Nicht der Mangel an Büchern ist das Problem, sondern die Tatsache, daß man an deutschen Universitäten auch ohne sie ‘erfolgreich’ studieren kann.
(Dieser Artikel erschien in einer Ausgabe der Streikzeitung der Frankfurter StudentInnen strike! und am 11. Dezember 1997 in der „Frankfurter Neue Presse.)“
Neben der berechtigten Forderung nach besserer finanzieller Ausstattung der deutschen Hochschulen werden zahlreiche weitere klärungsbedürftige Forderungen erhoben, z.B. die Forderungen nach neuen Prüfungsmethoden sowie nach “Abschaffung von Zugangsbeschränkungen” wie dem Numerus Clausus. Studenten werden heute schon dazu aufgefordert, sich “selbst zu bewerten” und auf das Urteil der akademischen Fachkräfte zu verzichten. Es ist fraglich, ob diese Forderungen geeignet sind, die Standards der universitären Bildung zu verbessern.
Die Universitäten werden nicht nur durch die Sparpläne in der Bildungspolitik bedroht. Das Hauptproblem ist die schleichende Neuinterpretation dessen, was überhaupt Bildung ist und welche Rolle die Hochschulen zukünftig spielen sollen. Es findet eine “innere Zersetzung” des Universitäts- und Bildungsbegriffes statt, die zur Folge hat, daß “Bildung” auf einem niedrigerem Niveau neudefiniert wird. Grundlegende Zweifel an Sinn und Zweck akademischer Lehrmethoden, an Leistungsprüfungen, an der Gültigkeit wissenschaftlicher Kategorien und nicht zuletzt an der Bedeutung von “Wissen” und Rationalität vergiften das universitäre Klima und öffnen die Hochschulen letztlich auch dem Zugriff der sparenden öffentlichen Hand.
Wie weit diese Zersetzung bereits fortgeschritten ist, zeigt ein Blick in den Alltag des Universitätslebens: Im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität ist es heute möglich, das Grundstudium im Magister-Studiengang Politologie durch die Lektüre von vier (!) Büchern sowie durch die Teilnahme an zwei Klausuren erfolgreich zu absolvieren. In diesem Kontext wird deutlich, daß die Forderung “Mehr Geld für Bücher!” nicht den Kern des Problems trifft.
Nicht der Mangel an Büchern gefährdet die Bildung, sondern die Tatsache, daß man an deutschen Universitäten auch ohne Bücher erfolgreich studieren kann. Diese Zustände sind zutiefst beunruhigend und müssen von den protestierenden Studenten viel stärker aufgegriffen werden.
Ebenso problematisch ist die in einigen Fachbereichen bereits übliche Praxis, daß Hochschulprofessoren davon absehen, Leistungsprüfungen und -bewertungen durchzuführen. Dies stellt nicht nur die Qualität ihrer Berufsauffassung, sondern auch grundsätzlich die Idee der Bildung in Frage. Die Aufgabe von Professoren ist es, durch die eigene Forschung und das Vermitteln neuer Erkenntnisse den Studierenden die Möglichkeiten zu geben, in einem anregenden, anspruchsvollen und fordernden Studium zu lernen und über sich selbst hinauszuwachsen. Studenten sollen unter Druck und in Streßsituationen lernen, die eigenen Grenzen zu überwinden und durch eigenständiges Arbeiten Expertisen zu entwickeln.
Dieses Verständnis des universitären Lernens ist untrennbar mit der Idee verbunden, daß Professoren und Studenten etwas leisten und so zur Entwicklung des gesellschaftlichen Wissens beitragen. Der so verstandene “Freiraum Universität” ist sozial vertretbar, da er für die Gesellschaft insgesamt von Nutzen ist.
Es sind gerade diese Prinzipien und Standards, die heute erodieren. Anstatt die Belastungsfähigkeit und die Qualitäten der Studierenden auszubauen und zu fördern, wird an der Frankfurter Universität in diesem Semester “Streß-Abbau-Training” und “Streßberatung” angeboten. Im selben Atemzug wird die traditionelle Prüfungsmethode einer abschließenden Klausur kritisiert, da sie die Studierenden unter einen unnötigen und ungerechten Leistungsdruck setze. Es ist zwar nachvollziehbar, daß die Korrektur von Dutzenden von Klausuren nicht die beliebteste Professorentätigkeit ist. Auch ist es verständlich, daß Studierende vor diesen Prüfungen nervös sind. Dennoch sind sie zur Bewertung des Wissenserwerbs und der Belastungsfähigkeit der Studenten unerläßlich, und obwohl auch die “Tagesform” zählt, kann davon ausgegangen werden, daß gut vorbereitete Studenten ihre Prüfungen bestehen.
Davon auszugehen, daß Studenten mit “Prüfungsstreß” nicht umgehen könnten, bedeutet in letzter Hinsicht, an ihren Fähigkeiten zu zweifeln. Gerade deshalb ist es bedenklich, daß selbst in studentischen Kreisen der Sinn solcher Leistungsprüfungen generell in Frage gestellt wird. In einem Flugblatt eines “studentischen Arbeitskreises zum Hochschulrahmengesetz” in Frankfurt wurde § 14 des Gesetzes, der eine verpflichtende studiumsorientierte Studienberatung vorsieht, dafür kritisiert, daß “das Erbringen einer bestimmten Anzahl von Prüfungsleistungen” erwartet werde. Überdies wird argumentiert, solche Leistungsnachweise “seien nicht geeignet, ein Urteil über die Eignung des gewählten Studiengangs für die bzw. den Studierenden zu treffen.”
Im Eifer des Streiks machte auf dem Frankfurter Universitätscampus sogar die Forderung die Runde, die Teilnahme an studentischen Arbeitsgruppen zum Unistreik solle durch die Erteilung von Leistungsscheinen belohnt werden. Hier wird die Bedeutung der Universität als Forschungs- und Lehrbetrieb von Studenten selbst degradiert. Es kann nicht im Interesse angehender Akademiker sein, die eigene Bildung durch Plakatemalen und gemeinsames Frühstücken auf dem Campus ersetzen zu wollen.
Auch die Forderung nach “Abschaffung der Zugangsbeschränkungen zu den Hochschulen” erweist sich bei genauerer Betrachtung als sehr bedenklich. Die Bewertung von studierwilligen Jugendlichen anhand ihres Schulabschlusses und ihrer Abiturnote ermöglicht in der Tat eine sinnvolle Beurteilung der mitgebrachten Ausbildung. Der “Numerus Clausus” steht einerseits für das Bildungsniveau, daß von Studenten erwartet wird, er symbolisiert aber auch andererseits die hohe Qualifizierung, die der Student von seiner akademischen Ausbildung an der Universität erwarten darf. Um ein höheres Bildungsniveau an den Hochschulen einzufordern, sollte eher das sinkende Niveau der Schulausbildung und die fortschreitende Entwertung des Abiturabschlusses kritisiert werden. Eine Abschaffung des “Numerus Clausus” untergräbt hingegen die Ansprüche an die universitäre Bildung.
Dies sind viel eher die Gefahren, denen die Universitäten und Hochschulen in der Bundesrepublik heute ausgesetzt sind. Umfragen haben ergeben, daß die überwiegende Mehrheit der heutigen Erstsemester-Studenten möglichst schnell die “anonyme Universität” wieder verlassen und möglichst ohne große Bemühungen einen Universitätsabschluß erhalten will. Daß sie dies wollen, kann man ihnen nicht vorwerfen: Sie leben in einer Gesellschaft, die die Erwartungshaltungen an das eigene Handeln permanent zurückschraubt und die Bedeutung von Bildung und Wissen degradiert.