„Der Aufstand der Dicken“

Mit 1,87m und 86kg – also gerade noch im “grünen Bereich” – kann man getrost der Vorstellung zu Leibe rücken, dass Übergewicht Schicksal oder gar eine Behinderung ist.

(Erschienen in Novo36, September/Oktober 1998)

Seit ich denken kann, hält sich meine Mutter (wie fast alle Mütter) für ein bisschen zu dick. Allerlei Diäten und Ernährungstricks wurden ausprobiert, um dem Problem Herr zu werden, freilich mit wechselndem, aber nie dauerhaftem Erfolg. Für einen Großteil der Bevölkerung gehört der Kampf gegen die überschüssigen Pfunde zum Alltagsleben wie der Kampf gegen leere Geldbörsen oder Staub auf der Glasvitrine – man trägt ihn Tag für Tag aus, nicht weil einen andere dazu zwingen, sondern weil man es selbst für gut und richtig erachtet und sich so einfach besser fühlt. Natürlich lässt der Anblick des eigenen Winterspecks den geplanten Strandurlaub kurzzeitig als Alptraum erscheinen, dennoch ist es vor allem das eigene Unwohlsein, daß die Disziplin zur Abmagerungskur mobilisiert. Schließlich würde wohl niemand wegen seiner Waage zu Hause bleiben.

Doch so einfach ist die Sache anscheinend nicht. Schenkt man Ernährungsexperten Glauben, ist der eigene Bauchspeck keine Privatangelegenheit mehr. Vielmehr gelten 40 Prozent der Deutschen als übergewichtig und bedürfen nach Meinung der Volksgesundheitsapostel ärztlicher Behandlung. Bereits im vergangenen Jahr erklärte die Weltgesundheitsorganisation WHO Übergewicht zur “globalen Epidemie” und forderte Maßnahmen gegen die weltweite Fettleibigkeit. Dicksein wird überdies mehr und mehr zu einer höchst komplexen medizinischen Angelegenheit.

Die Zeiten sind vorbei, in denen Brigitte und anderen kurzweilige Frauenzeitschriften das Monopol über die allwöchentliche, allerneueste Diät hielten. Die Wochenzeitschrift Woche nahm die Nachricht vom Erscheinen eines neuen Medikaments gegen Fettleibigkeit kürzlich zum Anlaß, seitenweise über das Dicksein, die Komplexität des Problems und die Ratlosigkeit der Wissenschaften zu schwadronieren. Xenical heißt die Pille, die – ähnlich wie Viagra den Schlappschwanz oder das Weihwasser den Teufel – die Rettungsringe aus der europäischen Unterwäsche vertreiben soll.

Auf der anderen Seite der Barrikade, die sich mitunter quer durch Wohn- und Schlafzimmer zieht, stehen die “selbstbewussten Dicken”. Sie wehren sich gegen den “Schlankheits-, Fitneß- und Diätenwahn” der modernen Gesellschaft. Was früher noch als Selbsthilfegruppen für Übergewichtige bekannt war, übernimmt zunehmend die Funktion von Lobbygruppen “gegen die Diskriminierung der Dicken”. Vorbild dieser Gruppen ist die amerikanische “Bewegung für die Rechte der Dicken” (“fat rights movement”), die die Benachteiligung von Molligen, z.B. bei der Sitz- oder Arbeitsplatzsuche, mit der Benachteiligung von Schwarzen in den USA vergleicht und Anti-Diskriminierungsgesetze fordert. Auch in Deutschland wird der “chauvinistische Dickismus” kritisiert. So spricht die Autorin Judith Rodin von “bedrohlichen Vorurteilen gegen Dicke” in einer von feststehenden Schönheitsidealen besessenen Gesellschaft, die zuweilen grausam “dicke Menschen stigmatisiert”.

In seinem Büchlein “Durch Dick und Dünn – Texte zur Abwehr idealer Körperformen” scheint Volker Caysa die noch sehr versprengten und embryonalen Anfänge einer deutschen “Dicken-Lobby” bündeln zu wollen. Von Bert Brecht über Karl Valentin bis Woody Allen (allesamt recht dünne Kerle): Alle müssen sie mit ihren semi-ernsten Gedichten und amüsanten Essays dafür herhalten, das “Korsett im Kopf”, den “Körperformenrassismus” (S.156) und den kategorischen Schlankheitsimperativ der Überflussgesellschaft zu durchbrechen. Die “Szene” lebt, und sie verfügt bereits über Öffentlichkeit: Nachdem die mittäglichen TV-Talkshows nun wieder ohne Sex auskommen müssen, sind überzeugte Dicke gefragter denn je. In diesen Kreisen wird Tucholskys Ausspruch (und er hat in seinem Leben wahrhaft bessere und wichtigere getätigt), Dicksein sei keine physiologische Eigenschaft, sondern “eine Weltanschauung”, mit neuem Leben erfüllt.

Es wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn voluminöse Menschen selbstbewusst in der Gesellschaft auftreten und sich gegen tatsächliche Probleme wie z.B. neue benachteiligende Bestimmungen im Gesundheitssystem zur Wehr setzten. Die Botschaft der Dicken-Lobby deutet jedoch in die entgegengesetzte Richtung: Übergewichtige werden weder ermuntert, trotz ihrer körperlichen Last ein normales Leben zu führen, noch werden sie aufgefordert, ihr Dicksein zu überwinden. Übergewicht wird statt dessen tatsächlich zur Weltanschauung hochstilisiert, die eigene körperliche Misere wird zum Dreh- und Angelpunkt einer pseudo-politischen Identität, mit der dem dünnen Rest der Gesellschaft ein schlechtes Gewissen ob der eigenen Schlankheit aufgedrückt werden soll.

So wird der Besuch eines Freibades zum politischen Akt des Gewichtsklassenkampfes. Plötzlich sind die Nicht-Dicken die stumpfen Träger des gesellschaftlichen Schlankheitszwangs. Charlotte Cooper bringt in ihrem Buch “Fat and Proud: The Politics of Size” das Hauptargument der amerikanischen Dicken-Lobby auf den Punkt: Letztlich müsse sich die Gesellschaft ändern, nicht die Dicken: Ähnlich wie Rassismus oder Homophobie sei der “Dickenhass Bestandteil eines Netzes von Machtbeziehungen und sozialen Hierarchien, durch die soziale Gruppen marginalisiert, stigmatisiert und diskreditiert” würden. Cooper vergleicht das Schicksal von Übergewichtigen mit dem von Behinderten, die einzig durch arbiträre gesellschaftliche Normen benachteiligt würden. Dicke seien sogar die am meisten unterdrückte Gruppe in der Gesellschaft, denn sie litten sowohl unter sozialer Diskriminierung (wie die Schwarzen im alten Südafrika) als auch unter körperlicher Ausgrenzung (wie Behinderte).

Die Botschaft solcher Theorien ist eindeutig: Die Dicken sind die “einbeinigen, schwarzen Lesben” unserer Welt, sprich, die ultimativen Opfer, und ihre moralische Pflicht hat es zu sein, als Märtyrer diesen Opferkult zur Schau zu tragen und in ihm zu schwelgen. Diät wird zum Hochverrat, Fresssucht zum Freiheitskampf. Diese “Bewegung” – schlimm genug, dass sie sich überhaupt als solche beschreibt – fordert also nicht nur das wohl unumgängliche gesellschaftliche Mitleid. Sie betreibt zudem auch eine extreme Übertreibung der Probleme dicker Menschen sowie eine Verharmlosung von tatsächlichen Diskriminierungen oder von objektiven Nachteilen, die Behinderte haben. Die Ironie dieser Geschichte ist, daß sich gerade an diesem Punkt die Übergewichtsverfechter mit denen der allgemeinen Schlankheit treffen: Auch diese betrachten Übergewicht als unabänderliches medizinisches und psychisches Schicksal, als eine Behinderung, der die Betroffenen nicht durch eigenes Handeln begegnen können, sondern nur durch gesellschaftliche Umerziehung und medizinische Therapie.

Wirklich abstoßend und unansehnlich werden Dicke jedoch erst, wenn sie sich in ihrem eigenen Leid suhlen, wenn sie den Glauben an sich und daran, abnehmen zu können wenn sie wollen, verloren haben. Erst dann ist aufrichtiges Mitleid angesagt. Solange aber die Mehrheit der Bevölkerung gegen dieses Opfersein ankämpft, sich nicht gehen lässt, sondern man einfach weniger isst, wenn man es für nötig hält, wird mir nichts so schnell den Appetit verderben.