Ein Blick in das reglementierte Leben britischer Studenten lässt für die deutschen Universitäten Böses erahnen.
(Erschienen in Novo34, Mai 1998)
Besucht man 1998 Universitäten in Großbritannien, wird deutlich, wie sehr das Klima der Angst, des Risikos und des Misstrauens bereits Einzug in das Studentenleben gehalten hat. Von Freiheit, studentischer Selbstbestimmung und einer offenen und kontroversen Streit- und Lebenskultur ist nur noch wenig zu spüren. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Universität den Standort für die freie akademische und persönliche Entfaltung der Studenten darstellte und als Ausgangspunkt freiheitlich denkender und lebender Menschen einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert genoss. Die Veränderungen, die in den letzten Jahren der Tory-Regierung und nun auch unter Tony Blair vorangetrieben wurden, haben sowohl die akademischen als auch die studentischen Freiheiten auf ein Minimum reduziert. Unter Schlagwörtern wie “Chancengleichheit”, “Minderheitenschutz”, “Sicherheit” und “Gesundheit” wurde das studentische Leben völlig neu organisiert und einer strikten Kontrolle unterworfen, die für freie persönliche Entfaltung und Meinungsfreiheit fast keinen Raum mehr lässt
. Das Recht auf freie Meinungsäußerung auf dem Campus, jahrzehntelang offizielle Universitätspolitik, ist mittlerweile an fast allen Hochschulen offiziell eingeschränkt worden. “Keine Plattform” heißt die Devise jetzt, die verhindern soll, dass extreme Ansichten, ob politischer, wissenschaftlicher oder kultureller Art frei an der Universität geäußert werden sollen. Die studentische Vollversammlung der Universität Sussex verabschiedete sich offiziell von dem Recht auf freie Rede, da dieses das Recht auf Chancengleichheit aller Studenten (“equal opportunities”) untergrabe. Gemäß einer Maßgabe des britischen Studentenverbandes, der National Union of Students (NUS,) wurde in Sussex mit “Campuswatch” ein System etabliert, mit dem extreme Äußerungen und Ansichten sofort von Studenten der Universitätsleitung gemeldet werden können. Zunächst in erster Linie auf die Verfolgung rechtsextremer Äußerungen ausgerichtet, geht “Campuswatch” mittlerweile auch gegen religiöse Studentengruppen sowie gegen liberale und linke Gruppen vor. So wurden an der Universität Glasgow Studentengruppen, die für Meinungsfreiheit warben, kurzerhand verboten, da sie dem Grundsatz “Keine Plattform” widersprächen. Auch die renommierte und weltweit anerkannte London School of Economics (LSE) hat sich diesen strengen Verhaltensregeln unterworfen und die Sicherung der Chancengleichheit der Studenten zur obersten Maxime erklärt. Dies ist die Aufgabe der sogenannten “equal opportunities officers”, die sich – von der Universitätsleitung bestellt – für die Rechte von Frauen, Schwarzen und anderen “benachteiligten” Gruppen einsetzen, um Benachteiligungen entgegenzuwirken.
Der “Schutz der Studenten” ist aber nicht auf allgemein politische oder religiöse Ansichten beschränkt. Einmal das Recht erstritten, darüber zu entscheiden, was Studenten sagen dürfen und was nicht, dringen die semi-offiziellen Reglementierungen tief in den privaten und zwischenmenschlichen Bereich ein: Die Universität in Sheffield geht disziplinarisch gegen alle Formen “persönlicher Belästigung” vor. Nach den uni-internen Statuten können sowohl Blicke als auch Witze, Verhaltensweise, Bemerkungen über Kleidung und Aussehen sowie die Verwendung von bestimmten Wörtern als Form “persönlicher Belästigung” gemeldet und zur Verfolgung gebracht werden.
Aber die Entmündigung der Studenten geht noch weiter: In wahrhaft bevormundender Penetranz sorgt sich die National Union of Students um das leibliche Wohl der Studenten. Die seit Jahren insbesondere in Universitäten allgegenwärtige Werbung für “Safer Sex” wird seit 1995 auch durch “Safer Dancing”- und “Safer Drinking”-Richtlinien und Ratschläge ergänzt. Ein kleines Merkbuch der NUS klärt die Uni-Einsteiger über die “Gefahren des studentischen Trinkens” auf und schlägt eine bestimmte Menge von Alkoholeinheiten (“units”) vor, die für Studierende “empfehlenswert” sind. Für weitere Informationen über die Gefahren von Kneipenabenden hat der Studentenverband eine “Drinkline” eingerichtet.
An der Universität in Newcastle werden die Studenten sprichwörtlich an die Hand genommen: Das Programm “Walksafe” bietet seit 1997 einen sicheren und verläßlichen studentischen Begleitservice an, der verängstigte Studenten zwischen 18.30 Uhr und 22.30 Uhr sicher nach Hause bringt. Die freiwilligen “Walksafe”-Aktiven verstehen sich als “zusätzliche Augen und Ohren für die örtliche Polizei” und den Universitäts-Sicherheitsdienst.
Auch vor den Türen der klassischen Studentenbude macht die offizielle Besorgnis nicht halt. Britische Studentenwohnheime ähneln zuweilen einer Mischung aus Internats- und Haftanstalten. Die Wände der Wohnheime der Universität Cardiff sind gepflastert mit Warn- und Verbotsschildern. Einmal wöchentlich erschallen hier zur Probe die Alarmsirenen der Rauchmelder – wahrscheinlich eher, um das Risikobewusstsein der Studenten aufrechtzuerhalten als die Funktionstüchtigkeit der Gerätschaften zu testen. Nachtschwärmer müssen überdies ihre nächtlichen Ausgänge bei den omnipräsenten Sicherheitsbeamten anmelden, um diesen im Falle eines Feueralarms einen genauen Überblick über die aktuelle Belegung der Studentenbetten zu ermöglichen.
Die Reglementierungen des universitären Lebens gehen Hand in Hand mit der Einschränkung der akademischen Freiheit. Die Ausrichtung der britischen Hochschulen auf Arbeitsmarktbedürfnisse, Kosteneffizienz und die schulische Vermittlung von Kernwissen ist bereits viel weiter fortgeschritten als in der Bundesrepublik. Hinzu kommen die neuen ethisch-moralischen Kriterien, denen sich Professoren und Lehrkräfte unterzuordnen haben. So musste im Mai vergangenen Jahres der Dozent für Kunstfotografie am Billingham College for Further Education, Denis Dunning, nach mehr als zwanzigjähriger Tätigkeit seinen Hut nehmen. Anlaß hierfür waren die von seinen Kunststudenten aufgenommene Fotografien spärlich bekleideter Kommilitonen, die bei einer Durchsuchung gefunden wurden. Obgleich das Fotografieren nackter oder halbnackter Männer und Frauen seit Jahrzehnten zum offiziellen Lehrprogramm der Kunstfotografie gehörte und die beteiligten Studenten zudem weit über 20 Jahre alt waren, sah sich die Collegeleitung dazu veranlasst, den Dozenten vom Lehrbetrieb zu entfernen, um “unprofessionelle und intime Verhältnisse zwischen Studenten und Lehrkräften zukünftig auszuschließen”.
Aber auch von der Seite der Studenten wird die Forderung nach Einschränkung der akademischen Freiheit laut. So sah sich 1996 der exzentrische Psychologieprofessor Chris Brand an der Universität in Edinburgh einer studentischen Kampagne ausgesetzt, die seinen Kopf forderte. Anstatt seine ebenso abstrusen wie unglaubhaften, rechtsradikalen Thesen zu widerlegen, sah sich die Studentenvertretung genötigt, die Beschneidung der akademische Freiheit zugunsten einer “Bildung ohne Belästigung” zu fordern. Auch an anderen Universitäten wurden arabische Dozenten aufgrund anti-israelischer Äußerungen mit dem Vorwurf attackiert, sie hätten gegen den “Anti-Belästigungs-Kodex” verstoßen.
In diesem Klima der Angst und der Vorsicht, in dem der abends in der Studentenkneipe sitzende Kommilitone als potentieller Belästiger, Extremist, Alkoholiker, Vergewaltiger oder Krankheitsüberträger betrachtet und auch dem Universitätsprofessor mit militantem Misstrauen gegenübergetreten wird, haben sowohl Freiheit als auch konstruktives Lernen und selbstbewusstes Arbeiten kaum noch eine Chance. Verstärkte Kontrollen werden eingeführt, und Bevormundung ist die Folge. Sie machen aus der Universität einen strikt regulierten und überwachten, normalen Ort.
Auch an deutschen Unis sind ähnliche Tendenzen zu erkennen. Hinter der von vielen Studenten geäußerten Kritik an der Unübersichtlichkeit und Anonymität des Universitätslebens steckt nicht selten der Wunsch nach geregelten Strukturen und verlässlichen Sicherheiten, sowohl für das Studium, als auch “draußen auf dem Campus”. Patrouillierende private Sicherheitsdienste und auch Polizeieinsätze zur Entfernung unerwünschter Personen wie Asylbewerber und Obdachlose, sind mittlerweile an deutschen Universitäten keine Einzelfälle mehr. Auch vor politischen “Belästigungen und Überforderungen” werden deutsche Studenten bewahrt: So wird an mehreren deutschen Hochschulen der inoffizielle Grundsatz, ein halbes Jahr vor Wahlen keine Wahlkampfveranstaltungen zuzulassen, mit harter Hand durchgesetzt. Hier erfährt die freie Rede zum Schutz der Studenten vor Belästigungen und Fehlleitungen eine enorme Einschränkung. Zwar werden in deutschen Universitäten Studierende noch nicht sprichwörtlich bei der Hand genommen und nach Hause gebracht – lange wird man darauf wahrscheinlich nicht mehr warten müssen.