Eine kritische Bewertung der Methodik der Wehrmachtsausstellung.
(Erschienen in Novo28, Mai/Juni 1997)
Co-Autorin: Christine Horn
Die Ausstellung „Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung hat in den letzten Wochen viel Aufsehen erregt. Das will sie auch, denn ihr Ziel ist es, neue Einblicke in eines der düstersten Kapitel der deutschen Geschichte zu gewähren und mit alten Tabus zu brechen. Mit zahlreichen, mitunter grausamen Originalphotos, auf denen die Hinrichtung von Zivilisten, sogenannten „Partisanen“ und Soldaten festgehalten wurde, sowie mit Dokumenten und Feldpostbriefen führt sie dem Besucher die brutale Realität des Krieges der deutschen Wehrmacht vor Augen. Sie konzentriert sich dabei auf die Besetzung Serbiens, auf die Verbrechen der 6. Armee in Weißrußland auf ihrem Weg nach Stalingrad sowie auf die Ereignisse in Norditalien.
Hannes Heer, der Ausstellungsleiter, nennt als Intentionen, eine solche Ausstellung zu machen, die dringende Notwendigkeit, Dokumente, die erst seit kurzem durch die Öffnung von Archiven in Osteuropa zugänglich sind, zu zeigen. Zum einen soll die Betrachtung der Geschichte der Wehrmacht aus der Perspektive des einfachen Landsers ein besseres Verständnis dieser Institution ermöglichen. Es wird aufgezeigt, daß einfache Landser der Wehrmacht aktiv an den schlimmsten Verbrechen mitgewirkt haben:
„Da die Militärgeschichtsschreibung, eingeschlossen ihre kritische Fraktion… fast ausschließlich die professionellen Eliten berücksichtigt, lohnt es sich, das Verhalten der Mannschaften, im Spiegel eines solchen Prozesses, näher zu betrachten. Auch wenn sich dabei kein repräsentativer Mentalitätsquerschnitt ergibt, Anhaltspunkte, wieweit die ‘verbrecherischen Befehle’ von der Truppe getragen wurden, liefert eine solche Betrachtung allemal.“ (Hannes Heer: „Killing Fields. Die Wehrmacht und der Holocaust“, in: „Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944“, Hamburg, 1995, S.62).
Zum anderen könne man, laut Heer, durch diese Erkenntnisse endgültig mit dem „Mythos der sauberen Wehrmacht“ aufräumen. Der Versuch, die Geschichte auf dem Hintergrund neuer Erkenntnisse neu zu bewerten, ist zu begrüßen. Da sich die politischen und ideologischen Grundlagen der Gesellschaft mit dem Zerfall der Sowjetunion und der damit verbundenen Auflösung der Nachkriegsordnung vollkommen verändert haben, sollte die Gelegenheit tatsächlich genutzt werden, die Geschichte neu zu betrachten. Dies könnte zu einem besseren Verständnis beitragen. Die Ausstellung aber kann dieses Versprechen nicht einlösen. Statt zu einem besseren Geschichtsverständnis beizutragen, unterstützt sie einen in der Geschichtswissenschaft bereits existierenden Trend: Das sozialtheoretische Verständnis von Geschichte wird zugunsten einer Betrachtung der Individuen „von unten“ aufgelöst. Durch diesen Blickwinkel der individuellen Tätergeschichte von unten, wie wir sie schon von Daniel Jonah Goldhagens „Hitlers willige Vollstrecker“ kennen, wird die Barbarei des Faschismus zusehends als die Barbarei von Individuen reinterpretiert. Verbrechen und Gewalt erscheinen als Produkt menschlichen Fehlverhaltens, die dann zu verhindern wären, wenn Menschen, statt mitzumachen, mehr Verantwortung tragen würden. Anstelle eines besseren Verständnisses der prägenden Einflüsse, durch die komplexe, geschichtliche Zusammenhänge erklärt werden können, fördert die Ausstellung einen naiven und ahistorischen Blick auf das Zeitgeschehen.
Mythos über den Mythos
Das bezeichnende an der Ausstellung ist daher weniger ihr Inhalt als der Perspektivenwechsel in der Geschichtsbetrachtung und der Ansatz, für den sie steht. Denn die präsentierten Inhalte sind eigentlich nicht neu. Der Mythos der sauberen Wehrmacht, den die Ausstellung widerlegen soll, existiert schon seit langem nicht mehr. Zwar mag es immer noch Unverbesserliche geben, die die Verstrickung der Wehrmacht in NS-Verbrechen bestreiten, genauso wie es noch Menschen gibt, die Auschwitz leugnen wollen. Auch gab und gibt es von Seiten des politischen Establishment immer wieder ungerechtfertigte Versuche, die Eliten der Wehrmacht durch die Diskussion über das Hitlerattentat des 20. Juli von ihrer Mitverantwortung für die Verbrechen frei zu sprechen. Das heißt aber noch lange nicht, daß die Wehrmacht positiv bewertet wurde. Innerhalb der geschichts- und militärwissenschaftlichen Forschung ist es seit den 70er Jahren anerkannt, daß die Wehrmacht keineswegs „sauber“ war und Wehrmachtssoldaten an den Verbrechen der SS beteiligt waren. Manfred Messerschmidt belegte schon 1969 in seinem viel beachteten Standardwerk Die Wehrmacht im NS-Staat die Verbindungen und Zusammenhänge zwischen der Wehrmacht als Organisation und dem nationalsozialistischen Regime. Auch die Behauptung, die Ausstellung gestatte „endlich eine intensive Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit… der früher immer bewußt aus dem Weg gegangen“ worden sei, entspricht nicht den historischen Tatsachen.
Zwar mag es noch immer Menschen geben, die meinen, daß vor allem den Deutschen im Zweiten Weltkrieg Unrecht angetan wurde. Zu behaupten, daß diese Einstellung eine breite Masse teile, ist aber wohl eher vermessen. Die deutsche Gesellschaft war nach 1945 durch eine Grundeinstellung gegen das NS-Regime geprägt. Nach dem Krieg waren die schlimmen Folgen der nationalsozialistischen Vergangenheit allgegenwärtig. Daß sich der überwiegende Teil der Bevölkerung deutlich von dieser Vergangenheit lösen wollte, zeigte sich unter anderem daran, daß es in den 50er Jahren zu einer breiten Friedensbewegung gegen den Aufbau der Bundeswehr kam. Zwar gab es auf staatlicher Ebene Kontinuitäten und den Versuch, die deutsche Vergangenheit endgültig in Bücher zu binden und abzulegen. Dieser Versuch wurde aber immer wieder, gerade durch die kritische Aufarbeitung des Faschismus in den 70er Jahren, vereitelt. Die Generation der „68er“ trug entscheidend dazu bei, daß das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte auch in späteren Jahrzehnten gar nicht verschwiegen werden konnte. Von einer flächendeckenden Verdrängung der deutschen Vergangenheit kann also nicht die Rede sein.
Täterforschung von unten
Die Ausstellung hat sich zum Ziel gesetzt, neue Einblicke in die geschichtliche Realität der Wehrmacht zu gewinnen, indem sie das Verhalten und die Motive von Individuen, in diesem Fall der Landser, genauer untersucht. Dieser Ansatz wird im allgemeinen als „Geschichte von unten“ bezeichnet. Während die Geschichtsschreibung sich in der Vergangenheit nur auf die Analyse übergeordneter Strukturen wie Staat, Recht und Politik konzentriert habe – also „Geschichte von oben“ betrachtet worden sei -, eröffne die moderne „Mentalitäts- und Sozialgeschichte“ eine völlig neue Dimension historischen Verstehens. Während einer Podiumsdiskussion anläßlich der Ausstellung in der Frankfurter Paulskirche stellte der Historiker Hans-Ulrich Thamer die Ausstellung in den Kontext eines grundlegenden „Perspektivenwechsels in der Forschung“, die den „Blick von unten“ ermögliche. Geleitet wird dieser Ansatz von der Vorstellung, die Konzentration auf die politische und wirtschaftliche Sphäre und deren Einfluß auf die Gesamtgesellschaft sei eindimensional und könne das Handeln von Individuen nicht erklären. Vielmehr verstelle sie sogar sie klare Sicht auf die Realität, denn sie ermögliche es den Individuen, sich „hinter den Strukturen zu verstecken“. Zu diesem Ansatz erklärte der Militärhistoriker Wolfram Wette in seinem Buch Der Krieg des kleinen Mannes:
„Eine Militärgeschichte ‘von unten’ will die ‘von oben’ nicht ersetzen, aber sie kann Wesentliches zu einer neuen Synthese beitragen, in welcher das Ganze erkennbar wird, die Schattenseiten eingeschlossen. (Wolfram Wette: „Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten“, München 1995, S.14)
Die Auflösung sozialtheoretischen Verstehens
In Wirklichkeit sind die Erkenntnisse, die aus der Betrachtung des Verhaltens individueller Landser an der Ostfront gezogen werden können, mehr als begrenzt. Denn nach Jahren nationalsozialistischer Diktatur und der Militarisierung einer ganzen Gesellschaft dürfte es nicht schwer fallen, sich vorzustellen, wie Soldaten an der Ostfront regelrecht enthumanisiert wurden. Ernst Jünger erschrak damals, als er sich die Situation an der Kaukasusfront betrachtete und umschrieb sie wie folgt:
„Der Mensch hat das Gefühl, in einer großen Maschine zu stecken, in der es nur passive Teilnahme gibt… Der Mensch hat jenen Stand erreicht, den Dostojewski im ‘Raskolonikow’ beschrieben hat. Da sieht er seinesgleichen als Ungeziefer an. Gerade davor muß er sich hüten, wenn er nicht in die Insektensphäre hineingeraten will“ (zit.: Hannes Heer/Klaus Naumann. „Einleitung“, in: „Vernichtungskrieg“, a.a.O., S.32).
In einem Artikel im Begleitband zur Wehrmachtsausstellung wird hervorgehoben, daß die „Sonderbehandlung“ von Frauen und Kindern durch die Einsatzgruppen meist nur in alkoholisiertem Zustand durchgeführt wurden und sich Selbstmorde und Nervenzusammenbrüche häuften (Dieter Reifrath/Viktoria Schmidt-Linsenhoff: „Die Kamera der Täter“, in: Vernichtungskrieg, a.a.O., S.492).
Da die Brutalisierung der Menschen während der NS-Zeit in der Geschichte der Menschheit einzigartig war, liegt es eigentlich auf der Hand, daß es nur wenige Menschen gab, die in einer derartig menschenunwürdigen Situation Menschlichkeit an den Tag zu legen vermochten.Für die Ausstellungsorganisatoren aber liefert dieser sozialhistorische Kontext keine befriedigende Erklärung dafür, daß Menschen so brutalisiert waren. Zwar heben auch sie hervor, daß Befehlsstrukturen der Wehrmacht und die ideologische Indoktrination einen großen Einfluß auf den einzelnen ausübten. Das Ausmaß der Brutalität und die Tatsache, daß Landser sogar Fotos von Hinrichtungen als Erinnerungsfotos an ihre Familien schickten, heißt für sie aber, daß viele Soldaten die Befehle nicht nur einfach ausführten, sondern sie übertrafen. Aus diesem Grund müsse es noch eine andere Erklärung für ihr Verhalten geben. Zu viele Beispiele habe es gegeben, in denen einfache Familienväter zu Mördern wurden, ohne daß ihnen dies direkt befohlen wurde. Im Begleitband zur Ausstellung heißt es hierzu:
“Neuere antiapologetische Untersuchungen, die ein düsteres Bild davon zeichnen, daß die überwältigende Mehrheit der deutschen Truppen der Naziideologie fanatisch ergeben war und sich damit vertraut sah, eine Art Religionskrieg zu führen… Der widerliche und sensationslüsterne Ton ihrer Briefe nach Hause sowie die von ihnen gemachten Fotografien lassen vermuten, daß so mancher gemeine Soldat einige Seiten des Krieges als bizarre Form des ‘Tourismus’ begriffen haben mag.“ (Theo J. Schulte: „Korück 582“, in: „Vernichtungskrieg“, a.a.O.)
Intersubjektiver Gesellschaftsbegriff
Es ist durchaus richtig, daß die Befehlsstrukturen der Wehrmacht allein und die ideologische Indoktrination durch das NS-Regime das Handeln jedes einzelnen Menschen nicht vollständig erklären können. Jeder einzelne ist Produkt eines komplexen Prozesses gesellschaftlicher und individueller Prägungen. Individuen entwickeln sich daher unterschiedlich, haben unterschiedliche Interessen und Neigungen. Der eine Landser hat sich dem Befehl verweigert, der andere hat ihn noch „besser“ ausgeführt als eigentlich vorgesehen, und ein dritter versuchte einfach, sich dem Geschehen passiv zu entziehen. Genauso konnte sich das Verhalten im Laufe des Krieges verändern. So haben viele Soldaten im Laufe des Krieges ihre Einstellung gegenüber der Wehrmacht und dem Krieg verändert.
Verstehen kann man das Verhalten des einzelnen aber immer nur in Interaktion mit der Gesellschaft als Ganzem. Menschen handeln unter Gegebenheiten, die sich ihrer Kontrolle entziehen – das Wirtschaftssystem, die allgemeine politische Entwicklung und die Optionen, die ihnen gegeben zu sein scheinen. Dieses System prägt die Menschen und führt dazu, daß sie sich, trotz ihrer Unterschiedlichkeit, eigentlich erstaunlich ähnlich sind. Heute beispielsweise wird auf der ganzen Welt die gleiche Musik gehört, Baseballkappen gehören zum „Outfit“ der meisten Jugendlichen, ob in New York oder in Afrika. Auch daß heute viele junge Menschen sich nicht mehr vorstellen können, begeistert eine Nationalhymne zu singen, zeigt, daß gesellschaftliche Veränderungen und Erfahrungen auf der Ebene des politischen Systems den Menschen maßgeblich beeinflussen.
Mit anderen Worten: Man kann zwar nicht jedes Verhalten unvermittelt durch „das System“ bzw. die gesellschaftlichen Umstände erklärten, aber dies sind prägende Aspekte der menschlichen Entwicklung. Individuelles Verhalten kann nur verstanden werden, wenn es in ein Verständnis der gesellschaftlichen und politischen Strukturen eingebettet ist, die dem einzelnen gegenüberstehen und von ihm nicht unmittelbar beeinflußbar sind.
In den Aussagen, die in der Ausstellung über die Wehrmacht und die individuellen Landser gemacht werden, findet gerade diese Einbettung nicht statt. Zwar werden, wie auch bei Goldhagen, immer wieder Lippenbekenntnisse abgegeben, man sei sich über die Individuen beeinflussenden gesellschaftlichen Strukturen bewußt etc. Die Schlußfolgerungen, die in der Ausstellung getroffen werden, zeigen aber, daß dies nur pro forma gilt. Immer wieder wird darauf verwiesen, daß der Bewußtseinsstand der Truppe erkläre, warum ein solches Morden stattfinden konnte. In Wirklichkeit ist dieser Bewußtseinsstand selbst aber Ausdruck eines durch die damalige Situation geprägten Denkens und Empfindens.
Zu der Feststellung, daß zu viele Soldaten mitgemacht hätten und dies eine entscheidende Ursache der entmenschlichten Barbarei war, kann man nur gelangen, wenn davon ausgegangen wird, daß der einzelne damals irgendwie autonom hätte denken und handeln können. Der Verweis auf eigenverantwortliches Verhalten von Individuen und die Möglichkeit, den Befehl zu verweigern, suggeriert, daß ein von den in einer Situation gültigen politischen und gesellschaftlichen Formen unabhängiges menschliches und moralisches Verhalten möglich ist. Es verkennt, daß es politische Prägung war, die Menschen dazu brachte, den Krieg als eine gute Sache zu empfinden. In Anbetracht des Fehlens jeglicher Opposition war es nicht verwunderlich, daß sich in der Tat nur wenige aktiv gegen das System richteten.
Umkehr der Kausalität
Durch diesen neuen Blickwinkel der Täterforschung wird daher nicht nur der Auflösung eines sozialtheoretischen Ansatzes Vorschub geleistet. Bisher gültige Kriterien der Kausalität bei der Betrachtung des Faschismus werden zusehends aufgelöst. Es wird betont, die „Mentalität der Truppe entsprach dem Bewußtsein der Truppe. Das persönliche Engagement bei der Judenjagd – sei es in freiwilliger Kooperation mit den Einsatzgruppen oder als wehrmachtseigene Aktion – verrät ein spontanes Einverständnis mit dem Judenmord.“ Die Befehle der Wehrmachtsführung hätten den Wehrmachtssoldaten zwar die Gelegenheit gegeben, ihre Triebpotentiale auszuleben. Aber sie seien nur eine Handlungsanleitung gewesen, die von den Soldaten konkret ausgefüllt wurde.
Im Rahmen der bereits zuvor erwähnten Podiumsdiskussion in der Frankfurter Paulskirche betonte Hannes Heer, jeder Wehrmachtssoldat habe „sich entscheiden können, ob er zum Massenmörder werden wollte oder nicht. Die Moral in der deutschen Gesellschaft war zwischen 1933 und 1945 nicht außer Kraft gesetzt.“ Auch der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, betonte in seiner Rede anläßlich der Ausstellungseröffnung in Frankfurt, daß der Krieg bei weitem nicht so schlimm geworden wäre, wenn „nicht so viele Soldaten“ ihn mitgetragen hätten. „Mordlust und Sadismus, Gefühlskälte und sexuelle Perversionen konnte man nicht befehlen, die brachten große Teile der Truppe selbst mit“, Hannes Heer weiter (Hannes Heer: „Killing Fields“, a.a.O., S.64).
Immer wieder wird hervorgehoben, daß nur wenige sich den Befehlen widersetzten, daß eine große Bereitschaft existierte, mitzumachen. So auch vom Historiker Omar Bartov:
„Außer einer kleinen Minderheit war jedoch in der deutschen Wehrmacht niemand bereit, Konsequenzen zu ziehen und ein Ende des Schlachtens zu fordern. Es muß deshalb gefragt werden, was die Deutschen unter Bedingungen weiterkämpfen ließ, bei denen die meisten anderen Armeen… auseinandergebrochen wären.“ (Omar Bartov: „Brutalität und Mentalität: Zum Verhalten deutscher Soldaten an der Ostfront“, in: „Vernichtungskrieg“, a.a.O., S.187)
Zum einen stellen solche Äußerungen eine Unterschätzung der repressiven Strukturen der Wehrmacht dar. In einer solchen Situation war es wohl sehr schwer, sich Befehlen zu widersetzen. Zigtausend Soldaten wurden wegen Fahnenflucht zum Tode verurteilt. Im Begleitband zur Ausstellung erwähnt Omar Bartov die pervertierte Kampfdisziplin an der Ostfront, die auch gegen die eigenen Soldaten angewandt wurde und zu etwa 15.000 Hinrichtungen geführt habe (ebd., S.191). Wie Hannes Heer hingegen zu konstatieren, daß die Beteiligung der Wehrmacht am Holocaust auf allen Ebenen der militärischen Befehlsgewalt erfolgte und es Fälle von „Widerstand oder Befehlsverweigerung“ nicht gegeben habe, geht wohl auf jeden Fall zu weit (Hannes Heer: „Killing Fields“, a.a.O., S.73).
Indem der Schwerpunkt der Ursachenforschung für den Holocaust und für die Brutalisierung der Kriegführung mit diesem Perspektivenwechsel auf die beteiligten Menschen gelegt wird, erscheint letztlich das politische und wirtschaftliche System als direkter Ausdruck des Willens der Menschen. Nicht komplexe historische und politische Zusammenhänge scheinen die Triebkraft der Gesellschaft, sondern das von diesen Strukturen autonom gewordene Individuum. Hier offenbart sich, daß der von vielen Historikern gelobte Perspektivenwechsel in der Geschichtswissenschaft letztlich eine viel weitreichendere Revision der Geschichte erlaubt, als jeder konservative Historiker früher durch eine plumpe Verharmlosung der Greueltaten des Naziregimes hätte erreichen können. Der Perspektivenwandel der Individualisierung macht es möglich, daß der Faschismus nicht mehr als Produkt sozialer Prozesse erscheint, sondern als Ergebnis individuellen moralischen Versagens. Die Ausstellung befördert ironischerweise daher nicht die Kritik der Institution Wehrmacht, sondern die der Menschen, die damals Soldaten waren.
Die Kritik an Institutionen wird zunehmend durch eine Kritik am Individuum ersetzt. So wandelt sich auch die traditionelle Kritik am Militarismus in eine an Individuen und wird so im Grunde aufgelöst. Hierzu schreibt der Historiker Michael Geyer:
„Krieg und Gewalt werden vom Staat organisiert aber von der Gesellschaft vorangetrieben. Sie leben von der Partizipation der Gesellschaft oder einzelner gesellschaftlicher Schichten.“ (Michael Geyer: „Krieg als Gesellschaftspolitik“, in: Archiv für Sozialgeschichte, Bd.26, 1986, S.558).
Wie weit die Auflösung von Kausalität im Rahmen dieses Angriffs auf den sozialtheoretischen Geschichtsansatz führt, zeigt sich auch daran, wie undifferenziert sämtliche Gewalterfahrungen gleichermaßen für die Entstehung des Faschismus verantwortlich gemacht wird:
„Dieses Projekt [die Fusion von Nationalismus und Gewalt] haben Millionen Deutsche in der Zwischenkriegszeit nicht als politisches Programm bloß gewählt, sondern das haben sie kollektiv mitproduziert. Die revolutionären Aktionen und militanten Streiks der Linken hatten, auch wenn sie sich internationalistisch verstanden, mit den Putschen und politischen Morden der nationalen Rechten gemein, Gewalt als politisches Mittel definiert und legitimiert zu haben.“ (Hannes Heer: „Killing Fields“, a.a.O., S.73).
Dem würde wohl auch der erzkonservative Historiker Ernst Nolte ohne weiteres zustimmen. Es ist mehr als vereinfachend zu glauben, daß Entwicklungen auf der Ebene des politischen Systems und der Institutionen das direkte Ergebnis individuellen Handelns sind. Das wäre ungefähr so, als würde man behaupten, daß Menschen heute Helmut Kohl wählen, weil er ihnen versprochen hat, die Bundeswehr in Bosnien einzusetzen oder die Löhne zu kürzen. Wenn das vielleicht auch das Resultat seiner Regierungspolitik sein mag, ist es nicht unbedingt das, was Menschen wirklich wollen.
Genauso vereinfachend ist die Sicht, daß die passive und aktive Übereinstimmung der Menschen mit einer bestimmten Politik zu einem bestimmten Zeitpunkt erklären könnte, warum diese Politik betrieben wurde. Der Krieg an der Ostfront war nicht die direkte Folge dessen, was Menschen wollten. Er war das Endprodukt einer gesellschaftlichen Entwicklung, der bestimmte wirtschaftliche und politische Sachzwänge zugrundelagen. Es existiert ein sehr großer Unterschied und kein direktes Verhältnis zwischen dem, was auf der Ebene des politischen Systems geschieht und dem, was einzelne Individuen wollen oder tun. Ansonsten wäre es übrigens nie zur Machtergreifung Hitlers gekommen, denn die Mehrheit der Wähler hatte noch kurz vor der Machtergreifung SPD und KPD gewählt.
Gewissen statt Wissen
Mit der Ausstellung findet keine pauschale Verurteilung der Wehrmachtssoldaten statt. Es handelt sich auch nicht um eine traditionelle Auseinandersetzung mit der individuellen und kollektiven Schuld der Deutschen. Vielmehr wird hier eine methodologische Gegenposition zum traditionellen Geschichtsverständnis fortentwickelt. Es handelt sich bei der gewählten Perspektive um einen Angriff auf ein sozialtheoretisch begründetes Geschichts- und Gesellschaftsverständnis im allgemeinen. Denn nicht mehr die Gesamtbetrachtung scheint wertvoll, um Individuen zu verstehen, sondern umgekehrt, Individuen, um das gesamte Bild zu verstehen. Nicht mehr kognitives Verstehen und wissenschaftliche Distanz sind Instrumente dieser „neuen Wissenschaft“, sondern Emotion und Moral.
Als der Direktor des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, während der Veranstaltung in der Paulskirche hervorhob, daß Wissenschafter zum Verständnis der Geschichte keine Emotionen, sondern Analyse und Distanz brauchten, wurde ihm vehement widersprochen. Hans-Ulrich Thamer begrüßte die Emotionalisierung der Geschichte, und Hannes Heer hob hervor, daß auch Emotionen „kognitive Elemente“ seien. Er lobte den „Wiedereinzug der Moral in die Geschichte“. Andere bemerkten stolz, daß man endlich von der einseitigen schuldzuweisenden Perspektive der Strukturkritik der 68er Abstand nehmen könne.
Durch diesen Perspektivenwandel, der sich bereits in vielen Bereichen der Gesellschaft durchgesetzt hat, wird Geschichte und Gesellschaft letztlich unverständlich. Die Gesellschaft kann vor dem Hintergrund ihrer scheinbaren Unübersichtlichkeit und Fragmentierung nicht mehr verstanden werden. Bei diesem Perspektivenwandel handelt es sich nicht um eine fortschrittliche Entwicklung wissenschaftlicher Ansätze, sondern vielmehr um einen Ausdruck der Fragmentierung der Gesellschaft.
Das gesellschaftliche Bewußtsein, das sich auf Grundlage dieses Ansatzes entwickelt, kann nur ein äußerst begrenztes sein, weil es sich auf den unmittelbarsten Bereich menschlicher Existenz beschränkt. Diese Art der „Aufarbeitung der Vergangenheit“ findet sich auch bei der Diskussion über die Notwendigkeit der Entwicklung der Familiengeschichte. Nicht mehr rationales Verstehen scheint heute wichtig, sondern die psychologische Aufarbeitung der eigenen, familiären Vergangenheit. Wie problematisch diese Entwicklung ist, zeigt sich am neuen Verständnis von Verantwortung, das sich aus dieser Sichtweise ergibt. Den Ausstellungsorganisatoren geht es auch darum, die Eigenverantwortlichkeit der Menschen einzufordern. Aber auch der Verantwortungsbegriff wird von den kognitiven Strukturen des Menschen losgelöst. Das Handeln der Menschen basiert jedoch ebenso wenig auf einem abstrakten moralischen Begriff von Verantwortung und Gewaltlosigkeit, sondern es wird durch das politische und gesellschaftliche Bewußtsein des einzelnen geprägt.
Während in der Vergangenheit die Übernahme individueller Verantwortung in erster Linie zunächst daran gebunden war, die Gesellschaft mit ihren Problemen und ihren Möglichkeiten zu verstehen, erscheint heute individuelle Verantwortung als Privatsache, die nicht viel Verständnis der Gesellschaft voraussetzt. Es wird letztlich ein Verantwortungsbegriff entwickelt, der sich auf moralische Appelle beschränkt und der Wissen durch Gewissen ersetzt. Ein solch ahistorischer und auf Emotionen und Moral reduzierter Begriff von Verantwortung ist sehr leicht manipulierbar. Dies zeigt sich schon daran, daß der aktuelle Diskurs über die Wehrmachtsausstellung zur Aufwertung der Bundeswehr genutzt werden kann.
Die Moralisierung von Geschichte und Gesellschaft führt letztlich auch zu einem „ängstlichen Konventionalismus“, der jede Art von Kritik am „Mainstream“ zu einer konflikt- und gewaltprovozierenden „Tat“ sofort ins Abseits rückt. Durchaus vernünftige, rationale Einwände gegen den methodischen Ansatz der Ausstellung von Historikern wurden bei der Diskussion in der Paulskirche sofort unter Verdacht gestellt, apologetisch zu sein und den Krieg und die Wehrmacht legitimieren zu wollen. Dieser Trend stimmt in der Tat sehr bedenklich. Nicht mehr wissenschaftliches Verständnis historischer Prozesse und der Versuch des Erfassens der objektiven Realität scheint heute darüber zu entscheiden, ob eine Meinung legitim ist oder nicht, sondern das vorher festgelegte moralische Gütesiegel. Eine „Verantwortungsideologie“, die Denkverbote ausspricht, ist aber das letzte, was eine Demokratie gebrauchen kann. Verantwortlich handeln kann nur, wer indiskrete Fragen stellt und zuläßt und sich nicht von Moral und Emotion, sondern von rationalem Verständnis leiten läßt.