Grand Prix: Ein „bisschen“ Frieden geht halt nicht!

Vor 25 Jahren war die Welt noch in Ordnung. Nicole gewann den Grand Prix Eurovision de la Chanson. „Ein bisschen Frieden“ hieß das Liedchen, mit dem ein kleines bis dato weithin unbekanntes Mädchen die Herzen des europäischen Grand-Prix-Publikums eroberte. Damals war so etwas noch möglich: Der Ostblock war intakt und – bis auf Jugoslawien – außen vor, die westliche Schlagerwelt war unter sich, und Nestbeschmutzer wie Stefan Raab oder Guildo Horn, die Ralph Siegel und Konsorten ans Leder wollten, erfreuten sich noch keiner Sendezeiten und hätten auch nicht gewählt werden können, da damals noch nicht per Telefon abgestimmt, sondern die Entscheidung von einer Jury getroffen wurde.

„Ein bisschen Frieden“ – ob Nicole damals bewusst war, wie wichtig das Wörtchen „bisschen“ in diesem Text werden würde? Wahrscheinlich nicht. Wie hätte sie auch ahnen können, dass im Jahre 2007 nicht nur ganz Osteuropa, sondern auch halb Asien sich aufmachen würde, dem Westen die Deutungshoheit dessen, was „guter Geschmack“ ist, so eindrucksvoll zu entreißen und acht der ersten zehn Plätze zu belegen?! Wie hätte sie zudem davon ausgehen können, dass auch innerhalb des Westens die Vorstellung davon, welche Musik es wert sei, die eigene Nation zu repräsentieren, parallel zum Nationalgefühl an jeglicher inhaltlichen Bodenhaftung verlieren würde? Das hat die 17-jährige Nicole nicht gewusst – und bestimmt auch nicht gewollt! Das einzige, was sie wollte, war „ein bisschen“ Frieden, nicht offenen Grenzen, und auch keine (vom Westen vorangetriebene) osteuropäische Kleinstaaterei, die den großen Schlagernationen kurzerhand das Heft aus der Hand nimmt. Ihr Lied schwamm auf der Welle des Unbehagens angesichts des Nato-Doppelbeschlusses, der Friedensbewegung und des Falklandkrieges. Eine slawische Schlager-Schwemme sollte daraus nicht werden. Der Ralph-Siegel-Song war nicht als Aufforderung gedacht, die altgedienten Barrieren der heilen Welt einzureißen, weder im Inneren, noch nach außen, im Gegenteil: Es war nur ein Traum eines kleinen naiven Mädchens.

Entsprechend wütend gibt sich Nicole heute darüber, dass man sie so falsch beim Wort genommen hat. Nicht nur, dass die Osteuropäer heute allein schon hinsichtlich der Anzahl der teilnehmenden Staaten den Eurovision Song Contest dominieren – sie setzen auch Guildo Horns Zeile aus seinem Grand-Prix-Song von 1998 in die Tat um und haben sich alle so dolle lieb, dass sie sich gegenseitig die Stimmen zuschustern. Das ist in jedem Falle eine herbe Kritik wert, dachte sich Nicole und beschwerte sich über das Stimmverhalten der Osteuropäer, die unter sich blieben und das paneuropäische Treiben somit gegen alle Regeln des guten Geschmacks unterwandern. Das Grand-Prix-Nachschlagewerk von Jan Feddersen trägt den für viele heute fast schon unheilvoll klingenden Titel „Ein Lied kann eine Brücke sein“. Trägt auch er Mitschuld an der modernen Entwicklung, dass nach der Fußball-Europameisterschaft, die 2012 in Polen und der Ukraine stattfindet, nun auch der gute Geschmack von postkommunistischen und mit einem Übermaß an nachbarschaftlicher Brüderlichkeit ausgestatteten Gesellschaften geprägt wird. Nein, denn ebenso wie Nicole nur von ein „bisschen“ Frieden sang, ging Feddersen davon aus, dass es mit einer Brücke (über den ansonsten aber seine Funktion erfüllenden eisernen Vorhang) getan wäre.

Wer sind dann aber die Schuldigen für das westliche Schlagerdilemma? Die Ursachen liegen jedenfalls deutlich tiefer, als dass sie mit einem kulturellen „Kalten Krieg im Wohnzimmer“ auszumerzen wären. Auch der Vorschlag, künftig beim Grand Prix zwei Qualifikationsstaffeln einzuführen und damit die gute alte europäische Trennung in Ost und West wieder einzuführen, wie es Ralph Siegel fordert, wird das „Problem“ nicht aus der Welt schaffen. Zwar hätte auch dies nicht den Sieg der (ausgerechnet!) serbischen Sängerin Marija Serifovic verhindert, denn wie der Tagesspiegel nachrechnete, hätte Serbien auch ohne Osteuropa den Contest gewonnen. Zudem müsste sich gerade Siegel nur zu gut daran erinnern können, dass es keiner Osteuropäer bedarf, um ihn lächerlich zu machen. Es sei denn, man nähme die Aufteilung in Ost und West nicht nur in geografischer, sondern in geschmacklicher Hinsicht vor und lagerte die Vertreter der deutschen Spaßgesellschaft und des Sittenverfalls wie Stefan Raab (Alf Igel), Guildo Horn, oder aber israelische Transsexuelle und finnische Gruselrocker wie Lordi kurzerhand in die Oststaffel aus.

Wenn der diesjährige deutsche Vertreter Roger Cicero seinen Nachfolgern den Tipp gibt, künftig „serbisch zu singen“, so mag dies der Kommentar eines frustrierten Künstlers und zudem schlechten Verlierers gewesen sein. Aber er ist auch symptomatisch: Im Westen weiß man weder, wie noch was und in welcher Sprache man sich künftig äußern sollte, um gehört zu werden. Zieht man eine zugegebenermaßen gewagte Parallele zur Politik auf europäischer Ebene, so lässt sich ein ähnliches Phänomen beobachten. Auch hier herrscht Sprachlosigkeit in einer uneinigen Gemeinschaft, die weder weiß, wofür sie steht, noch, wer eigentlich zu ihr gehört und wo ihre Grenzen liegen. Und auch hier hat man den Eindruck, dass es gerade die Osteuropäer sind, die sich dem Europagedanken verpflichtet fühlen, während er im Westen nur noch rudimentär vorhanden ist und eher ein Synonym für eine „neue Gefahr aus dem Osten“ darstellt – unabhängig davon, ob diese nun in Form von Billigarbeitern oder Schlagersängern daherkommt. Insofern ist es eigentlich nur konsequent, dass der Grand Prix eine osteuropäische Angelegenheit geworden ist. Der Westen – zero points!

Ein schlechter Wolfo-Witz

Nun ist es also raus. Paul Wolfowitz, seiner Zeit neokonservativer Theoretiker des Irakkrieges, der sich seit 2005 in ebenso fortschrittlicher Manier als Präsident der Weltbank um das Wohl der Armen und Schwachen dieser Welt kümmerte, muss seinen Hut nehmen, weil er sich um eine Arme und Schwache kümmerte.

 

Naja, ganz so war es nicht. Seiner Lebensgefährtin Shaha Riza, zuvor ebenfalls bei der Weltbank angestellt, verhalf er als frisch gebackener Weltbankpräsident zu einem gut dotierten neuen Job in der US-Regierung. Zu einem ziemlich gut dotierten: Sie soll mehr verdient haben als US-Außenministerin Condoleeza Rice. Chapeau!

Einen solchen Deal überhaupt einfädeln zu wollen, erfordert Mut. Dass ihm das tatsächlich auch gelang, ist aber weder ihm noch seiner Freundin zuzuschreiben. Angenommen, Angela Merkels Redenschreiber würde mehr verdienen als Merkel selbst, wäre ihm das nicht vorzuwerfen. Eher sollte man Frau Merkel in diesem Falle die Frage stellen, ob sie ihren Laden im Griff hat. Anstatt zu fragen „Was erlauben Paule und Riza?“ sollte eher gefragt werden „Was erlauben Rice?“

Der Haken an der Geschichte: Paul Wolfowitz hatte sich bei der Übernahme des höchsten Postens bei der Weltbank der Aufgabe verschrieben, den Kampf gegen Korruption zu forcieren. Im Rahmen dieser Mission hatte er sich nicht gescheut, Staaten als Bestrafung für deren Korruptheit Weltbankkredite zu sperren. Da kommen natürlich derlei Ablösegeschäfte mit Geliebten nicht besonders gut an.

Es besteht kein Anlass, dem früheren Pentagon-Falken auch nur eine Träne nachzuweinen. Ein Grund zum Frohlocken, wie es seine politischen Gegner nun tun, besteht jedoch ebenfalls nicht. Denn wenn die Affäre um Wolfowitz eines zeigt, dann, dass es mehr und mehr außer Mode kommt, politische Gegner mit politischen Mitteln zu demontieren bzw. demontieren zu wollen. Viel lieber macht man sich daran, so lange Dreck aufzuwühlen, bis irgend etwas hängen bleibt. Anders formuliert: Welche Politik jemand betreibt, ist offensichtlich unwichtig – Hauptsache, man bleibt sauber!

Das hat sich wohl auch der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler gedacht, als er letzte Woche der Anti-Globalisierungs-Organisation Attac beitrat. So bringt sich ein Politrentner ins Gespräch. Da er aber sowohl die Linkspartei als auch Greenpeace offensichtlich für nicht geeignet hielt, suchte er sich eben ein Sammelbecken aus, das jedem Aquariumbesitzer aufgrund der kannibalischen Bestückung den Angstschweiß auf die Stirn treiben würde. Aber solange Heiner sich während des G8-Gipfels nicht beim Einreißen von Sicherheitszäunen erwischen lässt und „sauber“ bleibt, geht das in Ordnung. (Wenngleich sich natürlich die Attac-Fürsten spätestens jetzt ernsthafte Gedanken darüber machen sollten, ob nicht langsam der Zeitpunkt gekommen ist, an dem die inhaltliche „Vielfalt“ in vielfältige Einfalt umgeschlagen ist.)

Politische Inhalte verlieren in einem solchen Klima immer mehr an Bedeutung. Dies ist die Kehrseite der allgemeinen Anti-Korruptionspolitik: Sie reduziert politische Debatten auf die Suche nach persönlichem Fehlverhalten. Zudem fährt sie kritischen Journalismus auf ein antipolitisches Paparazziniveau herunter und fördert somit die Zunahme der Politikverdrossenheit.

Es hätte hinreichend gute politische Gründe dafür gegeben, Wolfowitz von den Schalthebeln der Macht fernzuhalten. Dass er jemandem zu einer glorreichen Karriere verholfen haben soll, ist hingegen der schlechteste von allen.

Aprilscherz und Sommerloch vor der Ausrottung!

Es wird immer schwieriger, jemanden mithilfe einer verfälschten oder erfundenen politischen Nachricht ordentlich in den April zu schicken.

Dass dies so ist, hat zwei eng miteinander in Verbindung stehende Gründe: Zum einen kann man erfundene Nachrichten kaum mehr von realen unterscheiden. Dass eine deutsche Familienrichterin Suren des Korans als Grundlage für ein eine deutsche Staatsbürgerin marokkanischer Herkunft betreffendes Familienrechtsurteil heranzieht, wäre früher evtl. als Aprilscherz durchgegangen, wahrscheinlich sogar als ein relativ guter. Dass ein deutscher Ex-Terrorist beim Bundespräsidenten ein Gnadengesuch einreicht und eine Ex-Terroristin keine „Mörderin“ mehr sein, sich auch nicht als solche bezeichnen lassen will und zudem droht, dies mithilfe des „Schweinesystems“ gerichtlich durchzusetzen, grenzt ebenfalls an scherzhafte Absurdität. Ebenso übrigens aber auch die öffentliche Debatte darüber, ob und wie sich jemand Gnade „verdienen“ könne, so wie in der Talksendung „Maybrit Illner“ geschehen.

Dass Gnade als die „schöne Schwester der Willkür“ gerade darauf basiert, dass sie trotzdem und gerade demjenigen gewährt wird, der vor der Macht des sie Gewährenden zu Kreuze kriecht und mit seinem Betteln die eigene Unterlegenheit und der eigene Niederlage eingesteht, ging im Eifer der „ernsthaften“ Debatte vollständig unter. Dass sich in der selben Runde obendrein Hessens Ministerpräsident Roland Koch allen Ernstes darüber echauffierte, dass der Intendant des Berliner Ensembles, Claus Peymann, es wagte, den Bundespräsidenten beim Nachnamen („der Köhler“) zu nennen, belegte ein weiteres Mal, wie ernstzunehmend die Bedrohung, der sich der Aprilscherz ausgesetzt sieht, tatsächlich ist.

Zum anderen ist es aber auch so, dass es aufgrund der um sich greifenden Absurdität politischer Ereignisse immer schwerer fällt, Nachrichten überhaupt noch Glauben zu schenken – oder eben auch nicht. Der Aprilscherz verpufft, wenn alles der Lächerlichkeit preisgegeben wird und gleichzeitig jede Lächerlichkeit unterschiedslos ernsthaft aufgearbeitet wird. Es ist auffällig, dass mit der Zunahme der Lächerlichkeit die Ernsthaftigkeit, mit der das Lächerliche diskutiert wird, ins Unermessliche steigt. Selbst wenn es also gelingt, etwas als tatsächlich „lächerlich“ zu erkennen, verbietet es das von globaler humaner Kollektivschuldigkeit getriebene Menschengewissen, die entstellende Fratze des Lächelns auch nur anzudeuten.

Mit einer ähnlich düsteren Zukunftsperspektive haben neben dem Aprilscherz auch andere Phänomene zu kämpfen, das „Sommerloch“ etwa. Als „Sommerloch“ wurde früher die Zeit genannt, in der sich politisch wenig regte, da die Granden in Urlaub weilten, was in der Regel politische Hinterbänkler auf den Plan rief, um mit mehr oder minder sinnvollen und zumeist spektakulären Aussagen für sich die Werbetrommel zu rühren. In den Zeitungsredaktionen griff man diese Statements nur zu gerne auf, was zum Schlüpfen zahlreicher „Enten“ führte. Doch auch dies geschieht in dieser Form kaum noch, oder eher: Dem Zeitungsleser drängt sich der Verdacht auf, als habe das Sommerloch seine jahreszeitliche Bindung vollends eingebüßt und sich mittlerweile auf das ganz Jahr ausgeweitet.

Man könnte aber auch anders herum argumentieren: Ein Loch beschreibt eine begrenzte Fläche, deren Grund deutlich niedriger liegt als die sie umgebenden Fläche, das „Normale“ ist mithin auf einem deutlich höheren Niveau, wodurch überhaupt erst ein „Loch“ möglich wird. Wenn dieses „deutlich höhere Niveau“ jedoch nicht existiert, steht es schlecht um die Existenz von Löchern. Dem Sommerloch geht es also an den Kragen – nicht nur wegen des Klimawandels, sondern auch wegen des Verlustes der Fähigkeit von Politikern, sich nicht wie Hinterbänkler aufzuführen.

Was bleibt ohne Aprilscherz und Sommerloch? Eine eingeebnete und zugleich bodenlose Monokultur, die zwischen ernstgenommener Lächerlichkeit und lächerlicher Ernsthaftigkeit, aber insgesamt weit unter Normal Null, changiert, und zwar so sanft, dass wir nicht geweckt werden. An nasse Füße müssen wir uns gewöhnen. Schlafen Sie gut.

Politik frisst Fußball frisst Politik

Der französische Staat hat nach den Ausschreitungen in den Pariser Vororten im Herbst 2005 kurzerhand die Straßen der betroffenen Banlieues auf unbestimmte Zeit für den Verkehr geschlossen. Damit erhofft man sich, der Gewalt ein Ende zu bereiten. Stimmt nicht, sagen Sie? Sie haben Recht. Wäre auch absurd und das Pferd von hinten aufgezäumt. Aber genau so reagierte Italien auf die jüngsten Ausschreitungen im Umfeld des Serie A-Spiels zwischen den beiden sizilianischen Fußballklubs Catania Calcio und US Palermo Anfang Februar, bei denen ein Polizist zu Tode kam.

(Erschienen in Novo87, März/April 2007)

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„Nach der WM ist vor dem ?“

Das Spektakel ist vorbei. Der Tross ist weiter gezogen. Die Fifa hat die exterritorialen Gebiete, die sie „Fifa WM 2006-Stadien nannte“, aufgegeben. Deutschland hat überzeugt: als fahnenschwenkende Partynation sowie fußballerisch – was doch viele überrascht haben dürfte. Übermannt von dieser verzweifelt herbeigesehnten Überraschtheit, von diesem so sehr erwünschten Ausnahmezustand fielen sich wildfremde Menschen um die Hälse, bei hochsommerlichen Temperaturen flossen Kaltgetränke, alkoholhaltig und -frei in wildem Durcheinander, in Strömen.

Die gesamte Öffentlichkeit – und mit ihr Wirtschaft und Politik – hatte sich an den WM-Zug geklammert, um auf diesem Wege ein Gefühl von Aufregung, Bewegung, Dynamik oder einfach nur ein bisschen Fahrtwind zu erhaschen bzw. um in seinem Windschatten allerhand politische Entscheidungen durchzudrücken, die nicht viel öffentliches Interesse vertragen. Auch die Aufwärmphase vor dem Turnier hatten die Politik bestimmt geprägt: Hoffnung sollten wir alle aus dem nun kurz bevorstehenden Großereignis ziehen: Zehntausende Arbeitslose sollten auf neue Jobs, Unternehmen auf rasante Umsatzsteigerungen, Geldanleger auf Gewinne aus WM-Finanzprodukten, das Bruttoinlandsprodukt auf ein halbprozentiges Wachstum, die Umwelt auf ein klimaneutrales Turnier und die ganze Nation auf einen Entwicklungsschub hoffen. Ein Befreiungsschlag sollte durchs Land gehen und die gedrückte Stimmung vertreiben, die auf ihm lastete. Und damit dieser auch gelingen möge, wurde in nahezu allen Bereichen des Lebens und nicht selten auch überaus krampfhaft ein Fußballbezug hergestellt und auf Fußballterminologie zurückgegriffen.

Nun gähnt vor der Nation ein tiefes Emotionsloch. Gewiss, die fußballerische Freude über das gute Abschneiden der Klinsmänner wird noch einige Zeit anhalten. Aber diese Weltmeisterschaft war mehr als ein Kräftemessen auf dem Rasen. Sie gab den Menschen ein Ziel. Es schien, als hatte sich das Land mit Haut und Haaren diesem Event verschrieben und versucht, nicht nur eine WM aus-, sondern sich selbst an ihr aufzurichten. Dies gelang – zumindest auf Zeit. Deutschland einig Jubelland – weil der deutsche Alltag ansonsten wenig Anlass bietet, sich in den Armen zu liegen; es fehlt die Vision, die die Menschen zusammenbringt. Die Grills können nun auskühlen, wir auch? Wie haben die Deutschen eigentlich das Ende „ihrer“ letzten Weltmeisterschaft im Sommer 1974 überlebt?

Ein Blick in die Fußballgeschichtsbücher schafft Klarheit. Einer der interessantesten Unterschiede zwischen 1974 und 2006 betrifft die politische und gesellschaftliche Relevanz der Turniere. „Ebenso unterkühlt wie die Fangemeinde nahmen die Volksvertreter den Titelgewinn als pure Selbstverständlichkeit hin“, so beschreiben Ludger Schulze und Thomas Kistner in ihrem Buch Die Spielmacher die Stimmung während und nach der WM 1974. Helmut Schmidt, wenige Monate zuvor ins Kanzleramt befördert, war nicht nur ein ausdrücklicher Nicht-Fußballfan; ganz offensichtlich erschien ihm auch die schon damals nicht unerhebliche Wärme der Scheinwerfer als nicht wichtig genug, um über den eigenen Schatten zu springen und sich in den Fußballtaumel zu begeben. Die Begeisterung war aber auch insgesamt nicht so groß. Das 74er-Turnier ging als ein über weite Strecken emotionsarmes in die Geschichte ein und nahm erst an Fahrt auf, als die deutsche Mannschaft dies auch tat. In Karl-Heinz Hubas Fußball-Weltgeschichte wird die damalige Stimmung wie folgt beschrieben: „Es war eine Weltmeisterschaft, die vom Millionen-Publikum am Anfang nur aus großer Distanz genossen wurde. Keineswegs ‚wie ein Mann‘ standen die Bundesdeutschen hinter ihrem Team, und der Jubel für ihre eigene und die anderen Mannschaften hielt sich in Grenzen.“

Mit Sicherheit waren die noch sehr frischen Erinnerungen an das Attentat auf die israelische Mannschaft während der Olympischen Spiele von 1972 in München ein Grund für den gedämpften Enthusiasmus. Entscheidender waren jedoch die gesamtgesellschaftlichen Umstände, in denen das Turnier stattfand. Zwar war auch 1974 die wirtschaftliche Lage in Deutschland nicht gerade berauschend. Die Weltwirtschaft befand sich nach der Ölkrise von 1973 in einer Rezession, und das deutsche „Vollbeschäftigungs-Paradies“ sah sich erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg mit dem Phänomen wachsender Arbeitslosigkeit konfrontiert (von 1973 bis 1975 vervierfachte sich die Zahl der Arbeitslosen in der Bundesrepublik von 273.000 auf über 1 Mio.; die Quote stieg von 1,2 auf 4,7 Prozent). Dennoch galt die Weltmeisterschaft nicht als Katalysator für gesellschaftliche und wirtschaftliche Problemlösungen. Die Krisenerfahrung war zwar für viele Menschen einschneidend, führte aber aufgrund der noch deutlich stärkeren Relevanz von Politik, politischen Programmen und wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Visionen nicht zu einer so perspektivlosen Stimmung, wie sie heute vorherrscht. Während die WM 2006 als Lokomotive für den gesamtgesellschaftlichen Aufschwung herbeigesehnt und ihre Rolle dementsprechend überhöht wurde, galt die WM 1974 den Menschen bestenfalls als angenehme Abwechslung in einem regnerischen Sommer.

Auch die Politik war damals noch wesentlich visionärer und mit weitaus mehr Tiefgang und Orientierungskraft ausgestattet, als man dies heute behaupten kann. Politiker vertrauten noch stärker darauf, die Menschen über politische Weichenstellungen und Konzepte erreichen zu können. Man musste sich dazu nicht als Fußballfan verkleiden. Oder, wie Ludger Schulze und Thomas Kistner es plastisch auf den Punkt bringen: „Deutschland benötigte in jenen Jahren keinen Fußballtriumph, um sich selbst zu finden, die Industrienation gehörte zu den Lokomotiven der Weltökonomie.“
Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wurde hingegen als ein Ereignis angegangen, über das wir „zu uns selbst finden“, uns an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen und neu erfinden sollten. Kampagnen wie „Land der Ideen“, „Du bist Deutschland!“ sowie zahlreiche weitere staatliche Initiativen – fast jedes Ministerium hatte seine eigene WM-Kampagne – sollten der Gesellschaft Zuversicht, Sinn, Orientierung und Optimismus zurückgeben, die sie im Alltag und aus der ihr prognostizierten Zukunft nicht zu ziehen imstande ist. Man fühlte sich wie in einem gottverlassenen mittelalterlichen Dorf, das sich wochenlang herausputzt und eine grundlegende Verbesserung seiner Situation erhofft, nur, weil der König einen kurzen Abstecher dorthin macht. Deutschland putzte sich heraus, denn „König Fußball“ ist zu Gast. Wie stünde es um unsere Zukunft, wenn sich die FIFA dazu entschieden hätte, die WM 2006 nach Südafrika zu vergeben? Und: Gibt es eigentlich Perspektiven für die Zeit „danach“, oder sollen wir ab sofort in Erinnerungen schwelgen?

Ganz grundlegend stellt sich auch die Frage, ob ein Großereignis wie eine Fußball-Weltmeisterschaft überhaupt die politische wie wirtschaftliche Situation eines Landes nachhaltig verbessern kann? Einige Zahlen und Fakten deuten zunächst darauf hin. So konnte sich Südkorea im Zuge der gemeinschaftlich mit Japan ausgerichteten Weltmeisterschaft von 2002 über direkte wirtschaftliche Wachstumseffekte von mehr als 3,4 Mrd. Euro freuen. Für Deutschland wurden Effekte in einer ähnlichen Größenordnung erwartet. Der Unterschied zwischen beiden Ländern ist jedoch, dass Südkorea insgesamt ein sich äußerst dynamisch entwickelndes Land ist und auch in den Jahren vor und nach dem Turnier Wirtschaftswachstumsraten zwischen 3 und 4,5 Prozent realisieren konnte – Zahlen, von denen Deutschland lange zu träumen aufgehört hat. Während also die WM 2002 der ohnehin dynamischen südkoreanischen Wirtschaft lediglich zusätzliche Impulse bescherte, erhofften sich deutsche Politiker, dass der Aufschwung durch die WM 2006 überhaupt erst richtig in Gang kommen möge – eine Hoffnung, für die es wenig Anlass gab und gibt.

Auch der WM-Sieg 1974 löste keinen Klimawechsel aus. Selbst die Begeisterung über den neuerlichen WM-Erfolg von 1990 war flankiert von weitaus größeren politischen Veränderungen: Die Wiedervereinigung war in trockenen Tüchern und mobilisierte nicht nur bei Franz Beckenbauer, der auf Jahre fußballdeutsche Unbesiegbarkeit voraussagte, (sport-)patriotischen Größenwahn. Sogar das viel zitierte „Wunder von Bern“ von 1954 liefert keinen Grund zur Hoffnung auf eine Neuauflage im Jahr 2006. In der Tat hatte der überraschende Sieg der deutschen Mannschaft gegen Ungarn eine hohe gesellschaftliche Bedeutung. Die Gründe hierfür lagen aber erneut „neben dem Platz“: Neun Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges konnte die noch junge Bundesrepublik durch den Sieg im Finale von Bern erstmals auf internationaler Bühne positive Schlagzeilen liefern. Zudem fiel diese sportliche Sensation in die Zeit des „Wirtschaftswunders“, in der sich die deutsche Gesellschaft nach Jahren der Armut dynamisch entwickelte, die Menschen wieder mit Optimismus in die Zukunft schauten und die Hoffnung auf Verbesserungen durchaus berechtigt war. In diesem Klima wurden Fritz Walter & Co. – ohne das Zutun der Politik, die in Bern überhaupt nicht vertreten war – tatsächlich zu Symbolen des Aufbruchs; ausgelöst haben sie ihn hingegen nicht. Auch Klinsmann & Co. wird dies nicht gelingen.

Die Überfrachtung der Weltmeisterschaft mit Hoffnungen und Erwartungen (und Reglementierungen), die nichts mit Fußball zu tun haben, sorgte für viel Unmut unter Fußballfans. Sie ist zutiefst problematisch: einerseits für die Gesellschaft, die an ein Event überzogene und unerfüllbare Erwartungen knüpft und im Anschluss ohne Perspektiven dasteht; andererseits aber auch für den Fußball, der mit immer mehr sozialen Aufgaben überhäuft wird und aufhört, einfach nur Fußball zu sein. Fußballer müssen heute stromlinienförmige Aushängeschilder und Botschafter sein. Geradezu erfrischend wirkt da die Erinnerung an 1974, als man sich mit Paul Breitner einen Ex-Maoisten im Nationaltrikot leistete. Eine derartige Ansammlung genialer Freaks, wie sie die Weltmeisterelf von ’74 darstellte, wäre im heutigen staatstragenden Fußball undenkbar. Dabei war es nicht so, dass sich Fußballfunktionäre gegen diese ungesunde Aufwertung zu Wehr setzen würden, im Gegenteil, sie sonnten sich in der Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde. Für all diejenigen, denen sowohl gesellschaftlicher Fortschritt als auch der Fußball am Herzen liegt, ist die Lage vertrackt: Denn damit die Gesellschaft wirklich vorankommt, muss sie aufhören, in unterhaltsamen Nebensächlichkeiten wie Fußball – man möge mir verzeihen – ein Substitut für wirkliche Veränderungen und Visionen zu sehen. Mein Vorschlag für eine Losung lautet: „Köpft König Fußball!“
Erschienen in Der tödliche Pass, Juli 2006

Matthias Heitmann