Eine SPD-geführte Bundesregierung will zukünftig jede ihrer politischen Entscheidungen daran messen lassen, ob Arbeitsplätze gesichert oder neue geschaffen werden. Ein neues Bündnis für Arbeit und sowie zahlreiche arbeitsmarktpolitische Initiativen sollen die Arbeitslosigkeit bekämpfen und die “Konsensgesellschaft” vor ihrem Zerfall bewahren. Was auf den ersten Blick anmutet wie sozialdemokratisches Vokabular vergangener Tage, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als autoritärer Regulierungscocktail.
Arbeitslosigkeit wird im SPD-Wahlprogramm “Arbeit, Innovation und Gerechtigkeit” zunehmend als Problem der “inneren Sicherheit” und der gesellschaftlichen Stabilität diskutiert. Sei es die Individualisierung der Gesellschaft, die Gewalt in Familien, in Schulen oder die Existenz rechtsextremer Gruppierungen – all diese Probleme gehen nach Ansicht der Sozis von den arbeitslosen Massen aus. Entsprechend gewinnt die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit einen neuen sicherheitspolitisch motivierten und autoritären Charakter. Um jeden Preis sollen die Menschen in Arbeit gebracht werden, sei es durch Umschulung, ABM, Weiterbildung, Teilzeitarbeit, Job-Rotation oder andere Programme, die “die Menschen von der Straße holen”. Das Ziel ist klar: Die Menschen sollen diszipliniert und in den Arbeitsprozeß integriert werden, um ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern. Die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wird zu einem moralischen Imperativ, dem jedes Handeln und jede politische Entscheidung – und letztlich die gesamte Gesellschaft – untergeordnet werden sollen.
Entwertung der Arbeit
Nicht müde werden SPD und ihr Kanzlerkandidat Gerhard Schröder, die Zukunftsfähigkeit der Arbeitsgesellschaft und der Idee der Vollbeschäftigung zu betonen. Betrachtet man aber die geplanten arbeitsmarktpolitischen Initiativen, wird deutlich, daß der Begriff Arbeit einer umfassenden Neudefinition unterzogen wird. Seit jeher galt die menschliche Arbeit als Motor der gesellschaftlichen und zivilisatorischen Entwicklung. Die Menschen entwickelten Fähigkeiten und Expertisen, trugen so zur Verbesserung der Lebenssituation der Gemeinschaft bei und verschafften sich eine Stellung in der Gesellschaft. Die Arbeitsteilung war ein Gradmesser für den Entwicklungsstand der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Für das Individuum waren die eigene Arbeit sowie die berufliche Karriere wichtig. Sie trugen nicht nur zur Erhöhung des Lebensstandards, sondern auch zur Entwicklung des Selbstbewußtseins bei.
Für die Wirtschaft war Arbeit ebenfalls unersetzlich. Auf Expansion und Wachstum ausgerichtet, bestand bei Unternehmern ständiger Bedarf an Arbeitskräften, an der Entwicklung von Expertisen und an neuen Impulsen für den gesellschaftlichen Produktionsprozeß. Arbeitslosigkeit wurde dementsprechend als Problem für die Betroffenen und überdies als Ausdruck einer gesellschaftlichen Krise empfunden.
Die heutige Diskussion über Arbeit hingegen ist von anderen Vorstellungen geprägt. Es gilt mittlerweile als unabänderlich, daß es in der Gesellschaft zu wenig Arbeit gibt und das Arbeitsbedürfnis der Bevölkerung nicht befriedigt werden kann. Begriffe wie Sockel-, Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit oder die Titulierung von Arbeitnehmern als “Arbeitsplatzbesitzer” sind Teil der Normalität geworden. Soziologen sprechen gar vom Ende der Arbeitsgesellschaft und reflektieren damit die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stagnation, die suggeriert, es gäbe weniger zu tun und daran sei nichts zu ändern. In diesem Szenario wird die von der SPD propagierte Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu einem Beschäftigungsprogramm für eine freigesetzte und zunehmend orientierungslose Bevölkerung. Beschäftigung wird hier in dem Sinne interpretiert, daß Menschen in Strukturen eingebunden werden sollen, um die gesamtgesellschaftliche Stabilität aufrechtzuerhalten. Arbeit wird von einer ursprünglich kreativen Tätigkeit zur Beschäftigungstherapie und zum wesentlichen Stabilitätsgarant einer stagnierenden Gesellschaft degradiert.
Der moralische Imperativ Arbeit, mit dem “alle gesellschaftlichen Kräfte mobilisiert werden” sollen, drückt sich in der Praxis autoritärer Arbeitsprogramme aus: In straffer Organisation sollen Arbeitslose durch Arbeits- und Sozialämter in Weiterbildung und Arbeit geschleust werden, und all denen, die einen Job “ohne wichtigen Grund” ablehnen, drohen empfindliche Kürzungen. Ebenso selbstverständlich wurde der CDU-Vorschlag übernommen, Sozialhilfeempfänger zu ehrenamtlichen gemeinnützigen Arbeiten heranzuziehen. Vergleichbar mit dem britischen Back-to-work-Programm der New Labour Party werden hier autoritäre Maßnahmen in sozial-ethische Rhetorik einer Konsens- und Arbeitsgesellschaft gehüllt und in einer Vehemenz vertreten, von der konservative Wirtschaftsvertreter bislang nur träumen konnten
Versöhnung mit der Krise
Betrachtet man die arbeitsmarktpolitischen Vorstellungen der Sozialdemokraten, fällt auf, daß der alten sozialdemokratischen Forderung nach “gerechter Verteilung” im Kontext der gesellschaftlichen Stagnation eine neue Bedeutung zuteil wird. “Verteilung” heißt hier Verteilung von Arbeit, zwischen Arbeitsplatzbesitzern und Arbeitslosen, zwischen Männern und Frauen und zwischen Jungen und Alten. Die Rhetorik der “Vollbeschäftigung” weicht der Realität der Massen-Teilzeitarbeit, die einer Verteilung der Arbeitslosigkeit auf alle gleichkommt. Die SPD hat, bevor sie überhaupt zum Regieren kommt, die Idee bereits aufgegeben, qualifizierte neue Arbeitsplätze zu schaffen.
Statt dessen wird Teilzeitarbeit zynischerweise als neue Chance für die Gesellschaft präsentiert: So könnten zentrale Werte wie “Solidarität” neu erlernt werden. Solidarität bedeutet für die SPD am Ende der 90er in erster Linie die Bereitschaft, Lohneinbußen hinzunehmen und seinen Arbeitsplatz mit einem Arbeitslosen zu teilen.
Auch andere Werte werden neu bestimmt: Unter der Überschrift “Gleichberechtigung” wird im SPD-Programm eine gerechtere Verteilung der vorhandenen Arbeit zwischen Männern und Frauen gefordert. Teilzeitarbeit und “Job-Sharing” von Eltern werden zudem als positive Maßnahme zur Stärkung des Familienzusammenhalts gepriesen. Während in der Vergangenheit volle Berufstätigkeit und ausreichender Wohlstand als tragende Säulen der Individuen wie der Familie galten, wird nun “Job-Sharing” aufgewertet, um zu erreichen, “daß jede Frau und jeder Mann über den eigenen Lebensentwurf frei entscheiden kann”. Kaum Beachtung findet, daß Teilzeitarbeit in den meisten Fällen Teilzeitlöhne auf niedrigem Niveau mit entsprechender Rentenanrechnung bedeutet und damit eine unabhängige Lebensplanung von Männern und Frauen gleichermaßen unmöglich wird. Lediglich der designierte SPD-Arbeitsminister Walter Riester wies in einem Interview lapidar auf dieses Problem hin und räumte ein, man müsse “dies dann regeln”.
Deutlich wird hier, daß auch führende SPD-Strategen die Sichtweise verinnerlicht haben, daß es nicht mehr darum gehen kann, neue Arbeitsplätze in ausreichender Anzahl zu schaffen. Statt dessen soll die vorhandene Arbeit umverteilt und den Menschen beigebracht werden, vom Wunsch eines festen Arbeitsplatzes und eines stabilen Lebensunterhalts Abstand zu nehmen. Statt Auswegen aus der Krise stellt das SPD-Programm den Versuch dar, die Menschen mit derselben zu versöhnen.
Von gesellschaftlicher Innovation kann bei der sozialdemokratischen Programmatik nicht gesprochen werden. Die SPD-Beschäftigungsoffensive veranschaulicht vielmehr, daß keine Lösungen vorhanden sind, sondern lediglich neue Wege, die gesellschaftliche Krise zu verwalten und auf alle Schultern zu verteilen. Die Betonung der Pflege- und Betreuungsberufe im Dienstleistungssektor im SPD-Programm ist daher im übertragenen Sinne symptomatisch: Anstatt zu erwarten, daß die Zukunft besser wird, sollen sich die Menschen lieber gegenseitig pflegen und auf anhaltend schlechte Zeiten vorbereiten. Das sozialdemokratische Wahlprogramm präsentiert im Grunde nur Konzepte, mit denen die Gesellschaft im Sinne einer Not- und Überlebensgemeinschaft diszipliniert und zusammengeschweißt werden soll.
Erschienen in Novo35, Juli/August 1998