Der Amoklauf eines 17-Jährigen in Winnenden war nur der Anfang: Was folgte, war der Amoklauf einer ganzen Gesellschaft, die sich nicht mehr über den Weg traut und unbewusst die Trauer um die Opfer zum Anlass nimmt, sich selbst zu traumatisieren.
Ein Junge rastet aus, schnappt sich eine Waffe seines Vaters und tut Unvorstellbares. Er reißt nicht nur seine Opfer aus dem Leben, sondern stürzt auch deren Familien und Freunde in menschliche Katastrophen. Ohne offensichtlichen Grund. Die Frage nach dem „Warum“ dieser Tragödie ist menschlich nachvollziehbar. Nicht nachvollziehbar hingegen sind die Versuche, diese Frage zu beantworten, das „Darum“ zu erklären. Nicht nachvollziehbar deshalb, weil diese Erklärungen trotz des allenthalben zum Ausdruck gebrachten persönlichen Mitgefühls gänzlich unpersönlicher Natur sind; weil sie von etwas abstrahieren, von dem man nicht rational abstrahieren kann; weil sie nichts mit dem tatsächlichen Ereignis zu tun haben, sondern es nur aufgreifen, um aus ihm gesellschaftliche und politische Schlussfolgerungen zu ziehen.
Diese Schlussfolgerungen sind nicht neu, sie liegen vorgefertigt und griffbereit in den Schubladen und warten nur darauf, bei einem sich bietenden Anlass geschwind herausgezogen zu werden: Gewalt im Internet, brutale Computerspiele, in Privatwohnungen frei herumliegende Schusswaffen, vernachlässigte Kinder, die sich in Parallelwelten flüchten, das Versagen von Eltern und Lehrern, der Gewalt-Voyeurismus in der Gesellschaft und auf dem Schulhof – das sind die stereotyp wiederkehrenden Themen, die aus einem Amoklauf, aber auch aus einer Kindesvergewaltigung oder einem Kindesmord eine kollektive Depression und aus mehr Härte und Kontrolle fordernden Politikern Retter in höchster Not machen.
Es scheint, als verschanze sich die gesamte Republik unter den Bänken der Winnender Albertville-Realschule. Sicherheit bietet dies freilich nicht, denn zugleich liefern uns die in Baden-Württemberg eingefallenen Journalistenscharen haufenweise Indizien dafür, dass Winnenden überall sein könnte, überall dort nämlich, wo Menschen leben, die (ob legal oder nicht) Waffen besitzen, Computerspiele spielen und im Internet surfen, sich in unserer so komplexen Welt nicht zurecht finden, sich von ihr abkapseln und nicht unter staatlicher Aufsicht stehen. Und „Indizien“ für nicht erklärbare Taten sind schnell konstruiert: So erfuhren wir zum Beispiel, dass der Amokläufer vor wenigen Jahren konfirmiert worden sei und noch kürzlich die Fahrschule besucht, sich dort jedoch nicht als potenzieller Amokläufer geriert habe und eigentlich ein ganz normaler, wenngleich stiller Junge gewesen sei.
Manch einer mag diese Informationen für interessant halten, doch die Frage ist: Was lernen wir daraus? Oder noch anders gefragt: WARUM sollen wir daraus etwas lernen? Welche Schlussfolgerung soll eine medial zur Auseinandersetzung förmlich gezwungene Gesellschaft aus der irrationalen Tat eines Einzelnen schon ziehen, wenn nicht die, dass sie selbst aus lauter Einzelnen besteht, deren Leben auf dem schmalen Grad zwischen Opfer- und Täterdasein wandelt und von einem Moment auf den anderen in den einen oder anderen Abgrund stürzen kann? Was tun mit dieser Schlussfolgerung?
Die Tatsache, dass wir uns offensichtlich veranlasst sehen (und uns veranlassen lassen), uns mit solchen Schlussfolgerungen ernsthaft auseinanderzusetzen, sagt erheblich mehr über unser Gemeinwesen aus als das Ausrasten eines Einzelnen. So reagiert eine Gesellschaft, die sich nur allzugern in ihrem Selbstzweifel bestärken lässt. Eine völlig irrationale Tat liefert keine konstruktiven Lehren, die auf gesamtgesellschaftlicher Ebene gezogen werden könnten. Der Versuch, dies dennoch zu tun, so wie ihn uns Politik und Medien seit einer Woche vorexerzieren, ist ein Amoklauf gegen unser aller Menschlichkeit.
Novo, 18.3.2009