Allen voran stellte der Vorsitzende des ”Bundesverbandes der deutschen Industrie” (BDI), Olaf Henkel, die bezeichnende Frage, ob angesichts der autoritären, aber dynamischen Gesellschaften in Asien ”ein Land mit unserer föderaler Struktur, mit sechzehn Bundesländern, einem Verhältniswahlrecht überhaupt die Chance hat, (…) wettbewerbsfähig” zu sein. Sein Plädoyer ”Für eine Reform des politischen Systems” fordert nicht eine Demokratisierung der Gesellschaft, sondern vielmehr ihre Ausrichtung nach rein wirtschaftlichen Erfordernissen (S.87ff.). Deutlicher wurden Heinrich von Pierer und Claus Weyrich – beide Vorstandsmitglieder der Siemens AG – in ihrem Essay ”Wir brauchen Innovationsführerschaft”: Ihre zehn Thesen zum Wirtschaftsstandort Deutschland transformieren die Gesellschaft kurzerhand zu einem großen Industriebetrieb, dessen einziges Ziel es sein könne, Profite zu erwirtschaften und den Markt so frei als möglich von staatlicher Intervention zu halten (S.184ff.).

Aber auch zahlreiche andere Stimmen forderten den rigorosen Abbau des Sozialstaates und die Berücksichtigung der Unternehmerbedürfnisse. Die von Herzog diagnostizierte mentale Blockade sei nur durch grundlegende Veränderungen ”der politischen Kultur und (über)sozialen Marktwirtschaft” zu beheben, war zu lesen (S.150). Nicht zuletzt der von vielen als möglicher SPD-Kanzlerkandidat gefeierte Gerhard Schröder stieß in das selbe Horn und forderte einen Wandel der Politik im Zeichen der Wirtschaft: ”Modernisierung der Wirtschaft heißt auch Modernisierung des Staates” (S.210).

Es wird deutlich, dass in diesen Konzeptionen Parlamente, die Abhängigkeit der Politiker vom Wahlvolk und damit die demokratische Kontrolle der Politik als Hindernis für wirtschaftliche Innovation betrachtet wird. Als zu träge und langwierig wurde die parlamentarische Arbeit beschrieben, die schnelles Handeln und Flexibilität verhindere. Auch Roman Herzog sprach von den die Gesellschaft und die Wirtschaft blockierenden Interessengruppen und den beständig auf Wählerstimmen schielenden Parteiführern. Niemand habe den Mut, dem Wahlvolk unbequeme Wahrheiten zu präsentieren und es zu notwendigen Schritten zu führen, statt dessen rede man ihm lieber nach dem Mund. Die Entscheidungsträger sollten vielmehr in der Lage sein, unabhängiger Politik betreiben zu können. Der ständige Blick der Eliten auf die nächsten Wahlen verhindere hingegen, so Herzog und die Anhänger der ”Deutschland AG”, dass notwendige Entscheidungen getroffen würden.

Im Zusammenhang mit der weit verbreiteten Forderung nach Aufgabe alter Besitzstände und Ansprüche wird hier offensichtlich, was wirklich hinter der Kritik am politischen Prozess steht: Nicht nur materielle Ansprüche sollen die Menschen aufgeben, sondern auch den, über alle Fragen mitentscheiden zu können und befragt zu werden. Die demokratische Konzeption, dass die Entscheidungsträger den Mehrheitswillen der Bevölkerung zu vertreten haben und repräsentativ die Souveränität des Volkes ausüben, taucht in dieser Vision des wettbewerbsfähigen Deutschlands nicht mehr auf. Die Tatsache, dass sich sogar die konservative Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth veranlasst sah, im Bundestag gegen diese anti-demokratischen Ideen Stellung zu beziehen, zeigt, welche Bedeutung derlei Konzepte mittlerweile erlangt haben.

Destruktive Kritiker

Auch von anderer Seite wurde Kritik an den Thesen Herzogs geäußert. In einem offenen Brief an den Präsidenten wandten sich zahlreiche deutsche Wissenschaftler gegen die Propagierung rein marktwirtschaftlicher Prinzipien. Hinter dieser Kritik verbirgt sich jedoch eine noch stärker pessimistische Sichtweise der Gesellschaft. Was die ”Vereinigung deutscher Wissenschaftler” kritisierte, war nicht in erster Linie die unternehmerische Huldigung des Marktes oder der Abbau demokratischer Mitbestimmungsrechte, die ein solches Konzept impliziert, sondern der Glaube an einen sozialverträglichen und menschengerechten Fortschritt.

Während Roman Herzog – bei allen sozialen Ungerechtigkeiten der Marktwirtschaft – den Versuch unternahm, im traditionellen Stil der Unionsparteien den Glauben an gesellschaftliche Innovation und Veränderung zu fördern, stellten Wissenschaftsvertreter und Vordenker des Ökologismus diese Haltung grundsätzlich in Frage. So Ernst Ulrich von Weiszäcker und der Direktor des Münchener Max-Planck-Instituts für Physik, Hans Peter Dürr: Für sie sind bereits ”Konkurrenz, Dynamik, Tempo und Handeln” als solche gefährliche Entwicklungen, vor denen zu warnen ist.

Geradezu persönlich getroffenen schienen sich die Unterzeichner des offenen Briefes durch die Kritik Herzogs an der Panikmache pseudo-wissenschaftlicher Schwarzmaler zu fühlen und reagierten entsprechend gereizt: ”Wollen Sie uns Wissenschaftlern ernsthaft nahelegen, unsere Bedenken in bezug auf Kernkraft, Gentechnik und Digitalisierung” zu verschweigen?” (TAGESSPIEGEL, 4.7.97).

Dass Roman Herzog dies nicht ernsthaft meint, liegt auf der Hand – genauso offensichtlich ist aber, dass sich hinter der allgemeinen Kritik an Wachstum, Wohlstand, menschlichem Handeln und wirtschaftlicher Dynamik nicht nur Misstrauen gegen profitsüchtige Unternehmer, sondern eine grundlegend destruktive und negative Einstellung gegenüber dem Menschen und der Gesellschaft verbirgt, die noch problematischer ist als das blinde Vertrauen in die Marktwirtschaft. Es ist genau dieses Misstrauen “kritischer” Intellektueller gegenüber der Menschheit, das die ideologische Basis für den Abbau materiellen Wohlstands und demokratischer Prinzipien in der Gesellschaft legt.

Erschienen in Novo30, September 1997