Die Rhetorik des „Nichts-Damit-Zu-Tun-Habens“

 Glaubt man den Reaktionen auf die Ereignisse im Nahen Osten und in Europa, so hat nichts mehr mit irgendetwas zu tun. Statt kontroverser Diskussionen erleben wir den Aufstieg einer unentwegt plappernden, aber dennoch positionslosen und im Kern zensorischen, weil zutiefst verängstigten Enthaltungskultur.

Der Essay ist am 11.3.2015 auf der Website der Achse des Guten erschienen.

Ganz offensichtlich leben wir in Zeiten, in denen alte, logisch erscheinende Verbindungen und als gesetzt geltende Erklärungsmuster rigoros gekappt werden. Nun wäre gegen neue Argumente nichts einzuwenden, doch was wird uns an neuen Sichtweisen geboten? Islamistischer Terror soll nichts mit dem Islam zu tun haben, Anschläge auf Synagogen nichts mit Antisemitismus, unsere Gesellschaft soll nichts mit jugendlichen Gotteskriegern ihrer Mitte zu schaffen haben, und auch sonst scheint es, als hätten die Dinge insgesamt kaum etwas miteinander zu tun. Warum das so ist? Fragen Sie bloß nicht, es könnte sich jemand beleidigt fühlen! Also beschränkt man sich darauf, uns mitzuteilen, was alles nichts miteinander zu tun hat. So entstehen Zynismus, Verdruss und die Vorstellung, dass Argumente und Leute, die welche vertreten, ohnehin überbewertet werden.

Unislamischer Islamismus und nicht-antisemitischer Judenhass?
Das Aufkündigen alter logischer Verknüpfungen ist an sich kein neues und schon gar kein negatives Phänomen. Skepsis gegenüber alten Wahrheiten kann durchaus einer positiven und aufklärerischen Motivation entspringen. Heute spricht hingegen eher wenig für Aufklärung, dafür aber viel für Vernebelung und Verdunklung. Zudem fällt auf, wie weit dieses neue seltsame Phänomen der Distanzierung in etablierte politische Kreise hinein verbreitet ist. Als die SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi im September 2014 äußerte, sie wolle nicht, dass man die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ als „radikal-islamisch“ bezeichnet, da dies Muslime beleidige, konnte man zunächst versucht sein, dies als eine etwas seltsame Realitätsdeutung abtun (http://www.pro-medienmagazin.de/politik/detailansicht/aktuell/fahimi-is-nicht-islamisch-89351/). Tatsächlich aber entspricht diese Sichtweise der Standardrhetorik führender westlicher Politiker, wie auch bei US-Präsident Barack Obama. Ihm zufolge ist der IS „not islamic“, ganz so, als reiche es mittlerweile zur Erklärung oder gar Behandlung von problematischen Entwicklungen aus, darzulegen, woher sie nicht rühren (https://www.youtube.com/watch?v=91620ymBEQI#t=24).

Die Schwerpunktsetzung auf Nicht-Zusammenhänge fällt auch bei anderen Themen auf. Wenn man die These aufstellt, dass das tausendfache freiwillige Eintreten jugendliche Westeuropäer in den heiligen Krieg „irgendetwas“ mit der Lebenswirklichkeit von jungen Menschen in den westlichen Gesellschaften zu tun haben könnte, wird postwendend abgewiegelt. Selbstverständlich, heißt es dann, habe die westliche Wertegemeinschaft gar nichts damit zu tun, wenn ihre Kinder zu Gotteskriegern würden. Schuld hätten einzig Hass-Prediger, die den Islam und unsere Toleranz missbrauchten, um die Jugend mit dem Virus des Terrors zu infizieren. Wer die Ratlosigkeit europäischer Politiker im Umgang mit den westlichen Terror-Touristen beobachtet (sollen wir sie nun am Aus- oder am Einreisen hindern?), erkennt den frommen Wunsch als Vater des so gebetsmühlenartig wiederholten Gedankens. Wir halten fest: Der „IS“ hat also weder etwas mit dem Islam noch etwas mit dem Westen zu tun. Man fragt sich, wer da als eigentlicher Urheber noch ins Spiel gebracht werden könnte – aber einen solchen zu identifizieren, ist gar nicht das Ziel.

Die Rhetorik des „Nichts-Damit-Zu-Tun-Habens“ ist großflächig anwendbar: etwa auf die Terroranschläge von Paris und Kopenhagen, von denen ebenfalls gesagt wird, sie hätten mit dem Islam nichts zu tun. Je länger der Angriff auf die Redaktion der Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ zurückliegt, desto lauter werden die Stimmen, denen zufolge das westliche Recht auf freie Meinungsäußerung sehr viel mehr mit dem islamistischen Terror zu tun habe als der Islam selbst. In der öffentlichen Wahrnehmung sind neben die islamischen Fundamentalisten nun auch sogenannte „Meinungsfreiheits-Fundamentalisten“ getreten, deren rücksichtslos verletzendes und egoistisches Pochen auf die eigenen Rechte, so tuschelt man hinter vorgehaltener Hand, den Terror ja fast schon nachvollziehbar mache.

Dies ist keine Außenseiter-Ansicht: In ähnlicher Weise äußerte sich jüngst auch Papst Franziskus. Er betonte, Meinungsfreiheit müsse dort enden, wo religiöse Gefühle verletzt werden, und er bekannte zudem, bei bestimmten Beleidigungen könne man selbst bei ihm durchaus mit einem Faustschlag rechnen (http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2015-01/papst-franziskus-meinungsfreiheit-faust). Der Politikchef der britischen Huffington Post, Mehdi Hasan, wurde noch deutlicher: Kurzerhand erklärte er die Anschläge von Paris zu einem „Verbrechen unzufriedener Jugendlicher“, um im selben Artikel die Meinungsfreiheit des Westens als heuchlerisch zu kritisieren und zudem zu bekennen, dass er „als Muslim“ von Heuchlern “die Nase voll“ habe (http://www.huffingtonpost.co.uk/mehdi-hasan/charlie-hebdo-free-speech_b_6462584.html).

Aber es wird noch interessanter: Im Februar urteilte ein deutsches Amtsgericht, dass ein von Palästinensern im letzten Sommer verübter Brandanschlag auf eine Wuppertaler Synagoge im nichts mit Antisemitismus zu tun gehabt habe, sondern als Kritik am Staate Israel gemeint war (http://www.taz.de/!154216/). Aber da in Wuppertal nun einmal keine israelische Botschaft greifbar ist, hat wohl das jüdische Gotteshaus stellvertretend herhalten müssen. Dazu passt die Argumentation der auch in Deutschland bekannten britischen Theologin und Buchautorin Karen Armstrong: Ihrer Ansicht sei es bei dem Attentat auf den koscheren Supermarkt in Paris einen Tag nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ um Palästina gegangen, mit Antisemitismus habe dies überhaupt nichts zu tun gehabt (http://www.nieuwwij.nl/english/karen-armstrong-nothing-islam-violent-christianity/).

Es scheint, als habe nichts mehr mit irgendetwas anderem Naheliegenden auch nur am Rande logisch zu tun. Kein Phänomen scheint durch ein anderes erklärbar zu sein, gerade dann nicht, wenn Zusammenhänge naheliegen. Tatsächlich entsteht der Eindruck, als sei die Annahme des Naheliegenden und oberflächlich Logischen selbst zu einer der größten Absurditäten und selbst Ausdruck unglaublicher Naivität und vollständiger Indoktrination geworden. Gleichzeitig erfreut sich aber Absurdes und Abstruses zunehmender Popularität: So kann man in Kreisen, die sich schon früh modernen Verschwörungstheorien öffneten, hören, dass der „IS“ in Wirklichkeit das Werk des israelischen und des amerikanischen Geheimdienstes sei, mit dem arabische Staaten zerstört und die muslimische Welt insgesamt unterworfen werden soll soll (siehe zum Beispie: http://www.zeit.de/2014/46/verschwoerung-is-cia-mossad). Die Anschläge auf jüdische Institutionen in Europa seien Versuche, eine antimuslimische Pogromstimmung zu erzeugen. Problematisch ist nicht die reine Existenz solcher aberwitziger Standpunkte, problematisch ist vielmehr deren ungehindertes Vordringen in den politischen Mainstream.

Das mag Ihnen alles ein wenig überspitzt vorkommen. Tatsächlich aber gab es in Europa nach den Anschlägen von Paris mehr Proteste gegen Israel als gegen die von islamistischen Terrorgruppen wie „IS“ und „Boko Haram“ zu verantwortenden Enthauptungen, Verbrennungen, Steinigungen und Massenentführungen, -versklavungen und -erschießungen. Und dies, obwohl heute mehr Muslime auf der Welt unter den selbsternannten Dschihadisten leiden und zu Tode kommen als unter irgendwem sonst. Doch mit dem Islam soll dieser Hass, der sich nicht nur auf den Westen, sondern vor allem auch gegen andere Muslime richtet, nichts zu tun haben. Viel lieber einigt man sich in linken und linksliberalen Kreisen darauf, dass Israel aufgrund seines Umgangs mit den Menschen im Gaza-Streifen für den in Europa aufflammenden Antisemitismus selbst verantwortlich sei.

Hochkonjunktur für Verschwörungstheorien
Je abenteuerlicher die neuen inhaltlichen Verknüpfungen werden, desto ernster werden sie von manchen genommen. Verwunderlich ist das nicht: Wenn die wenigen offiziellen „analytischen“ Aussagen sich darauf beschränken zu betonen, dass irgendetwas mit irgendetwas anderem nichts zu tun habe, dann ist der Verdacht, dass Zusammenhänge verschleiert werden, nicht ganz und gar aus der Luft gegriffen. Es herrscht akuter Klärungsbedarf, aber gleichzeitig Erklärungsunwilligkeit, und das inmitten eines akuten Klarheitsmangels, was nichts anderes bedeutet als: Hochspekulative Verschwörungstheorien haben Hochsaison, denn der politische Sachverstand verweigert die Aussage. Da verschwörerischen Wirrköpfen kaum etwas Gehaltvolles entgegengesetzt wird aus Angst davor, sich die Zunge zu verbrennen oder jemanden zu Unrecht zu verurteilen, ist deren Einfluss inzwischen deutlich spürbar.

Wie in der öffentlichen Wahrnehmung immer weniger Phänomene auf sinnvolle Art und Weise miteinander verknüpft sind, so gilt dies mittlerweile auch für die Menschen. Sinn und Verstand, Logik und das Gefühl von Verlässlichkeit und Vertrauen auf der Basis eines bestimmten menschlichen Grundkonsenses halten die Menschen und damit die Gesellschaft eigentlich zusammen. Gehen diese aber verloren, bleiben Misstrauen und Ängste als einzig „verlässliche“ Größen im Zusammenleben übrig. Wo immer Verschwörungstheorien ins Kraut schießen, ist das Vertrauen in Menschen und Strukturen bereits vielfach dem allgemeinen Misstrauen und der Angst vor allem und jedem gewichen. Doch ob es uns gefällt oder nicht: Diesen Umstand können wir keinem verblendeten Hassprediger und keinem angstpolitisierten Pegida-Spaziergänger anlasten.

Zumeist führen große menschliche Tragödien oder auch besonders barbarische Verbrechen dazu, dass Menschen ihr Misstrauen und ihre Ängste überwinden und im Angesicht der gemeinsamen Herausforderungen spontan die Bereitschaft entwickeln, einander zu helfen und über sich hinauszuwachsen. Wenn diese spontanen Ausbrüche gelebter Menschlichkeit und Solidarität jedoch nicht auf fruchtbaren Boden fallen, versickern sie in der Regel schnell wieder. Beides wurde nach den Terroranschlägen von Paris sehr deutlich: Spontan zeigten nach der Ermordung der Redakteure von „Charlie Hebdo“ Millionen von Menschen ihre Betroffenheit. Diese ging soweit, dass der Spruch „Je suis Charlie“ innerhalb weniger Stunden zum weltweit verwendeten Symbol für Menschlichkeit wurde.

Doch von diesem spontan aufflackernden positiven Instinkt ist zweit Monate später nichts geblieben: Dies liegt nicht daran, dass die Betroffenheit der Menschen nicht ernstgemeint war – sie war durchaus echt. Das schnelle Verglühen dieses Gefühls ist vielmehr dadurch zu erklären, dass es in einem Meer aus Misstrauen und Ängsten mehr bedarf als echter Betroffenheit, um eine solche Glut am Leben zu erhalten: Es hätte ermutigender Ideen, klarer Erklärungen und progressiver Standpunkte bedurft, die den Menschen Gemeinsamkeit und Solidarität nicht nur im passiven Trauern, sondern auch im aktiven Eintreten und Handeln für ein positives Ziel erlebbar machen.

Doch genau dies geschah nicht. In den Wochen nach den Attentaten wurden Freiheitsrechte in ganz Europa weiter infrage gestellt und beschnitten – von genau den Politikern, die sich zuvor noch medienwirksam an die Spitze der vermeintlich globalen Solidaritätsbewegung zum Schutze der Meinungsfreiheit gestellt hatten. Der anfänglich in den Reaktionen weltweit sichtbare Freiheitskeim wurde sofort in einen Terrorabwehr-Kanal umgeleitet und darin ertränkt; Freiheit als verteidigungswürdiges Ziel wurde durch Sicherheit ersetzt. Doch Sicherheit kann erst dann zum Primat von Politik werden, wenn zuvor das Gefühl der Angst inszeniert und erfolgreich zementiert wurde.

Die Anschläge von Paris im Januar und auch auf die Veranstaltung über Kunst, Gotteslästerung und Meinungsfreiheit in Kopenhagen im Februar führten nicht dazu, dass die politischen Eliten Europas nachvollziehbare inhaltliche Angebote machten, dass und wie man die eigenen Freiheiten zu verteidigen gedenkt. Das Gegenteil war der Fall: Man setzte alles daran, die Frage nach den Ursachen und den Verantwortlichen möglichst nicht zu beantworten, ja nicht einmal zu stellen, aus Angst davor, man löse damit erneute feindliche Reaktionen aus. Was blieb war, dass all das, mit dem man die schrecklichen Ereignisse in Verbindung zu bringen hätte versucht sein können, nach offizieller Lesart „nichts damit zu tun“ hatte.

Zensorische Meinungslosigkeit
„Das hat damit nichts zu tun“ ist zum modernen Credo der politischen Angst- und Enthaltungskultur geworden. Ihr gilt keine gängige Erklärung als komplex genug, um einem Sachverhalt gerecht zu werden, weshalb es sich geradezu verbietet, einzelne Aspekte auch nur zu benennen. Diese scheinbar umsichtige Haltung ist jedoch nicht einem besonders tiefgründigen oder ausgewogenen Erkenntnisinteresse geschuldet. Tatsächlich haben wir uns in den vergangenen Jahren daran gewöhnt, die Komplexität von Zusammenhängen als bequeme Ausrede zu nutzen, um uns aus der Suche nach Problemursachen und Lösungen zurückzuziehen. Anstatt die vermutete Komplexität von Zusammenhängen zum Anlass zu nehmen, tiefer in die Materie einzutauchen, zelebrieren wir das Gegenteil.

Dabei gibt es gute Gründe, die Aussage, der islamistische Terror sei einzig durch die Inhalte des Korans zu erklären, als sehr oberflächlich und pauschal abzulehnen und sich eingehender mit der Thematik zu befassen. Denn wie sind historische Veränderungen im Verhältnis zwischen der westlichen und der islamischen Welt sowie die Spannungen innerhalb der arabischen Welt zu erklären? Es muss weitere Faktoren geben, die zu einer Explosion des islamistischen Terrors in den letzten eineinhalb Jahrzehnten geführt haben. Anzunehmen, dass diese Faktoren weder mit dem Islam noch mit der westlichen Welt etwas zu tun haben, wäre selbst wiederum extrem oberflächlich und einfach.

Einer Diskussion hierüber muss sich die islamische Welt genauso stellen wie die westliche – am besten wäre es, sie täten es gemeinsam. Denn natürlich hat der Islam etwas mit dem islamistischen Terrorismus zu tun. Eine Religion besteht immer sowohl aus ihren heiligen Schriften als auch aus der von diesen Schriften angeleiteten gelebten religiösen Praxis ihrer Angehörigen. Daher sind Religionen immer einem durch soziale Interaktion bedingten Wandel unterzogen. Daher hat selbstverständlich auch der Westen etwas damit zu tun, wenn westliche Jugendliche mehr oder minder plötzlich und tausendfach zu Dschihadisten mutieren. In unserer vernetzten Welt verbindet uns mit islamischen Gotteskriegern nicht nur die Beliebtheit von Selbstdarstellungskanälen wie Youtube und Facebook, sondern auch der Hang zu apokalyptischen Weltuntergangsszenarien und grundsätzlicher Menschheits- und Gesellschaftsverachtung. Wie häufig heute ernsthaft behauptet wird, das alles habe nichts miteinander zu tun, ist an sich schon ein bedrückender Beleg für den Rückzug politischer Vernunft.

Die Versuche, solche klärenden Diskussionen zu führen, werden von beiden Seiten abgeblockt: Während viele Muslime die Ursachen des islamistischen Terrors in der vermeintlichen Unterdrückung der Muslime durch den Westen und insbesondere durch den Staat Israel sehen, ihre eigene Politik, Kultur und Religion jedoch von der Debatte aussparen, scheinen weite Teile der westlichen Gesellschaften der Auffassung zu sein, weder die eigene noch die muslimische Gesellschaft habe etwas mit der aktuellen Entwicklung zu tun. Hier ist die westliche Haltung fast noch problematischer als die Einseitigkeit der muslimischen Apologeten: Sich kurzerhand vollständig aus der Suche nach den Ursachen zurückzuziehen, spült Wasser auf die Mühlen derjenigen, die mit einfachen Erklärungen punkten wollen – das gilt sowohl für islamistische Rattenfänger wie für westlich-frustrierte Angst-Wut-Bürger.

In einer so verfahrenen Situation entsteht der fatale Eindruck, dass das Vertreten klarer Standpunkte fast automatisch auf eine gefährliche Nähe zu fundamentalistischen oder extremistischen Zielsetzungen hinweist. Meinungsfreiheit gilt heute vielen als Schutzschild für die lautstarken Ränder der Gesellschaft. Und man muss sich die Frage gefallen lassen: Ist dieser Gedanke nicht naheliegend, wenn niemand sonst mit eigenen Überzeugungen aufwartet? Gemäßigt und vernünftig erscheint heute nur noch derjenige, der sich aus dem Konflikt heraushält und dafür einsetzt, dass die Konfliktparteien möglichst hermetisch voneinander abgeriegelt werden – oder noch besser: überhaupt nicht erst zu Wort kommen.

Und hier kommt die zensorische Komponente der modernen Hasenfüßigkeit im Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten zum Tragen: Schon heute vertreten nicht unerhebliche Teile der deutschen Bevölkerung die Auffassung, Demonstrationen oder sonstige politische Äußerungen würden dem Frieden und der Demokratie im Lande eher Schaden zufügen als nutzen. Das Verbot von als „radikal“ geltenden Organisationen oder Sichtweisen ist mittlerweile als überlebenswichtiger Schutz von Demokratie und Meinungsfreiheit fest im Denken der Menschen etabliert, während das freie Äußern von unpopulären Meinungen als unangenehme und rechtlich sanktionierbare Belästigung empfunden wird.

Die Logik ist verblüffend einfach: Wer eine klare Meinung vertritt, muss mit dem Teufel der Einseitigkeit im Bunde sein. Wer einen Standpunkt mit Nachdruck vertritt, gilt tendenziell als unglaubwürdig und zudem auch egoistisch, also letztlich gesellschaftsschädigend – und da ist es fast schon egal, um welchen Standpunkt es sich handelt. Der breite und kontroverse Meinungsstreit mit dem Ziel, Ursachen für Krisen zu benennen, ist außerhalb simulierter Fernseh-Talkshows fast komplett zum Erliegen gekommen. Daher gelten nicht mehr die engagierte Auseinandersetzung mit den tatsächlich brennenden Themen unserer Zeit, sondern die ängstliche Zurückhaltung und das Bewahren von Ruhe als oberste Bürgerpflicht. Die Freiheit der Meinung erlebt eine Wiederkehr als Farce: als Freiheit von Meinung.

Die Angst ist die Todfeindin der Freiheit
Dass eine solch ängstliche Haltung nicht eben dazu geeignet ist, zweifelnde Menschen davon zu überzeugen, dass Demokratie und Meinungsfreiheit verteidigungswürdige Werte sind, sollte einleuchten. Demokratie gilt einer zunehmenden Anzahl von Menschen als schlichte Lügenmaschinerie und Meinungsfreiheit als bloße Angst davor, Standpunkte zu beziehen und eigene Vorstellungen zu verteidigen. An diesem Punkt ließe sich wahrscheinlich Einigkeit zwischen islamistischen Eiferern und keifenden Pegida-Flaneuren herstellen. Das Gefährliche an der heutigen Situation ist: Wenn man sich die lavierenden und ausweichenden Aussagen von Barack Obama oder anderer westlicher Politiker zum Umgang mit dem Terror vor Augen führt, ist die Angst vor einem kampflosen Zurückweichen gegenüber radikalen Kritikern des westlichen Lebensstils tatsächlich nicht ganz unbegründet.

Wir erleben dieses Zurückweichen Tag für Tag – in einigen Fällen wird es uns sogar als besonders wertvoll und fortschrittlich angepriesen. So werden beispielsweise Forderungen im Geiste von Papst Franziskus laut, wir sollten unsere Meinungsfreiheit nicht so weit ausreizen, da sich andere dadurch in ihren religiösen oder kulturellen Gefühlen verletzt fühlen könnten. Man appelliert an unsere „aufgeklärte“ Rücksicht, anstatt die Freiheiten zu berücksichtigen, die die Menschen in den letzten Jahrhunderten hart erkämpft haben, und man nennt dieses Verhalten dann „tolerant“. Mit dieser aufklärerischen Rolle rückwärts geht es Kabarettisten und Karikaturisten genauso an den Kragen wie Theaterregisseuren, Ausstellungsmachern, Journalisten, Buchautoren – ja nicht einmal Karnevalisten werden von der Selbstbeschneidung verschont (http://hpd.de/artikel/11238).

Hier werden aus Angst davor, man könnte andere Sicht- und Lebensweisen konfrontieren, nicht nur die eigenen Grundsätze relativiert, sondern fast im vorauseilenden Gehorsam aufgegeben. Es scheint, als hätte es nur eines externen Anstoßes bedurft, um uns dazu zu bringen, endlich die tragenden Wände unseres eigenen Wertegebäudes einzureißen. Anstatt uns darauf zu besinnen, was unser Wertesystem ausmacht, welche Errungenschaften und Stärken es beinhaltet, wird ernsthaft die Frage diskutiert, ob wir nicht eventuell durch unsere aufgeklärten Werte, unsere Weltoffenheit und unsere Demokratie Menschen aus anderen Kulturkreisen kollektiv unterdrücken und benachteiligen.

Wer ein solches Verhältnis zu den eigenen Freiheiten und Rechten hat, der braucht gar keinen islamistischen oder sonstigen Terror, um sie infragezustellen. Wer aus freien Stücken die eigene Meinungsfreiheit eingrenzt, der braucht sich nicht über diejenigen ereifern, die die Einführung der Scharia fordern, denn er dreht das Rad der Ideengeschichte bereits selbst zurück. Eine Gesellschaft, in der Menschen flächendeckend bevormundet und zu den „richtigen“ Entscheidungen geschubst und gedrängelt werden, sollte sich nicht wundern, wenn islamische Fanatiker selbstbewusst mitmischen und ihre eigene Sittenpolizei oder Schlimmeres auf Patrouille schicken.

Unsere Angstkultur ermuntert die rückschrittlichsten und freiheitsfeindlichsten Kräfte dazu, ihre eigenen Vorstellungen von Bevormundung dem ohnehin bereits bestehenden Cocktail der Unfreiheit beizumischen. Wäre die westliche Welt durch ein gesundes Verhältnis zur Freiheit, durch Vertrauen in die Menschen sowie durch Mut und Zuversicht geprägt, würden Versuche, diese Freiheiten aus religiösen oder sonstigen Gründen begrenzen zu wollen, wie Pfeile von einem Panzer abprallen. Selbst Terroranschläge würden keinen allzu großen politischen Schaden anrichten können. Eine Gemeinschaft, die ihre Freiheit liebt, würde auf solche Verzweiflungstaten nicht mit kollektiver Panik, mit Selbstzweifeln oder gar mit Zukunftsangst reagieren, sondern mit der Entschlossenheit, nun noch freier, noch selbstbewusster und noch besser zu werden.

Dass wir heute sehr weit von einer solch selbstbewussten Stabilität entfernt sind, hat – und in diesem Falle stimmt die Aussage! –, mit dem Islam nichts zu tun! Wir können weder radikale Prediger noch islamistische Terroristen dafür verantwortlich machen, dass wir aus Angst vor ihnen ihren Job machen. Sie hätten gern die Macht, die Werte der Freiheit und der Demokratie zu zerstören, können aber nicht mehr als versuchen, uns Todesangst einzujagen. Ob ihnen das gelingt oder nicht, hat aber einzig und allein mit uns zu tun.

Der Essay ist am 11.3.2015 auf der Website der Achse des Guten erschienen.