Toleranz gibt’s nur am Stück!

Vor den anstehenden Wahlen zum EU-Parlament schallt wieder der Satz über den Kontinent: «Keine Toleranz gegenüber Intoleranten!» Aber stimmt das? Oder ist das nicht eher intolerant? Ein Plädoyer für die bedingungslose Toleranz gegenüber Worten und Gedanken.

Beinahe täglich kommt man mit Sichtweisen und Meinungen in Berührung, die man unerträglich findet. Ob Rechts- oder Linksradikalismus, Antisemitismus, religiöser Fundamentalismus, Hinterhältigkeit oder Ahnungslosigkeit – immer stellt sich die Frage, wie eine aufgeklärte und demokratische Gesellschaft damit umgehen soll. Leider entfernen sich die Gesellschaften Europas immer weiter von dem, was Toleranz eigentlich bedeutet. Schlimmer noch: Toleranz wird missverstanden und gerät zunehmend in Verruf. Es tut daher Not, den Toleranzbegriff von seinen falschen Bedeutungen zu befreien und in seiner eigentlichen Bedeutung zu verteidigen.

Tolerieren heißt: erdulden
Viele Menschen verbinden «Toleranz» mit einer Illusion aus Harmonie, Frieden und Respekt. Tatsächlich bedeutet das lateinische Verb «tolerare» aber nicht mehr als «erdulden» oder «ertragen». Von Idylle also keine Spur, denn «ertragen» kann man nur etwas, das man nicht besonders schätzt: Schmerzen zum Beispiel, Stress – oder eben abstruse Äusserungen und Standpunkte. Toleranz fällt schwer, denn sie bezieht sich immer auf etwas, das man ablehnt. Anders formuliert: Einem Standpunkt nicht zuzustimmen, ist nicht intolerant, sondern ist im Gegenteil die Voraussetzung, um Toleranz zu üben. Dinge, die ich mag, brauche ich nicht zu tolerieren, denn ich mag sie ja.

Tolerieren heißt: bewerten
Dem französischen Aufklärer Voltaire wird ein Satz zugeschrieben, der die notwendige Ablehnung des zu Tolerierenden zum Ausdruck bringt: «Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst.» Toleranz fordert die aktive Auseinandersetzung. Das unkommentierte Hinnehmen von anderen Ansichten widerspräche der Idee der Toleranz. Es ist sozusagen die Pflicht eines toleranten Menschen, sich mit ihm unangenehmen Standpunkten auseinanderzusetzen, gegen sie zu argumentieren, alles zu geben, um sie zu widerlegen und dabei auch den eigenen Standpunkt immer wieder neu zu überprüfen. Tut man dies nicht, droht Toleranz in Gleichgültigkeit abzudriften.

Toleranz bezieht sich auf alle Worte und alle Ideen
Toleranz setzt voraus, dass zwischen Ideen und Taten unterschieden wird. Rede- und Meinungsfreiheit sind die Grundpfeiler der Toleranz. Das bedeutet aber nicht, dass auch die Handlungen frei sind. Sie sind es nur, solange sie nicht die individuelle Autonomie anderer verletzten. Kritiker der völligen Redefreiheit begründen ihre «wohlmeinende Zensur» gerne damit, die Menschen vor der «Macht des Wortes» schützen zu wollen. Aufgeklärte und mündige Menschen bedürfen dieses Schutzes nicht: Sie werden durch Worte weder automatisch rechtsradikal noch alkohol- oder spielsüchtig noch springen sie aus dem Fenster, wenn sie dazu aufgefordert werden. Und Menschen, denen es an Aufgeklärtheit und Selbstbewusstsein mangelt, werden nicht dadurch mündiger und selbstbewusster, dass man ihnen vorschreibt, was sie hören dürfen. Zur Aufgeklärtheit und Mündigkeit gehört eine gewisse individuelle und auch intellektuelle Robustheit. Wer verbal austeilen können will, muss auch verbal einstecken können. Toleranz geht davon aus, dass die individuelle Autonomie durch die Rede- und Meinungsfreiheit eben nicht gefährdet, sondern durch sie gestärkt wird, da sie an Herausforderungen wachsen kann.

Toleranz gegenüber anderen ist die Grundlage der eigenen Freiheit
Warum sollen wir überhaupt tolerant sein, wenn uns das außer Ärger nur wenig bringt? Weil jeder Mensch die Freiheit haben möchte, eigenständig zu denken und seine Gedanken zu äussern, aber er möchte vor allen Dingen auch selbst entscheiden, welche Ideen er hören will und welche nicht. Und entweder alle Menschen haben diese Freiheit, oder keiner hat sie. Toleranz ist untrennbar mit der Freiheit des Einzelnen und dessen Recht auf die freie Rede und die Informationsfreiheit verbunden. Es geht der Toleranz nicht um einen rücksichtsvollen Umgang mit oder um die Gleichgültigkeit gegenüber homogenen Gruppenidentitäten (die ja nie wirklich homogen sind), sondern um die freie Entfaltung des Individuums als der tragenden Säule einer freien Gesellschaft. Somit verhindert gesellschaftlich praktizierte Toleranz auch, dass Demokratie in eine «Tyrannei der Mehrheit» und somit in eine Gleichschaltung der Gesellschaft umschlägt.

Toleranz verhindert keine Konflikte, sondern ermöglicht es, sie zivilisiert auszutragen
Toleranz schafft kein Paradies auf Erden, in dem sich all einig sind. Sie ist nur die aufgeklärteste Art und Weise, mit Konflikten umzugehen. Sie will Konflikte nicht im Keim oder im Konsens ersticken, im Gegenteil: Dadurch, dass sie Vielfalt zulässt, ermöglicht Toleranz, dass Meinungskonflikte ausgetragen werden können. Darauf beruht die Idee der Demokratie. Eine Gesellschaft, in der alle gleich denken, ist unfrei und intolerant, da sie dem Individuum keine Gelegenheit bietet, andere Sichtweise kennenzulernen und so die eigene zu entwickeln. Somit fördert und fordert Toleranz die moralische wie intellektuelle Robustheit des Tolerierenden. Denselben Effekt hat sie aber auch auf den Tolerierten, denn als gleichberechtigter Teil der offenen Gesellschaft wird er «gezwungen», am Wettbewerb der Ideen teilzunehmen, um sich Gehör zu verschaffen.

Toleranz lohnt sich
Toleranz stärkt sowohl die individuelle Autonomie als auch das gesellschaftliche Gefüge, denn sie befördert die lebendige Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Gegenwart und der Zukunft. Der Wettbewerb um die besten Ideen kann aber nur funktionieren, wenn er nicht durch Denk-, Sprech- und Hörverbote beschränkt wird. Gesellschaftliche Toleranz ist der effektivste Weg, um sich als eine Gesellschaft seiner eigenen Fundamente immer wieder aufs Neue zu vergewissern und sich zu entwickeln. Den Gedanken der Toleranz ernst zu nehmen bedeutet daher, ein positiveres Verhältnis zur Freiheit und ein grösseres Vertrauen in die eigenen Standpunkte, in die eigene Lernfähigkeit sowie in die unserer Mitbürger zu entwickeln. Und das lohnt sich!

 

Dieser Artikel ist am 20.5.14 beim Schweizer Monat erschienen.