Gewaltvideos bei der Bundeswehr

Das Wett-Ereifern über das Hammelburger Video ist schlimmer als der Streifen selbst.

Mitten hinein ins Sommerloch 1997 platze die Bombe von Hammelburg: Am 7. Juli zeigte der Fernsehsender Sat.1 ein von Bundeswehrsoldaten gedrehtes Video; es zeigte Soldaten beim Nachstellen von Hinrichtungen, Erschießungen und Vergewaltigungen, und es verriet auch den Ort des Geschehens: den Truppenübungsplatz Hammelburg. Dies löste Reaktionen bis in höchste Regierungskreise aus. Bundesverteidigungsminister Volker Rühe zeigte sich bestürzt und sprach von „einer Handvoll fehlgeleiteter Einzelgänger“, vor deren Perversionen die Bundeswehr und ihr mühsam aufgebauter, guter Ruf künftig geschützt werden müsse. Als Folge der Ereignisse regte er an, „Leerlauf in der Ausbildung“ – sprich Pausen – abzuschaffen, damit keine Langeweile und Freiräume für ähnliche Widerwärtigkeiten entstünden. Jugendlichen mit Verdacht auf rechtsradikale Gesinnung will Rühe zukünftig den Eintritt in die Kasernen verwehren.

Oppositionspolitiker forderten Reformen in der Bundeswehr und kritisierten die schlampige und gedankenlose Auswahl sowie die schlechte politische Ausbildung der Rekruten. Von „Staats- und Bundeswehrkrise“ war die Rede, und die Wellen der Empörung schlugen so hoch, dass der Chefredakteur von Sat.1, Jörg Howe, nach der Ausstrahlung des Videos klarstellte, er habe „absolut nicht … die demokratische Basis der Bundeswehr in Frage“ stellen wollen. Der SPIEGEL hingegen verglich das Video mit einem Monty Phyton-Film und bewertete es „nicht unbedingt als Beleg für rechtsradikales Filmschaffen“ (29/1997). Das ein Amateurvideo ein so heftiges politisches Beben verursacht, ist in der Tat ein erstaunlicher Vorgang.

Es ist durchaus nichts Schlechtes, wenn Aktivitäten der Bundeswehr in besonderem Maße kritisch beobachtet werden. Berichte über Folterungen durch Soldaten sind weltweit keine Seltenheit, und warum sollten es Bundeswehrsoldaten ihren amerikanischen, kanadischen, britischen, italienischen oder französischen Kollegen nicht nachtun? Dennoch stellt die allgemeine Aufregung über das Bundeswehrvideo eine Überreaktion dar. Anhand eines Videos, in dem sieben Soldaten Gewaltszenen nachstellen, eine Kritik an der Bundeswehr zu konstruieren, erweist sich als problematisch. Eine solche Kritik läuft Gefahr, den tatsächlich kritikwürdigen Charakter und Auftrag der Bundeswehr – und damit das Wesentliche – aus den Augen zu verlieren und sich statt dessen auf das individuelle Fehlverhalten einzelner Wehrpflichtiger einzuschießen und zu beschränken. Leider nahm die öffentliche Diskussion genau diese Züge an. Eine wirklich umfassende und weitsichtige Debatte über Sinn und Auftrag der staatlichen Institution Bundeswehr fand nicht statt.

Deutlich werden die problematischen Konsequenzen dieser auf das Individuum verengten Diskussion, wenn man die unterschiedlichen Aussagen zum Bundeswehrskandal unter die Lupe nimmt. Eine zentrale Forderung war die nach besserer Ausbildung und strafferer Führung der Wehrdienstleistenden. Bemerkenswert ist hieran: Diese Forderung wurde insbesondere in liberalen und linksliberalen Kreisen erhoben. Nicht nur der FDP-Politiker Ignatz Bubis sowie zahlreiche sozialdemokratische Stimmen forderten dies, auch die verteidigungspolitische Sprecherin der Bündnisgrünen, Angelika Beer, attestierte der Bundeswehr Führungsschwäche im Umgang mit rechtsextremen Tendenzen in der Truppe. Als Verteidigungsminister Rühe in der Aussprache im Bundestag Handlungsbedarf eingestand und Abhilfe versprach, war es erneut die bündnisgrüne Politikerin, die feierlich die „Wende in der Positiv-Darstellung der Bundeswehr“ verkündete und den Minister für seine Offenheit lobte. Die Forderungen nach verstärkter politischer Ausbildung durch Militärs, nach strikter Kasernenkontrolle und Abschaffung der Manöver-Mittagspausen sind solche, um die Rühe mit Sicherheit von allen seinen westlichen Amtskollegen beneidet würde. Hätte man aus den Reihen der Grünen früher noch Kritik an militärischem Drill und der Befehlshierarchie erwarten können, so scheint heute für Beer Gehorsam und straffe Führung von Wehrpflichtigen das beste Mittel gegen Gewalt und Gewaltverherrlichung zu sein. Früher wurde eher der autoritäre und elitär nationalistische Charakter des Militärs sowie seine Ausbildung zum Töten kritisiert.

Heute ist das anders: Die neuen liberalen Befürworter der Strategie „Drill gegen Gewalt“ scheinen aber eines vergessen zu haben: Die Bundeswehr ist, bei aller humanitärer Rhetorik, auch weiterhin eine Armee, und ihre Aufgabe ist es, die politischen und wirtschaftlichen Interessen des deutschen Staates zu wahren und zu verteidigen.

Andere Kommentatoren empörten sich weniger über eventuelle Defizite der Bundeswehr bei der Heranbildung ihrer Zöglinge. Für sie war der Vorfall von Hammelburg ein willkommener Anlass, die gesellschaftlichen Zustände zu beklagen, alte Vorurteile mit neuem Leben anzufüllen und ihrem gesellschaftlichen Überdruss freien Lauf zu lassen.

Die TAZ wärmte „die alte feministische These [auf], dass sich im Militär beispielhaft Gewalt und Männlichkeit verschränken“. Die Kommentatorin drehte gedanklich das Video selbst weiter und kam zu dem Schluss: „Wo Männer sich unterwerfen, gehört Gewalt gegen Frauen notwendig dazu. Das weiß jede, die schon einmal mit Soldaten einen Eisenbahnwaggon teilen musste“ (7.7.97, S.1).

In der FAZ wiederum beschrieb Ulrich Rauff die wahren und bisher verkannten Gefahren des Videofilms und erkannte Indizien dafür, dass die Rekruten gewissermaßen hirnlos und von der Kamera ferngesteuert agierten: „Die Kamera, man spürt es, möchte selbst Waffe sein, Schlagstock oder Maschinenpistole und nicht mehr gläsernes Auge… Hat sie das grausame Spiel erst angestoßen? Viel spricht dafür, dass es so war, weil viel dagegen spricht, dass sich die Akteure auch ohne laufende Kamera derart benommen hätten“ (9.7.97).

Am weitesten vom eigentlichen Geschehen entfernte sich Klaus Kreimeier in seinem TAZ-Kommentar „Sau im Kopf – wenn die Bundeswehr Videos dreht“. Für ihn sind weder Medien noch Männlichkeit noch Maschinen interessant. Sein Augenmerk gilt einzig dem Betrachter der Videos – er ist der eigentliche Schuldige: „Der wirklungsvollste Gewaltakt spielt sich im Kopf des Zuschauers und nicht auf dem Bildschirm ab.“ Er stilisierte den geschmacklosen Film einiger exzentrischer Jungsoldaten zum Beweis für die moralische Verdorbenheit einer ganzen Gesellschaft: „… nicht die Mordbuben auf dem Bildschirm und auch nicht die Programmchefs von RTL und Pro7, sondern die Zuschauer, also wir selbst, [sind] die wirklichen Gewalttäter…“ (23.7.97).

Diese Beispiele stehen exemplarisch für den Charakter dieser Debatte: Nicht die Bundeswehr ist heute der Stein des Anstoßes – es sind die einzelnen Soldaten, und damit letztlich alle Menschen, von denen angenommen wird, dass sie sich ebenso verhalten könnten. Dieses Muster lässt sich aber nicht nur bei der Bundeswehr-Diskussion entdecken: Der gesellschaftliche Rahmen und die soziale Ursachen für Missstände werden heute bei der Bewertung zahlreicher Ereignisse außer acht gelassen. Statt dessen werden Randerscheinungen und Individuen in den Mittelpunkt gerückt; sie werden verallgemeinert, der Gesellschaft übergestülpt und als Beweis ihrer Schlechtigkeit angeführt.

* Dank für Hilfe bei der Recherche an Maria Winkler.

 

 

Novo 30, September/Oktober 1997