Sportliche Leistungsgrenze erreicht? Von wegen!

„Der absolute Weltrekord im 100-Meter-Sprint wird sich bei 9,48 Sekunden einpendeln.“ Das schließt der US-amerikanische Forscher Marc Danny von der Stanford University aus Berechnungen, die auf den Daten der Bestzeiten von Sportveranstaltungen des vergangenen Jahrhunderts basieren. Während die Frauen bereits seit den 70er-Jahren nah am Geschwindigkeitslimit lägen, hätten Männer die Stagnationsgrenze noch nicht ganz erreicht. Geringe Steigerungen seien noch möglich: Männliche Sprinter könnten die Ziellinie 0,21 Sekunden früher erreichen als der aktuelle Weltrekordhalter Usain Bolt. Bei weiblichen Läuferinnen betrage das Verbesserungspotenzial des aktuellen Rekords sogar 0,4 Sekunden.
Dass die Menschheit am Ende der Fahnenstange angekommen sei, hören wir seit Jahrzehnten. Seien es die düsteren Weltuntergangsprognosen des Club of Rome, Hochrechnungen bzgl. der maximal ernährbaren Weltbevölkerung, die pessimistischen Annahmen bzgl. des Marktes für PCs oder der eigentlich seit zehn Jahren abgestorbene deutsche Wald – immer wieder wurden „wissenschaftliche“ Berechnungen der Grenze dessen, was möglich sei, von der Realität überrumpelt.

Die Berechnungen von Marc Danny bezüglich der maximal erreichbaren Laufgeschwindigkeit wird ein ähnliches Schicksal ereilen. Seine statistischen Prognosen mögen auf Basis seiner Daten durchaus schlüssig sein. Nur hat er eines dabei außer Acht gelassen: Die Menschen, die sich in 20 Jahren anschicken, Weltrekorde zu brechen, werden über eine völlig andere körperliche Konstitution verfügen, auf neue, hoch technisierte Trainingsmethoden zurückgreifen und gänzlich anderes Equipment verwenden – was die Aussagekraft von Dannys Berechnungen enorm schmälert. Wie Bernd Muggenthaler in Novo97 schrieb, würde der sensationelle Weltrekord über die 100-Meter-Freistil von Jonny Weissmüller aus dem Jahr 1922 heute nicht einmal mehr ausreichen, um die Kreismeisterschaft bei den – wohlgemerkt: „ungedopten“! – Unter-17-Jährigen zu gewinnen.

Fast immer, wenn Prognostiker das Ende irgendeiner Fahnenstange in Sichtweite glauben, beruht dies nicht auf Rechenfehlern, sondern darauf, dass sie den Mensch als ein stagnierendes, nicht entwicklungsfähiges Wesen ansehen. Dieser Determinismus mag heuer in Mode sein, seine Halbwertszeit erhöht sich dadurch zum Glück aber nicht.

Erschienen in Novo98 (1-2 2009), www.novo-argumente.com

Hopp Hopp Hopp! Regulierung Stopp!

Nick Hornby beschrieb in seinem Roman „Fever Pitch – Ballfieber“ seinen ersten Besuch eines Fußballstadions und die Tatsache, dass Erwachsene dort „das Wort ‚WICHSER‘, so laut sie wollten, schreien konnten, ohne die geringste Aufmerksamkeit zu erregen“. Wer sich diese Freiheit nimmt, dem droht künftig die rote Karte – zumindest, wenn es nach dem Willen des Mäzens des Bundesliga-Neulings TSG 1899 Hoffenheim, Dietmar Hopp geht. Ein 19-jähriger Anhänger von Borussia Dortmund hatte während des 4:1-Heimsiegs des Aufsteigers gegen den BVB Hopps Konterfei mit der Aufschrift „Im Fadenkreuz. Hasta la vista, Hopp.“ hoch gehalten. Ihm droht nun eine Anklage von Hopp wegen Beleidigung.

Als arg dünnhäutig und wenig souverän könnte man die Reaktion des SAP-Gründers abtun und zum Alltag übergehen. Doch die Reaktion von BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke sowie großer Teile der deutschen Fußball-Öffentlichkeit lässt erahnen, dass diese Lappalie den Startschuss für eine weit gehende Reglementierung dessen darstellt, was man künftig auf den Rängen von sich zu geben berechtigt ist: „Wir werden alles daran setzen, dass Leute, die unter dem Deckmantel von BVB-Fans aus der Rolle fallen, nicht länger den Ruf des BVB beschädigen“, kündigte der BVB in einer Pressemitteilung an und behielt sich das Recht vor, künftig Stadionverbote gegen Pöbler zu verhängen.
Wenn dies Schule macht, könnte es bald leer, langweilig und sehr lahm werden in den Fankurven. Im Wettstreit der Fanblocks geht es grundsätzlich darum, gerade das zu verhöhnen, was dem Gegner das Heiligste ist. Und das ist nun einmal per se politisch unkorrekt. Hier gehören wüste Beschimpfungen wie „Hurensohn!“, „Arschloch“ oder noch ausgefeiltere Nettigkeiten wie „Eure Eltern sind Geschwister!“ zum belanglosen Alltag. Diese schöne alte Tradition gerät immer stärker in Konflikt mit der um sich greifenden „Beleidige-niemanden!-Kultur“, in der die einzig geduldete Emotion die des stummen Verharrens während einer der immer zahlreicher werdenden Schweigeminuten ist. In den 80er-Jahren wurde der Fußball das Testfeld für neue Technologien zur Kontrolle der Massen; heute ist er die Arena, in der neue Formen moralischer Regulation erprobt werden. Wie lang wird es dauern, bis Stadionbesucher auf ihrem Platz einen offiziellen Liederzettel vorfinden?

Erschienen in NovoArgumente, November 2008.

Antidoping ist ungesund – für die Grundrechte!

Lars Riedel, fünfmaliger Diskusweltmeister und Olympiasieger von 1996, hat die Veröffentlichung seiner Biografie „Meine Welt ist eine Scheibe“ genutzt, um öffentlichkeitswirksam seine Karriere zu beenden. Zugleich beklagte er sich über die Praxis der Dopingkontrollen: „Sich beim Urinieren zuschauen lassen zu müssen, verstößt gegen die Menschenwürde. Der Kopf des oft wildfremden Testers ist tief unten auf der Höhe des Glases, fast eingeklemmt zwischen Urinal und meinem Oberschenkel. Mein Penis wird zum Anschauungsobjekt. Sie haben die Macht, und ich habe mich zu unterwerfen“, schilderte er.

Was in der Öffentlichkeit als „Abrechnung“ diskutiert wurde, war jedoch keine. Vielmehr rechtfertigt Riedel grundsätzlich die Dopingkontrollen und wünscht sich lediglich, „dass künftig ein humaneres Kontrollsystem gefunden wird, in dem vielleicht über Haarproben-Doping nachgewiesen werden kann.“ Dass er an der Sportlerüberwachung lediglich das Zurschaustellenmüssen seines Penis kritisiert, ist bedauerlich.

Positiv ist jedoch, dass Riedel überhaupt Kritik äußert und zudem das Argument, Doping sei ungesund, zerpflückt: „Wenn man behauptet, es gelte durch die Dopingkontrollen die Gesundheit der Sportler zu schützen, müsste man konsequenterweise viel früher anfangen und mit dem gleichen Argument den Spitzensport verbieten. Viele Untersuchungen belegen es eindeutig: Der Spitzensport ist gesundheitsschädlich.“ Chapeau! Noch mutiger wäre es gewesen, er hätte solcherlei bereits während seiner aktiven Zeit geäußert und sich nicht davon abhalten lassen, dass man als aktiver Sportler „von den Funktionären schnell eins drüber “ bekommt.

Dass es Sportler gibt, die dies in Kauf nehmen, bewies jüngst die deutsche Fechterin und Olympiateilnehmerin Imke Duplitzer. In der am 11. Juli im Deutschlandradio Kultur ausgestrahlten Sendung „Titel, Taler und Talente – Kein Gold ohne Doping?“ äußerte sie sich zu der Art und Weise, wie mit Sportlern unter dem Antidoping-Regime umgegangen werde, überaus drastisch: „Jeder Kinderschänder in Deutschland hat mehr Grundrechte und mehr persönlichen Schutz als wir!“ (nachzuhören unter http://www.dradio.de/aod/html/?station=3& ab Minute 38 ) Dass sie sich dennoch für die Beibehaltung des Kontrollsystems aussprach, zeigt die Schizophrenie des Diskurses sowie den moralischen Druck, der auf dem Sport lastet.

Wer heute Leistungssport treiben will, sollte möglichst keine zu enge Bindung zu seinen Grundrechten haben.

Antidoping absurd: Ist „Freiwillige Selbstkontrolle“ im Radsport illegal?

Am Samstag, den 19.6.08 berichtete der Westdeutsche Rundfunk Köln via Pressemitteilung von einem spanischen Labor an der Universidad de Extremadura in Caceres, das Radsport-Profiteams interne Doping-Kontrollen angeboten haben soll. Das Labor habe verschiedenen Radport-Teams angeboten, „durch Urin-Analysen ein komplettes Steroid-Profil der Radfahrer der Profiteams durchzuführen“, hieß es in der Mitteilung. David Howman, der Generalsekretär der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, bezeichnete diese Meldung als „besorgniserregend“. Sportler könnten sich mit den im Labor erzielten Steroid-Profil-Analysen gezielt an Grenzwerte herandopen, positiv getestete Fahrer könnten zudem rechtzeitig vor einer offiziellen Doping-Kontrolle aus dem Rennen genommen werden.

Die Aufregung, die diese Mitteilung auslöste, macht deutlich, wie irrational mittlerweile über Doping diskutiert wird. Denn letztlich bietet das spanische Labor nichts anderes an, als Radsport-Teams dabei zu helfen, sich an eben die Regeln und Grenzwerte zu halten, die die Wada für die Verwendung leistungsfördernder Mittel und Methoden selbst festgelegt hat. Es handelt sich somit um eine Art „Freiwillige Selbstkontrolle“ des Radsports – eigentlich eine Entwicklung, die den Antidopingkriegern gefallen müsste. Dass mittlerweile aber schon das professionelle Überprüfen, ob diese Grenzwerte eingehalten werden, problematisiert und kriminalisiert wird, offenbart, wie weit sich die Dopingdiskussion von der Realität entfernt hat. Und auch vom Dopingbegriff selbst: Als Doping gilt das Anwenden von Medikamenten in einer bestimmten Dosis sowie von Methoden, die die Dopingagenturen in einer Positivliste festgelegt haben. Anders formuliert: Alles, was nicht auf dieser Liste steht oder die dort festgelegten Grenzwerte nicht überschreitet, ist kein Doping und mithin legal.

Als ob diese „Definition“ nicht schon schwammig genug wäre, untergraben Antidoping-Aktivisten mit ihrer Kritik an internen Kontrollen nun sogar diese Festlegung: Die Vorstellung, dass schon derjenige „dope“, der sich an Grenzwerte und Vorgaben halte, widerspricht dem rechtsstaatlichen Grundprinzip der Unschuldsvermutung sowie der Tatsache, dass man gegen Gesetze verstoßen muss, um sich eines Vergehens schuldig zu machen. Das Ausschöpfen von legalen Handlungsspielräumen ist kein Straftatbestand, sondern legal! Im Kampf gegen Doping scheint aber mittlerweile jedes Mittel Recht zu sein, auch, wenn es sich über das Recht hinweg setzt. Es wird Zeit, den wagen und wenig hilfreichen Dopingbegriff über Bord zu werfen und sich sachlich über Vor- und Nachteile leistungssteigernder Medikamente und Methoden auseinander zu setzen.

Wird Tibet Fußball-Europameister?

Während die olympische Flagge auf ihrem globalen Spießrutenlauf wie ein Castor-Transport vor dem Zugriff von Demonstranten geschützt werden muss, rückt – fast schon unbemerkt von der Öffentlichkeit – ein weiteres sportliches Großereignis näher: die Fußball-Europameisterschaft in Österreich und in der Schweiz.

 

Fußballliebhaber sollten den olympischen Fackelträgern eigentlich dankbar dafür sein, dass sie die mediale Aufmerksamkeit so vollständig auf sich ziehen. Nachdem das letzte globale Fußballfest uns bereits Wochen und Monate vor dem ersten Anpfiff den letzten Nerv geraubt und sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel – wenngleich wenig glaubhaft – dazu veranlasst hatte, ihre Fernsehansprache an die Nation in Fußballsprache zu verfassen, herrscht in diesen Tagen eine fast schon unheimliche Windstille im Blätterwald. Das Schöne daran ist: Es geht in der Vor-Berichterstattung zur „Euro 2008“, so sie denn überhaupt existiert, tatsächlich fast ausnahmslos um Fußball – noch!

Zur Erinnerung: Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wurde in Deutschland zu einem Ereignis stilisiert, über das wir „zu uns selbst finden“, uns an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen und neu erfinden sollten. Kampagnen wie „Land der Ideen“, „Du bist Deutschland!“ sowie zahlreiche weitere staatliche Initiativen – fast jedes Ministerium hatte seine eigene WM-Kampagne – sollten der Gesellschaft Zuversicht, Sinn, Orientierung und Optimismus zurückgeben, die sie im Alltag und aus der ihr prognostizierten Zukunft nicht zu ziehen imstande sei. Man fühlte sich zuweilen wie in einem gottverlassenen mittelalterlichen Dorf, das sich wochenlang herausputzt und eine grundlegende Verbesserung seiner Situation erhofft, nur weil „König Fußball“ für vier Wochen Hof hielt.

Dass sich derartiges nun bei der Euro 2008 in Österreich und in der Schweiz wiederholen würde, steht nicht zu erwarten. Sollten jedoch in den nächsten Wochen weitere Inzestfälle in Österreich bekannt werden, erscheinen angesichts der Popularität von öffentlichen Protestkundgebungen und Boykotts auch Demonstrationen von Kinderschutzverbänden gegen die laxen Ermittlungsbehörden der Alpenrepublik als durchaus vorstellbar. Die Europameisterschaft findet in zwei Ländern statt, deren Herzen nicht ansatzweise so stark am Fußball hängen wie das deutsche. Die Österreicher zittern vor der erwarteten Blamage, aber auch die Eidgenossen, denen man mehr zutraut, glauben nicht wirklich daran, weiter als bis ins Viertelfinale des Turniers zu kommen. Angesichts dieser gedämpften Erwartungen überrascht es nicht, dass in den Alpenstaaten kaum jemand mit einem Sommermärchen rechnet. Auch die deutsche Euphorie hält sich wenige Wochen vor Beginn des Turniers in Grenzen.

Das mediale Interesse, insbesondere der Teile der Medienwelt, die mit Sport an und für sich nur wenig am Hut haben, konzentriert sich in diesem Sommer auf andere Sportereignisse. Im Juli werden wir uns anlässlich der Tour de France erneut mit der allgemeinen öffentlichen Aufregung über die „moralische Abgründe“ des Radsports auseinander zu setzen haben. Und pünktlich zu den im August stattfindenden Olympischen Spielen in Peking hat die westliche Öffentlichkeit ihre „Liebe zu Tibet“ wieder entdeckt und bringt sich unter Verwendung allerlei moderner Spielarten der alten Warnungen vor der „gelben Gefahr“ gekonnt in Stellung. Dass sportliche Großereignisse wie die olympischen Spiele als Bühnen für politische Kampagnen herhalten müssen, ist nichts Neues. Neu hingegen ist, dass mittlerweile die Athleten selbst von der Politik ermuntert werden, sich als Protestler zu betätigen und in Peking Protest-T-Shirts zu tragen.

In Zeiten, in denen bekennende Maoisten wie der Fußballer Paul Breitner für Deutschland Titel einheimsten, hätte man derlei wohl kaum erlaubt. Noch im letzten Jahr sah sich der Fußball-Weltverband Fifa genötigt, Profifußballern das Zurschaustellen „politischer, religiöser sowie persönlicher Schriftzüge“ zu verbieten, um Diskriminierungen zu unterbinden. Ob es in Österreich und in der Schweiz Ausnahmen von dieser Regel geben wird und der EM-Titel am Ende gar den Tibetern gewidmet wird? Die Zweckentfremdung des Sports ist mittlerweile soweit gediehen, dass auch dies vorstellbar erscheint. Aber über eines können wir uns sicher sein: Sowohl in Basel als auch in Wien oder in Peking werden nur ganz bestimmte Slogans auf den Trikots erlaubt werden. Und mit Sicherheit werden die „persönlichen“ Message-Shirts zuvor in Mannschaftsstärke verteilt. Shirts, die die politische wie geistliche – mithin totale – Führerschaft des Dalai Lama über die Tibeter als mittelalterlich-archaisch, antiaufklärerisch und undemokratisch problematisieren, werden ganz bestimmt nicht über unsere Bildschirme flimmern.

Angesichts des auf uns wartenden „Sport-Politik-Sommers“ ist die beschauliche Ruhe rund um die Fußball-Europameisterschaft fast schon erfrischend. Genießen wir sie, solange es geht!

Matthias Heitmann