„SP(R)D: Sozialdemokratische Public Relations Deutschland“

Über die Inszenierung einer zukünftigen Regierungspartei.

Möglicherweise wird die Bundesrepublik Deutschland ab Herbst 1998 von einer Partei regiert, die im traditionellen Sinne keine mehr ist. Sie wird womöglich einen Kanzler haben, der weder durch Intellekt noch durch persönlichen Charme besticht, aber dafür etwas von modernem, anglo-sächsischem Wahlkampf versteht. Über die neumodische Inszenierung des sozialdemokratischen Wahlkampfs wird landauf, landab gestritten. Genüßlich ließen sich Spiegel wie F.A.Z. die SPD-interne Diskussion auf der Zunge zergehen, mit welchem Prozentsatz (ob mit 75 oder mit 98 Prozent) die Wahl des Kanzlerkandidaten auf dem SPD-Parteitag für die Menschen am glaubwürdigsten sei. Einerseits passen solche inszenierten Auftritte zur allgemeinen Inhaltsleere der Parteien, die weder Programme noch beeindruckende Kandidaten aufzuweisen haben. Andererseits verschwinden in einer so verstandenen Partei die Möglichkeiten zur Beteiligung der Bürger am politischen Prozeß – und damit die Grundlage der Demokratie.

Wenn weder eine dynamische Partei noch ein aussagekräftiges Programm vorhanden sind, um die sich ein Wahlkampf ranken könnte, müssen beide erfunden und inszeniert werden. Der Bundesgeschäftsführer der SPD, Franz Müntefering, nennt dieses Vorhaben “Professionalisierung des Umgangs mit den Medien”, oder auch einfach “Werben, Verkaufen und Inszenieren”. Der Parteitag der SPD im April dieses Jahres wurde zum Musterbeispiel einer neuen, nach amerikanischem und englischem Vorbild inszenierten Schauveranstaltung. Minutiös geplant vom “Einzug der Gladiatoren mit Marschmusik” bis zur genau festgelegten Länge des Beifalls für Gerhard Schröder ließ die Versammlung keinen Platz für das, was eigentlich ein Parteitag sein sollte. Die Diskussion über das Wahlprogramm erschöpfte sich nach einer Viertelstunde, denn, so bekundete Parteisprecher Michael Donnermeyer, es gehe hier vor allem “um die 15 Millionen Fernsehzuschauer”. Sozialdemokraten alten Typs mußten sich angesichts dieser Dauerwerbesendung schon wundern, und Parteivize Wolfgang Thierse erkannte: “Wir sind alle nur stolze Statisten.” (Spiegel 17/98)

Währenddessen rühmte Schröder seine Partei ob ihrer noch nie dagewesenen Geschlossenheit und Einigkeit im Kampf um die Regierungsmacht. Noch vor wenigen Jahren galt völlige Einigkeit innerhalb einer Volkspartei standhaften SPD-Genossen noch als Zeichen für politische Leere und autoritäre Parteiführung, für die es nur ein Kürzel geben konnte: CDU. Heute werden inhaltliche Auseinandersetzungen innerhalb der Konkurrenzparteien – sei es in der CDU oder bei den Grünen – in der SPD-Wahlkampfzentrale als Beweis für Zerfall und Regierungsunfähigkeit angeprangert. Nicht ganz zu Unrecht mokierte sich die CDU darüber, daß sich die SPD mit ihrem Parteitag zu einem wahren Kanzlerwahlverein aufzuschwingen versuchte. Der jüngste Landesparteitag der Schröderschen Niedersachsen-SPD im Juni zeigte, wie weit diese Bemühungen bereits gediehen sind: Er nahm das Zugunglück von Eschede ein paar Tage zuvor zum Anlaß, den Landesparteitag auf die Verabschiedung der Landesliste zu begrenzen. In fast schon stalinistisch anmutender Einmütigkeit erfolgte die “Abstimmung”, und nach nur einer Stunde und ohne jede inhaltliche Diskussion über Strategien des Wahlkampfes wurde die Versammlung geschlossen. Bei aller Betroffenheit: Ist eine Partei, die knapp vier Monate vor der anvisierten Regierungsübernahme keinen Diskussionsbedarf hat überhaupt existent?

Für die Partei als Diskussions- und Mitwirkungsort bedeutet die medienwirksame Inszenierung von Politik das Ende. Die traditionellen Strukturen der demokratischen Mitbestimmung werden für die “Partei neuen Typs” zu einem Hemmschuh. Nicht nur die vehemente Aufforderung zum Stillhalten und zur inhaltlichen Geschlossenheit, auch der Wahlkampf selbst machen dies deutlich. Während in der Vergangenheit engagierte Parteimitglieder das Näherrücken eines Wahltages als Aufforderung verstanden, selbst auf die Straße zu gehen und das Volk mit Argumenten zu umwerben, gehören nach Ansicht führender SPD-Strategen solche Wahlwerbungskonzepte der Vergangenheit an. Heute vertrauen sie lieber auf Werbe- und PR-Profis, wie z.B. den Kreativchef der Hamburger Agentur KNSK/BBDO, Detmar Karpinski. Daß die Parteien kreative Berater von außen benötigen, um überhaupt noch Aussagen zu fällen, beschrieb Müntefering in einem Interview der Medienzeitschrift Horizont:„Zum Beispiel bei unserem Slogan ‘Wir sind bereit’. Darauf wären wir als Politiker nie gekommen. KNSK/BBDO hat uns dieses Motto zu einem Zeitpunkt vorgeschlagen, als wir große Schwierigkeiten damit hatten, ‘Wir sind bereit’ nach außen zu kommunizieren, im März 1996. (…) Und plötzlich, Ende vergangenen Jahres zum Parteitag in Hannover, trat dann plötzlich dieses ‘Wir sind bereit’ in den Mittelpunkt. Alle haben es gelesen und gesagt: Das stimmt.“ (Horizont, 18/98)

Karpinski spielt die Rolle seiner Agentur herunter: sie sei nur “Erfüllungsgehilfe” der Parteiführung. Dennoch hat das Engagement der Agentur das parteipolitische Alltagsgeschäft verändert. An gewählten Gremien und Strukturen vorbei werden in dieser neuen Liaison Wahlkampfstrategien und -taktiken diskutiert und entschieden. Dies habe dafür gesorgt, daß die als “ein bißchen verstaubt und von gestern” geltende Partei sich binnen weniger Monate modernisieren konnte. Müntefering, der die Fäden des Wahlkampfzirkus der SPD in der Hand hält, steht zu dieser “Inszenierung von Partei und Politik”. Seine Mitarbeiter hätten sich sowohl in den USA bei Clintons New Democrats als auch bei New Labour über Technik und Taktik des “modernen Wahlkampfes” informiert und deren Erfahrungen in die “neue SPD” eingebracht.
Karpinski berichtet, seine einzigen Ansprechpartner seien Franz Müntefering und dessen Büroleiter Matthias Machnig gewesen. „Das, was wir in den letzten eineinhalb Jahren gemacht haben, wäre nicht durchsetzbar gewesen, wenn wir mit den üblichen Parteigremien hätten agieren müssen“, betont er.

Mit Parteidemokratie haben diese Entwicklungen nichts mehr gemein. Die Vorstellung, demnächst von Wahlkampfexperten, professionellen Werbeagenturen und Soap-Opera-Statisten regiert zu werden, macht den angepriesenen Politikwechsel zu einem Alptraum.

Erschienen in Novo35, Juli 1998)

„Die Menschen in Arbeit bringen…“

Für die SPD ist Arbeitsmarktpolitik die beste Kriminalpolitik.

Eine SPD-geführte Bundesregierung will zukünftig jede ihrer politischen Entscheidungen daran messen lassen, ob Arbeitsplätze gesichert oder neue geschaffen werden. Ein neues Bündnis für Arbeit und sowie zahlreiche arbeitsmarktpolitische Initiativen sollen die Arbeitslosigkeit bekämpfen und die “Konsensgesellschaft” vor ihrem Zerfall bewahren. Was auf den ersten Blick anmutet wie sozialdemokratisches Vokabular vergangener Tage, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als autoritärer Regulierungscocktail.

Arbeitslosigkeit wird im SPD-Wahlprogramm “Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit” zunehmend als Problem der “inneren Sicherheit” und der gesellschaftlichen Stabilität diskutiert. Sei es die Individualisierung der Gesellschaft, die Gewalt in Familien, in Schulen oder die Existenz rechtsextremer Gruppierungen – all diese Probleme gehen nach Ansicht der Sozis von den arbeitslosen Massen aus. Entsprechend gewinnt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einen neuen sicherheitspolitisch motivierten und autoritären Charakter. Um jeden Preis sollen die Menschen in Arbeit gebracht werden, sei es durch Umschulung, ABM, Weiterbildung, Teilzeitarbeit, Job-Rotation oder andere Programme, die “die Menschen von der Straße holen”. Das Ziel ist klar: Die Menschen sollen diszipliniert und in den Arbeitsprozeß integriert werden, um ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wird zu einem moralischen Imperativ, dem jedes Handeln und jede politische Entscheidung – und letztlich die gesamte Gesellschaft – untergeordnet werden sollen.

Entwertung der Arbeit

Nicht müde werden SPD und ihr Kanzlerkandidat Gerhard Schröder, die Zukunftsfähigkeit der Arbeitsgesellschaft und der Idee der Vollbeschäftigung zu betonen. Betrachtet man aber die geplanten arbeitsmarktpolitischen Initiativen, wird deutlich, daß der Begriff Arbeit einer umfassenden Neudefinition unterzogen wird. Seit jeher galt die menschliche Arbeit als Motor der gesellschaftlichen und zivilisatorischen Entwicklung. Die Menschen entwickelten Fähigkeiten und Expertisen, trugen so zur Verbesserung der Lebenssituation der Gemeinschaft bei und verschafften sich eine Stellung in der Gesellschaft. Die Arbeitsteilung war ein Gradmesser für den Entwicklungsstand der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Für das Individuum waren die eigene Arbeit sowie die berufliche Karriere wichtig. Sie trugen nicht nur zur Erhöhung des Lebensstandards, sondern auch zur Entwicklung des Selbstbewußtseins bei.

Für die Wirtschaft war Arbeit ebenfalls unersetzlich. Auf Expansion und Wachstum ausgerichtet, bestand bei Unternehmern ständiger Bedarf an Arbeitskräften, an der Entwicklung von Expertisen und an neuen Impulsen für den gesellschaftlichen Produktionsprozeß. Arbeitslosigkeit wurde dementsprechend als Problem für die Betroffenen und überdies als Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise empfunden.

Die heutige Diskussion über Arbeit hingegen ist von anderen Vorstellungen geprägt. Es gilt mittlerweile als unabänderlich, daß es in der Gesellschaft zu wenig Arbeit gibt und das Arbeitsbedürfnis der Bevölkerung nicht befriedigt werden kann. Begriffe wie Sockel-, Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit oder die Titulierung von Arbeitnehmern als “Arbeitsplatzbesitzer” sind Teil der Normalität geworden. Soziologen sprechen gar vom Ende der Arbeitsgesellschaft und reflektieren damit die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stagnation, die suggeriert, es gäbe weniger zu tun und daran sei nichts zu ändern. In diesem Szenario wird die von der SPD propagierte Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu einem Beschäftigungsprogramm für eine freigesetzte und zunehmend orientierungslose Bevölkerung. Beschäftigung wird hier in dem Sinne interpretiert, daß Menschen in Strukturen eingebunden werden sollen, um die gesamtgesellschaftliche Stabilität aufrechtzuerhalten. Arbeit wird von einer ursprünglich kreativen Tätigkeit zur Beschäftigungstherapie und zum wesentlichen Stabilitätsgarant einer stagnierenden Gesellschaft degradiert.

Der moralische Imperativ Arbeit, mit dem “alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisiert werden” sollen, drückt sich in der Praxis autoritärer Arbeitsprogramme aus: In straffer Organisation sollen Arbeitslose durch Arbeits- und Sozialämter in Weiterbildung und Arbeit geschleust werden, und all denen, die einen Job “ohne wichtigen Grund” ablehnen, drohen empfindliche Kürzungen. Ebenso selbstverständlich wurde der CDU-Vorschlag übernommen, Sozialhilfeempfänger zu ehrenamtlichen gemeinnützigen Arbeiten heranzuziehen. Vergleichbar mit dem britischen Back-to-work-Programm der New Labour Party werden hier autoritäre Maßnahmen in sozial-ethische Rhetorik einer Konsens- und Arbeitsgesellschaft gehüllt und in einer Vehemenz vertreten, von der konservative Wirtschaftsvertreter bislang nur träumen konnten

Versöhnung mit der Krise

Betrachtet man die arbeitsmarktpolitischen Vorstellungen der Sozialdemokraten, fällt auf, daß der alten sozialdemokratischen Forderung nach “gerechter Verteilung” im Kontext der gesellschaftlichen Stagnation eine neue Bedeutung zuteil wird. “Verteilung” heißt hier Verteilung von Arbeit, zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, zwischen Männern und Frauen und zwischen Jungen und Alten. Die Rhetorik der “Vollbeschäftigung” weicht der Realität der Massen-Teilzeitarbeit, die einer Verteilung der Arbeitslosigkeit auf alle gleichkommt. Die SPD hat, bevor sie überhaupt zum Regieren kommt, die Idee bereits aufgegeben, qualifizierte neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Statt dessen wird Teilzeitarbeit zynischerweise als neue Chance für die Gesellschaft präsentiert: So könnten zentrale Werte wie “Solidarität” neu erlernt werden. Solidarität bedeutet für die SPD am Ende der 90er in erster Linie die Bereitschaft, Lohneinbußen hinzunehmen und seinen Arbeitsplatz mit einem Arbeitslosen zu teilen.

Auch andere Werte werden neu bestimmt: Unter der Überschrift “Gleichberechtigung” wird im SPD-Programm eine gerechtere Verteilung der vorhandenen Arbeit zwischen Männern und Frauen gefordert. Teilzeitarbeit und “Job-Sharing” von Eltern werden zudem als positive Maßnahme zur Stärkung des Familienzusammenhalts gepriesen. Während in der Vergangenheit volle Berufstätigkeit und ausreichender Wohlstand als tragende Säulen der Individuen wie der Familie galten, wird nun “Job-Sharing” aufgewertet, um zu erreichen, “daß jede Frau und jeder Mann über den eigenen Lebensentwurf frei entscheiden kann”. Kaum Beachtung findet, daß Teilzeitarbeit in den meisten Fällen Teilzeitlöhne auf niedrigem Niveau mit entsprechender Rentenanrechnung bedeutet und damit eine unabhängige Lebensplanung von Männern und Frauen gleichermaßen unmöglich wird. Lediglich der designierte SPD-Arbeitsminister Walter Riester wies in einem Interview lapidar auf dieses Problem hin und räumte ein, man müsse “dies dann regeln”.

Deutlich wird hier, daß auch führende SPD-Strategen die Sichtweise verinnerlicht haben, daß es nicht mehr darum gehen kann, neue Arbeitsplätze in ausreichender Anzahl zu schaffen. Statt dessen soll die vorhandene Arbeit umverteilt und den Menschen beigebracht werden, vom Wunsch eines festen Arbeitsplatzes und eines stabilen Lebensunterhalts Abstand zu nehmen. Statt Auswegen aus der Krise stellt das SPD-Programm den Versuch dar, die Menschen mit derselben zu versöhnen.

Von gesellschaftlicher Innovation kann bei der sozialdemokratischen Programmatik nicht gesprochen werden. Die SPD-Beschäftigungsoffensive veranschaulicht vielmehr, daß keine Lösungen vorhanden sind, sondern lediglich neue Wege, die gesellschaftliche Krise zu verwalten und auf alle Schultern zu verteilen. Die Betonung der Pflege- und Betreuungsberufe im Dienstleistungssektor im SPD-Programm ist daher im übertragenen Sinne symptomatisch: Anstatt zu erwarten, daß die Zukunft besser wird, sollen sich die Menschen lieber gegenseitig pflegen und auf anhaltend schlechte Zeiten vorbereiten. Das sozialdemokratische Wahlprogramm präsentiert im Grunde nur Konzepte, mit denen die Gesellschaft im Sinne einer Not- und Überlebensgemeinschaft diszipliniert und zusammengeschweißt werden soll.

Erschienen in Novo35, Juli/August 1998

Gunther von Hagens: „Tante Frieda ist in der Ausstellung genauso happy wie der Universitätsprofessor“

Von 31. Oktober 1997 bis 1. März 1998 war das Mannheimer Landesmuseum für Technik und Arbeit Schauplatz einer der umstrittensten Ausstellungen der letzten Jahre: Die Körperwelten des Heidelberger Anatoms Prof. Dr. Gunther von Hagens zeigten echte menschliche Körper und Körperteile, die mittels der von ihm erfundenen Methode der Plastination auf ewig konserviert wurden.

Die Mannheimer Grünen beschimpften von Hagens als “moderne Version des Doktor Frankenstein”. Forderungen nach einem Verbot der Ausstellung wurden erhoben. Die Besucherzahlen sprachen hingegen ein deutliches Wort gegen das Verbot: Nachdem bereits über eine Million Menschen die Ausstellung in Tokio gesehen hatten, besuchten sie in Mannheim, trotz aller Kritik, mehr als 600.000. Ein Interview mit dem Erfinder der Plastination und Leiter der Ausstellung.

 

Wie schätzen Sie die Reaktionen der Ausstellungsbesucher ein?

Gunther von Hagens: Ich bin positiv überrascht, daß einer Besucherumfrage zufolge 95 Prozent der Besucher die Ausstellung gutheißen und sie weiterempfehlen. Nach der anfänglichen Kritik habe ich das nicht mehr zu hoffen gewagt. Die Ausstellung befriedigt das Bedürfnis vieler Menschen, sich über den eigenen Körper und dessen Funktionen zu informieren. Insbesondere bin ich aber überrascht darüber, dass die Ausstellung auch unter Medizinern so gut ankommt. Auch der medizinische Berufstand hat die Notwendigkeit der Laieninformation absolut verinnerlicht und zur eigenen Aufgabe gemacht. Die Umfrage zeigt, daß die Kritiken aus Medizinerkreisen nur vereinzelte sind. Ich kenne Berliner Arztpraxen, die komplett für einen Tag schließen, um nach Mannheim zu kommen und die Ausstellung zu sehen.

Wie erklären Sie sich, dass auf der einen Seite die Besucher die Ausstellung fast einstimmig begrüßen, auf der anderen Seite aber eine sehr kontroverse Debatte über die Ausstellung in der politischen Öffentlichkeit stattfand?
Gunther von Hagens: Das zeigt, daß die Presse noch am meisten das Ohr am Volk hat, die Politiker schon weniger und die Kirche gleich gar nicht. Ich habe mir aus den Besucherbüchern, die wir sammeln und auswerten, alle Kommentare unter dem Stichwort “Kirche und Glauben” herausgesucht und durchgelesen. Es ist erstaunlich, was dort geschrieben wird: Es soll von der Kirche und von der Kanzel dazu aufgefordert werden, hierher zu gehen und diese Ausstellung zu sehen, ist da zu lesen. Das Beharren auf alten Traditionen in einer sich wandelnden Welt ist der größte Fehler, der gemacht werden kann. Statt dessen sollten alle sich bietenden neuen Möglichkeiten genutzt werden. Insgesamt muß ich sagen, dass über die Ausstellung in der Presse zwar kontrovers, aber nicht negativ berichtet wurde.

Der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel hatte sich anfangs für ein Verbot der Ausstellung eingesetzt, und die Mannheimer Grünen verglichen Sie mit “Doktor Frankenstein”. Berührt Sie solche Kritik?
Gunther von Hagens: Zunächst war ich in der Tat sehr besorgt, denn das Nichtzustandekommen der Ausstellung hätte meinen finanziellen Ruin und den Bankrott des Instituts für Plastination bedeutet. Die Sorge ging aber nicht in existentielle Tiefen, da ich überzeugt war, dass, wenn nicht in diesem Museum, ich die Ausstellung in einem privaten Museum oder auch in einer angemieteten Halle gezeigt hätte und die Leute gekommen wären, keine Frage. Im Gegensatz zu meiner Frau, die sehr viel besorgter war, war ich überzeugt, dass die Sache läuft.

Ich meine, dass die Stimme aus den Reihen der Grünen eine Einzelstimme war. Ich meine auch, dass die Stimme des Politikers Teufel eine einzelne Stimme ist. Es ist ja das Tolle in einer Demokratie, dass auch Politiker unterschiedliche Meinungen haben dürfen und sollen. Meiner Ansicht nach ist der Ministerpräsident falsch beraten worden, und er hat sehr gut daran getan, die Ausstellung nicht zu verbieten. Und ich habe meine Hoffnung nicht ganz aufgegeben, dass er die Ausstellung irgendwann noch sehen wird. Denn was hier vorgestellt wird, ist eine Blüte der weitsichtigen Landespolitik seines Amtsvorgängers Lothar Späth, der die Nebentätigkeitsverordnung der Universitäten so liberal gestaltet hat, dass es mir in den ganzen Jahren möglich war, die Plastination im universitären Rahmen zu entwickeln und durch eine ganz private Nebentätigkeit zu finanzieren.

Warum ist es Ihnen wichtig, Laien den menschlichen Körper näher zu bringen?
Gunther von Hagens: Ich habe gelernt, dass ich meiner ärztlichen Aufgabe, durch Aufklärung Prophylaxe zu betreiben, mit der Plastination in ganz besonderer Weise gerecht werden kann. Ich habe versucht, eine größere Ausstellung in Heidelberg zu organisieren, bekam aber von Museen nur Absagen. Da kam mir eine Einladung der Japanischen Anatomischen Gesellschaft gerade recht. Die Ausstellung in Tokio stellte einen Tabubruch sondergleichen dar. Seit über 300 Jahren durften in Japan keine Leichen gezeigt werden. Die japanischen Besucher waren dementsprechend fasziniert, und das Staunen stand in ihren Gesichtern geschrieben. Diese Erfahrungen haben mich emotional tief bewegt, und so kitschig es klingt: Seither fühle ich mich als Anwalt aller derjenigen Laien und Mediziner, die es als gerecht empfinden, einen direkten Einblick in das Körperinnere, ohne Umweg über Abbild oder Modell, nehmen zu dürfen.

Generell sollte den Laien unbegrenztes Wissen zugestanden werden. Ich finde, dass in der deutschen Wissenschaft die Informationspflicht des Wissenschaftlers dem Laien gegenüber, der die Wissenschaft ja finanziert, generell zu unterentwickelt ist. Man kann nicht auf der einen Seite vom mündigen Bürger und von Demokratie sprechen, wenn man dem Laien auf der anderen Seite das Recht auf Autopsie – das Selbst-Sehen – verweigert. Diese Autopsie ist von den Urvätern der Anatomie wie Leonardo da Vinci oder Andreas Vesalius zur Grundlage aller Wissenschaft gemacht worden. Wer sich als Laie informieren will, tut am besten daran, sich den Quellen der Wahrheit, nämlich den authentischen, zuzuwenden.

Der aufgeklärte Patient, der im Detail über Operationen aus gutem Grund Bescheid wissen muss und sich nicht mehr mit Unwissenheit begnügt, muß Zugang auch zu den Wissensquellen haben, die der Arzt in seiner Ausbildung nutzt. Es gibt kein Buch und kein Präparat, das dem Laien nicht zugänglich gemacht werden sollte. Als ehemaliger DDR-Bürger ist mir das ganz besonders wichtig, denn ich habe gesehen, wohin eine Gleichschaltung der Gesellschaft führt. Und wenn es auch für manche Ohren unpopulär klingt: Ich bin immer noch begeistert von der deutschen Demokratie, die dem Laien eine so große Macht ermöglicht, daß selbst wenn sich Kirchenvertreter und einige Politiker und Fachleute gegen eine Ausstellung aussprechen, diese trotzdem stattfindet, wenn sie vom Laien gewünscht wird. Insofern ist diese Ausstellung wie auch die öffentliche Debatte gelebte Demokratie im besten Sinne des Wortes.

Die Besucher Ihrer Ausstellung wurden vor Eintritt auf Schildern und Handzetteln auf die Brisanz der Ausstellung und die kontroverse, öffentliche Diskussion hingewiesen und belehrt. Kinder unter 14 Jahren sollten nicht bzw. nicht ohne Erziehungsberechtigte die Ausstellung besuchen dürfen. Warum sind solche Warnungen überhaupt notwendig?
Gunther von Hagens: Das ist eine Forderung des Stiftungsrates, der auf politischen Druck kurz vor der Ausstellungseröffnung zusammengetreten ist. Ich persönlich halte diese Maßnahmen für nicht notwendig. Die Ausstellung in Japan hat gezeigt, dass gerade Kinder sehr problemlos, weil nicht durch Tabus belastet, mit solchen Präparaten umgehen können.

Kritik an der Ausstellung kam ja nicht nur aus christlichen und konservativen Kreisen der Gesellschaft. Gerade aus liberalen Kreisen ist oft zu hören, Menschen könnten mit vielerlei Wissen nicht umgehen und seien auch moralisch und ethisch überfordert.
Gunther von Hagens: Das ist intellektueller Snobismus. Ich meine, dass sich der Laie in der Ausstellung über die sinnliche Erkenntnis sowie über die verstandesgemäße Instruktion sein Körperbild zusammenbaut. Ich beziehe mich hier auf Immanuel Kant, der vom doppelten Erkenntnisvermögen des Menschen spricht, zum einen über die sinnliche Perzeption und zum anderen über den Verstand. Dies ist der Grund dafür, weshalb Tante Frieda aus dem Fleischerladen in der Ausstellung genauso happy ist wie der Universitätsprofessor.

Ihnen wurde der Vorwurf gemacht, Sie hätten “Kunst” zur Schau gestellt und die Präparate künstlerisch, also künstlich verändert.
Gunther von Hagens: Jede Präparation, jede Darstellung auch nur eines einzigen Organs, ist ein ganz bewusster Eingriff in den Körper. Wenn ich mich da zum Schöpfer aufspielen sollte, dann macht das jeder, der Leichenteile in Präparate umwandelt. Es macht keinen Unterschied, ob ich ein Herz nehme und es in ganz besonderer, didaktisch sinnvoller Art und Weise aufschneide oder ob ich einen ganzen Körper lebensnah darstelle. Der Kunstvorwurf ist deshalb möglich, weil der moderne Kunstbegriff ein sehr offener und nicht allgemeingültig definiert ist. Deshalb muß ich mich ganz klar abgrenzen: Ich mache Anatomiekunst, und die definiere ich ganz scharf als die ästhetisch-instruktive Darstellung des Körperinneren. Insofern sehe ich mich in der Tradition der Urväter der Anatomie, die ihre Präparate immer auch als ein Kunstwerk verstanden haben wollten – aber im Sinne von Kunsthandwerk.

Sie haben auf einer Podiumsdiskussion gesagt, die Gesellschaft solle “dem Neuen und Revolutionären keine Schranken auferlegen”. Was meinen Sie damit?
Gunther von Hagens: Man soll nicht schreien: “Gib dem Kätzchen keine Milch, denn Du könntest es in ihr ersäufen!”. Man soll statt dessen durchaus Freiräume zugestehen und sie nicht beschränken, insbesondere wenn es sich um Entwicklungen handelt, die von der Mehrheit der Bürger gewünscht werden. Mir ist der moralische Kontext sehr wichtig. Dieser wird aber von den Bürgern gemacht und gelebt und nicht von Kommissionen oder Moralaposteln bestimmt.

Was ist der medizinisch-wissenschaftliche Nutzen der Plastination? Wird sie auch in der Lehre und im Forschungsbetrieb angewandt?
Gunther von Hagens: Es gibt zwei Modifikationen der Plastination: zum einen die Imprägnierung mit Silikonkautschuk, ich nenne sie Gestaltplastination, weil diese Präparate gestaltet werden; zum anderen die Fertigung von dünnen, transparenten Körperscheiben mit Epoxydharz. Beide haben unterschiedliche Anwendungsbereiche. Die Scheibenplastination eignet sich in hervorragender Weise als wissenschaftliche Methode zur kontinuierlichen Darstellung submakroskopischer Strukturen. So kann man dreidimensionale Nerven-, Bindegewebs- und Gefäßverläufe von Scheibe zu Scheibe verfolgen bis in den mikroskopischen Bereich hinein. Diese Methode wird z.B. in der Orthopädie in Heidelberg eingesetzt und brachte völlig neue Einblicke und Erkenntnisse.

Die Gestaltplastinate sind hingegen besser für die Lehre geeignet, für die studentische, aber auch insbesondere für die Lehre des Laien, weil die Präparate trocken und damit im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar und geruchlos sind und ein detailgetreues Oberflächenrelief haben. Insofern haftet ihnen nicht der Nachteil des Formalins an, das die Präparate farblich wie geruchsmäßig unattraktiv macht und durch die notwendige Aufbewahrung in Flüssigkeit allmählich verderben läßt. Die Plastination ist somit die modernste Technik, begreifbare, ästhetisch-instruktive Präparate herzustellen.

Was sind Ihre weiteren Pläne mit der Plastination?
Gunther von Hagens: Ich habe bereits das Zehnfache der gezeigten Präparate gedanklich im Kopf vorpräpariert. Ich möchte langfristig ein Menschenmuseum aufbauen, aus dem man, wenn man lange genug drinbleibt, als ein anderer Mensch wieder herausgeht. Als ein Mensch, der sich seiner Natürlichkeit und Verletzlichkeit, aber auch der Stärke seines Leibes bewusst wird.

Zusatzinformationen:
Der Plastinator: Prof. Dr. med. Gunther von Hagens wurde am 10.1.1945 in Alt-Skalden/Posen geboren und wuchs in der DDR auf. Nach seinem Medizinstudium in Jena wurde er nach misslungener Republikflucht 1968 inhaftiert und 1970 als politischer Häftling von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft. Seit 1974 lebt und arbeitet er in Heidelberg, zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter, später als Anatom im Anatomischen Institut der Universität Heidelberg. Dort erfand und entwickelte er die Plastination. 1994 gründete er das unabhängige “Institut für Plastination” (IfP) in Heidelberg, dem er als wissenschaftlicher Direktor vorsteht. Seither gründete er weitere Plastinationszentren in Kirgisien und China und wurde von der Medizinischen Universität Dalian in China zum Gastprofessor ernannt. Die Entwicklung der Plastination schildert Prof. Dr. von Hagens wie folgt: “Ich bin durch Zufall darauf gekommen. Als mir ein Präparator ein in Kunststoff eingebettetes menschliches Organ zeigte, fragte ich ihn, warum der Kunststoff um das Präparat herum gegossen würde, man könne ihn doch auch hineinspritzen, um es dann besser anfassen zu können. Der Präparator meinte, dies ginge nicht, da man den Kunststoff nicht in die Zellen hinein bekäme, ohne diese zu zerstören. Diese Antwort hat mich lediglich oberflächlich befriedigt… Als ich später in einem Uni-Shop eine Wurstschneidemaschine sah, kam mir die Idee, man könnte doch Präparate in Millimeter dünne Scheiben schneiden und sie anschließend zur weiteren Verwendung mit Kunststoff durchtränken. Mir kam dann der Gedanke, in einem zweistufigen Prozess der Konservierung zunächst das Gewebewasser gegen Aceton und in einem zweiten Schritt Aceton gegen einen Reaktionskunststoff auszutauschen. Mein erstes so behandeltes Präparat war zwar maximal geschrumpft und sah verkohlt aus, doch ich arbeitete mit anderen Kunststoffen weiter an der Methode. Am 10. Januar 1977 hielt ich schließlich mein erstes plastiniertes Präparat in Händen und wusste: Das ist meine Chance, die anatomische Lehre zu revolutionieren.”

Die Plastination und das Institut
Die Plastination ist ein sehr aufwendiges und komplexes Verfahren, dass übergreifendes Fachwissen und Erfahrung erfordert. Dabei tritt ein hochwertiges Polymersystem im Vakuum an die Stelle von Gewebsflüssigkeit und schützt so jede Körperzelle des Präparates dauerhaft vor Verwesung. Selbst die genetische Individualität bleibt hierbei erhalten. Die Präparate werden mit Aceton entwässert und anschließend in ein Gefäß mit Plastinationskunststoff gelegt. Im fast luftleeren Raum einer Vakuumkammer perlt dann das niedrigsiedende Aceton aus dem Präparat heraus. Dabei entsteht ein Volumendefizit im Präparat, das den Kunststoff in jede Gewebszelle “hineinsaugt”. Nach Abschluß der Vakuumimprägnierung erfolgt dann die Härtung des Präparates (Quelle: Informationsblatt Körperspende zur Plastination, Institut für Plastination Heidelberg, 3. Auflage 1997). “In einer Universität”, so Prof. von Hagens, “ist es nicht möglich, eine große öffentliche Plastinationsausstellung auf die Beine zu stellen. Ein solches Projekt sprengt einerseits die räumlichen und technischen Möglichkeiten einer Universität, ist aber andererseits auch politisch kaum durchsetzbar. Die ganze Geschichte – und auch die Anatomiegeschichte – lehrt uns, das Gremien und Parteien immer beharrlich und konservativ sind. Der gesellschaftliche Fortschritt wird hingegen immer von Einzelpersonen vorangetrieben. Auch jetzt wird mir noch der Vorwurf gemacht, ich dränge mich zur Presse und zur Öffentlichkeit und beschädige dadurch den Ruf der Universität und der Anatomie. In einem eigenen und unabhängigen Institut kann ich über solche Kritik hinwegsehen, aber in der Universität bin ich auf die Zustimmung aller angewiesen.”
Erschienen in Novo33, März 1998

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„Frankfurter Präventionsräte – Opfer aller Stadtteile, vereinigt Euch!“

Die Gemeinschaft der Ängstlichen ist undemokratisch und autoritär!

Das Zauberwort der aktuellen Diskussion über die Probleme der inneren Sicherheit lautet: „Verbrechensprävention“. Entgegen altbackener „law and order“-Vorschläge verspricht die moderne Präventionsstrategie neue Wege in der Verbrechensbekämpfung. Die traditionelle „kriminalistische Nachsorge“ soll nun durch gemeinschaftliches Handeln in der Nachbarschaft und im Stadtteil ergänzt werden. Ziel ist es, das Sicherheitsgefühl der Bürger zu stärken und Verbrechen von vornherein zu verhindern.

Die Stadt Frankfurt am Main hat, wie keine zweite, die Voraussetzungen dafür, eine Vorreiterin dieser neuen Kriminalitätspolitik zu werden: Die Mainmetropole gilt als die deutsche Hauptstadt des Verbrechens, als Drogenumschlagplatz erster Klasse und habe zudem – was immer wieder in diesem Zusammenhang Erwähnung findet – den höchsten Ausländeranteil aller deutschen Großstädte. Bereits in der Vergangenheit stand das Thema Kriminalität nicht nur dauerhaft auf der politischen Tagesordnung am Main, sondern es schmückt auch alle Jahre wieder zur Wahlkampfzeit unzählige Werbeflächen und Häuserwände.

Es ist jedoch nicht nur der von allen Parteien diagnostizierte „Handlungsbedarf“, sondern auch die aktuelle parteipolitische Konstellation, die Frankfurt für Experimente so attraktiv macht: Im Frankfurter Römer ist die CDU-Oberbürgermeisterin Petra Roth auf Gedeih und Verderb mit einer schwächelnden SPD verbandelt. Das Überspringen von Parteigräben gehört deshalb gerade in Frankfurt zur politischen Überlebensstrategie und wird von allen Seiten rege betrieben. Die real existierende Große Koalition im Römer ist gezwungen, neue Wege zu gehen und diese in höchsten Tönen zu besingen, um ihre zersplitterte und demotivierte Wählerschaft und nicht zuletzt sich selbst bei Laune und der Stange zu halten. Das Thema „innere Sicherheit“ bietet hierfür eine gute Gelegenheit: Einerseits können überparteiliche Gemeinsamkeiten gepflegt und Handlungswilligkeit zur Schau gestellt werden; andererseits soll der verunsicherte Bürger durch direkte Zusammenarbeit mit Politik und Polizei wieder Vertrauen zu staatlichen Institutionen schöpfen.

„Gewalt-Sehen-Helfen“ – die neue Sicherheitskampagne der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth – offenbart diese Zielsetzung: Unter dem Motto „Reagieren statt Gaffen“ will Roth gegen „den zunehmenden Egoismus der Menschen und die Auflösung sozialer Bindungen“ vorgehen (Frankfurter Rundschau, 16.10.97). Mit zahlreichen Plakaten, Handzetteln und Veranstaltungen soll das verloren gegangene „Verantwortungsgefühl für die Gemeinschaft“ beschworen werden, denn schließlich, so betonte der Frankfurter Polizeipräsident Wolfhard Hoffmann, „könne jeder zum Opfer werden“. Um den Zusammenhalt dieser neuen Opfergemeinschaft zu schmieden, sind außerdem die Einrichtung eines Aktionstelefons sowie zahlreiche Projekttage an Frankfurter Schulen geplant. Hierüber sollen den kleinen und den großen Bürgern das Ausmaß der allgemeinen Bedrohung sowie sinnvolle „Verhaltensstrategien“ näher gebracht werden. Als besonders fortschrittlich wird zudem gepriesen, daß die Aktion nicht allein aus den ohnehin leeren Römerkassen finanziert wird. So wird in Polizeikreisen die Hoffnung geäußert, es mögen sich private Sponsoren bereit erklären, die Aktion zu finanzieren – ein geschicktes Manöver: Die Bürger sollen sich von Experten zunächst einschüchtern und dann „ausbilden“ lassen, ihre Sicherheit anschließend selbst organisieren – und dafür bezahlen.

Diese Kampagne ist jedoch nur ein Beispiel für die „experimentelle“ Sicherheitspolitik des Frankfurter Magistrats. Jenseits großer Öffentlichkeit ist Verbrechensprävention bereits seit längerem zu einem zentralen Bestandteil Frankfurter Kommunalpolitik geworden. Im Stadtpräventionsrat laufen die Fäden der parteiübergreifenden Kooperation zusammen.

Ihm gehören mit der Oberbürgermeisterin Roth, dem Polizeipräsidenten Hoffmann, dem Leiter der Frankfurter Staatsanwaltschaft, dem Ordnungsdezernenten und dem Dezernenten für Soziales und Jugend Repräsentanten der wichtigsten städtischen Behörden an. Dieses Gremium hat sich zum Ziel gesetzt, zukünftig in fast allen Frankfurter Stadtteilen die Errichtung regionaler Präventionsräte zu fördern. In ihnen sollen ehrenamtliche Bürger, Sozialarbeiter, Politiker und Sicherheitsbehörden auf lokaler Ebene in Sicherheitsfragen zusammenarbeiten. Neben Sensibilisierung und Ermunterung der Bürger steht vor allem die Suche nach erfahrenen und vertrauenswürdigen Führungspersönlichkeiten, die sich in den Räten engagieren sollen, im Zentrum der Arbeit. Der erste lokale Präventionsrat arbeitet seit Mai 1997 im Frankfurter Stadtteil Sossenheim. Unter dem Vorsitz der Vizepräsidentin der Industrie- und Handelskammer, Dagmar Bollin-Flade, hat der Rat unter anderem die Bewachung und Sicherung von Schulhöfen organisiert sowie eine Initiative zur Kennzeichnung von Kampfhunden mit Warnplaketten gestartet.

Als „kleines Stadtteilkabinett“ bezeichnet der Referent des Ordnungsdezernenten, Frank Goldberg, das Sossenheimer Gremium, dem neben Kirchenvertretern und Sozialarbeitern auch Schulrektoren und Vertreter des örtlichen Gewerbevereins angehören. Sichtbare Erfolge bei der Verbrechensbekämpfung erwarte man zwar nicht – „Prävention ist nicht messbar“ -, bestätigt Goldberg, dennoch arbeite der Rat „mit großem Erfolg“: Die anfängliche Skepsis der Bevölkerung sei mittlerweile aufgrund der guten Öffentlichkeitsarbeit soweit gewichen, daß man „nicht mehr ständig die Existenz des Rates rechtfertigen“ müsse.

Offensichtlich bedurfte es einiger Überzeugungsarbeit, um den Sossenheimern klarzumachen, daß sie dringend einen Präventionsrat brauchen. Den Bewohnern von Frankfurt-Zeilsheim soll dies im November dieses Jahres beigebracht werden. Unter der Leitung des Frankfurter Landtagsabgeordneten Alfons Gerling (CDU) soll ein ähnliches Gremium gemeinsam mit Bürgern im Stadtteil gegen die sich zusammenrottenden kriminellen Jugendlichen vorgehen. Zwar sei die Situation in Zeilsheim keineswegs spektakulär, betont Gerling, sondern eher mit der in anderen Vierteln zu vergleichen, dennoch könne ein solche Rat die „Kräfte im Stadtteil bündeln, besser als jede Partei“.

Auch andere Befürworter der staatlich geförderten Bürgerzusammenschlüsse stellen deren integrierende Rolle in der modernen „atomisierten Gesellschaft“ heraus. Nach Ansicht des Geschäftsführers des hessischen Landespräventionsrates, Dr. Helmut Fünfsinn, geht es um „soziale Kontrolle im positiven Sinn“: Die lokalen Initiativen sollen „den Straßenbahnschaffner und den Hausmeister ersetzen“, die früher den Menschen als Ansprechpersonen galten. Heute sei es wichtig, insbesondere im nachbarschaftlichen Umfeld ein „Wir- und Heimatgefühl aufzubauen, in dem der eine auch mal die Blumen des anderen gießt oder auf dessen Wohnung aufpaßt“. Mit „Blockwart“ oder dem „gläsernen Stadtteil“ habe dies nichts gemein.

Kritik an den Präventionsräten wird seit Jahren aus den Reihen der Rechtswissenschaft geübt. Betont wird in erster Linie die ungeklärte Rechtslage und die mangelnde demokratische Kontrolle der Stadtteilräte. Sowohl für Fünfsinn als auch für den bündnisgrünen Bundestagsabgeordneten Rezzo Schlauch aus Stuttgart ist diese Kritik jedoch aus der Luft gegriffen. Fünfsinn argumentiert, rechtsstaatliche Kompetenz erführen die Räte durch die mitarbeitenden Vertreter von Politik und Polizei. Schlauch hingegen hält generell die Frage nach der rechtsstaatlichen Verankerung der Präventionsräte für „formalistisch“ und fordert, man solle angesichts der großen Defizite bei der Verbrechensverhütung „nicht päpstlicher sein als der Papst“.

Diese Antworten offenbaren den problematischen Charakter der Präventionsräte: Wenn die rechtsstaatliche Kompetenz der Räte einzig durch Politik und Polizei gewährleistet werde, bedeutet dies, daß diese Vereinigungen letztlich nichts anderes sind als die zivile Ausdehnung staatlicher Ordnungsmacht. Was der unbeliebten Polizei und der entrückten Politik an berechtigtem Misstrauen entgegengebracht wird, soll nun mittels „öffentlich-rechtlich begleiteter Bürgerwehren“ wieder ausgeglichen werden. Dies erklärt auch, warum insbesondere Kommunalpolitiker sich für diese Räte stark machen. Die „Bündelung aller Kräfte im Stadtteil“, wie sie in Frankfurt-Zeilsheim angestrebt wird, bedeutet keineswegs den Ausbau der demokratischen Mitbestimmungsrechte der Bevölkerung im Viertel. Nicht der mündige politische Bürger, der, so er will, seine Politiker zum Teufel jagt, ist hier gefragt. Im Zentrum steht der schutzbedürftige und nach Kontrolle rufende Bürger, der in seiner Eigenschaft als Betroffener und als Opfer den Zusammenhalt der verunsicherten Gesellschaft aufrechterhalten soll. Schlechte Aussichten für die Freiheit!

Erschienen in Novo31, November 1997

„Greenpeace gegen die gelb-schmutzige Gefahr“

Das Greenpeace-Magazin zog in seiner Mai/Juni-Ausgabe (1997) alle Register des ökologisch korrekten anti-chinesischen Chauvinismus.

Man fühlt sich an längst vergangene Zeiten erinnert, die man nur aus vergilbten Zeitungen und Schwarz-Weiß-Filmen kennt. Und doch ist das Titelbild des Greenpeace-Magazins ein Symbol für eine Weltsicht, wie sie heute weit verbreitet ist. Mehr als 50 Jahre nach dem Ende Zweiten Weltkrieges ist die „Gefahr aus Fernost“ ein Titelbild wert; diesmal jedoch nicht auf einer staatstragenden Zeitschrift oder einem Kriegspropagandablatt, sondern in der offiziellen Publikation der größten Umweltschutzorganisation der Welt.

Das Titelbild der Zeitschrift zeigt einen schlitzäugigen Blaumannträger mit rotem Kommunistenstern an der Brust, der unaufhaltsam mit seinen Proletenstiefeln über den untergehenden grün-bewaldeten Planeten Erde hinwegtrampelt, dem Fortschritt entgegen, im Rücken die aufgehende und brennende Sonne am glutroten Himmel. „Vorwärts um jeden Preis“ lautet der Untertitel des Bildes, und „Wie Chinas Wirtschaftsboom die Umwelt ruiniert“. Das Innere des Magazins gibt einen Vorgeschmack auf das, was uns wahrscheinlich als Umweltjournalismus des 21. Jahrhunderts noch öfter unter die Augen kommen wird.

Was das Greenpeace-Magazin hier präsentiert, ist ein Musterbeispiel für das, was man ohne weiteres als anti-chinesischen Öko-Chauvinismus bezeichnen kann: Eine „schmutzig-gelbe Gefahr“ aus Fernost ist, so will uns das Heft warnen, drauf und dran, die Lebensgrundlagen der zivilisierten Welt zu zerstören. Der um jeden Preis grinsend vorwärtstrampelnde Kommi-Proleten-Asiat mit dem fanatisch nach vorne gerichteten „Nach-mir-die-Wüste-Blick“ vereint alle anti-asiatischen Vorurteile, die heute im Umlauf sind: Nach der Invasion japanischer Touristen, Kleinwagen und Kunstsammler und der Überflutung des europäischen Marktes durch koreanische Kleinbildkameras laufen wir nun Gefahr, von fernöstlichem Dreck und Gestank und Umweltkatastrophen made in China überrollt zu werden. Die Bilder im Innern des Heftes sprechen hier für sich. In glutrot und verbrannt-gelb gehaltenen Bildern erscheint China als verschmutzte und lebensfeindliche Boom-Wüste mit Bildüberschriften wie „Pech und Schwefel über den Metropolen“, „Das Ende der Wälder“, „Das Land der toten Flüsse“ und „Die tödliche Kraft des Atoms“.

Diese Darstellung der Gefahr aus Fernost knüpft geradezu nahtlos an das traditionelle westliche Asien-Bild an. Waren es in der Weltkriegspropaganda in erster Linie die Japaner, die in Zeitungskarikaturen als Ratten, blutrünstige Monster oder Insekten die westlichen Pfründe bedrohten, so sind es heute die boomenden Tiger-Staaten sowie China, die mit einer Mischung aus insgeheimer Bewunderung und offener Feindseligkeit beäugt werden. Die Vorstellung der japanischen Gesellschaft als anonymer Ameisenhaufen sowie die Schreckensvisionen der unendlichen, gesichtslosen chinesischen Arbeiterarmeen sind heute präsenter denn je. Sie zeugen davon, daß auch heute tiefsitzendes Misstrauen und Verachtung das westliche Asienbild prägen.

Dass heute nicht mit Insektenbildern hantiert wird, ist kein Anlass zur Entwarnung. Der Chauvinismus bedient sich heute lediglich einer anderen Sprache. Denn ob durch die Darstellung als Ungeziefer, als Ameisenvolk oder als unverbesserliche, fanatische Weltverpester – die Schlussfolgerung ist die gleiche: Asiaten sind eine aggressive Bedrohung für die zivile, demokratische und offene Gesellschaft des Westens.

Das Gefährliche an dieser neuen Form des Chauvinismus ist, dass er von den meisten Menschen nicht als solcher erkannt wird. Gekleidet in ökologische Formeln ist oberflächliche und vorurteilsbeladene Ablehnung von Menschen jedoch keinesfalls weniger gefährlich. Im Gegenteil: Hier erhält Chauvinismus eine neue, „verdauliche“ Konsistenz. Das Greenpeace-Magazin hat ganze Arbeit geleistet: Es hielt seinen Titelbild-Chinesen scheinbar für so gelungen, daß es ihn auch noch in Postkartenformat über der Welt ausschüttete.

Erschienen in Novo29, Juli 1997

Matthias Heitmann