Man könnte es sich leicht machen und die Schweizer des Antiislamismus bezichtigen. Doch dies ginge an der Realität genauso vorbei wie der Vorwurf der Europafeindlichkeit, der gegenüber den Iren nach ihrem Votum gegen den Vertrag von Lissabon erhoben wurde.
(Erschienen auf der Website der Tageszeitung „Die Welt“ am 3.12.2009)
Das Ergebnis des Schweizer Volksentscheids für ein Bauverbot von Minaretten zeigt, dass sich die Eidgenossen „fremd“ im eigenen Land fühlen. Dieses Gefühl der Fremdheit hängt jedoch nicht an vier Minaretten. Die Abstimmung bot nur die Plattform, einem viel grundsätzlicheren Befremden Ausdruck zu verleihen. Dass sich die Befremdensbekundung gegen das naheliegendste „Befremdende“ richtet, verwundert nicht, sollte aber auch nicht von ihrem eigentlichen Ursprung ablenken: der immer weiter anwachsenden Distanz zwischen Eliten und Bevölkerung sowie der daraus resultierenden generellen Unzufriedenheit.
Es ist diese Kluft und die damit einhergehende Verunsicherung, die die Existenz weniger Moscheen und relativ kleiner muslimischer Gemeinden erst als Bedrohung erscheinen lassen. Dass gläubige Moslems durchaus zu wissen scheinen, was sie wollen, ist für große Teile der europäischen Öffentlichkeit, die weder an Gott glaubt noch ihren gewählten irdischen Führern Vertrauen entgegenbringt, nur schwer nachzuvollziehen.
Gleichzeitig unterstreichen die Diskussionen über die Gefahr von Volksentscheiden und die angekündigten internationalen Maßnahmen gegen die Schweiz, wie groß die Distanz zwischen europäischer Politik und Bürgern tatsächlich ist. Noch vor kurzem von deutschen Demokratiestrategen als „progressives Instrument“ diskutiert, erscheinen „falsche“ Volksentscheide nun als Gefahr für das demokratische Europa. Offensichtlich haben die Schweizer der Politik vor Augen geführt, wie wenig Kontrolle diese noch über „ihr“ Wahlvolk hat.
Sicherlich führt das Heraustrennen politischer Fragen nicht automatisch dazu, dass sich die Öffentlichkeit plötzlich für Gesamtzusammenhänge interessiert. Andererseits ist gerade die neue Bundesregierung selbst kaum in der Lage, ihrerseits zusammenhängende politische Vorhaben zu entwickeln. Das Problem heute sind nicht Volksentscheide, sondern die Tatsache, dass selbst die etablierte Politik meint, den Bürgern nicht erklären zu müssen, was sie warum tut und wie es funktionieren soll – sei es bei Fragen der Integration, des Afghanistaneinsatzes, der Steuer- oder der Gesundheitsreform.
Dass sich immer mehr Bürger von diesem entarteten politischen Prozess abwenden und ihr Heil in Protestabstimmungen suchen, ist nachvollziehbar. Das Votum der Schweizer nun zum Anlass zu nehmen, um Volksentscheide zu kritisieren, ist nicht mehr als ein antidemokratischer Impuls der Eliten. Ihre Kritik richtet sich nicht gegen das Instrument des Volksentscheids, sondern gegen die Vorstellung, dass das Volk überhaupt etwas entscheiden solle.