Die angstgetriebene Verbotskultur von Links und Rechts

Der Versuch der Grünen im Europaparlament, Gerhard Schröder ein öffentliches Redeverbot zu erteilen, ist nur das jüngste Beispiel dafür, dass politische Korrektheit weder „politisch“ noch „korrekt“ ist. Doch auch die PC-Gegner sind Teil einer angstgetriebenen Verbotskultur.

Die Debatte darüber, was man in Deutschland sagen kann, was man „doch gefälligst sagen dürfen muss“, oder was man vielleicht besser einfach nicht sagt, droht zu einem reinen Ausdrucks- und Vokabelstreit zu degenerieren. Es entstehen Kontroversen um Begriffe wie „Neger“, „Zigeuner“ „schwul“ oder „normal“. Während die einen der despektierlichen und potenziell verletzenden Wortwahl den Kampf ansagen, betonen die anderen die Notwendigkeit, ihre eigenen Ansichten, die den modernen Gepflogenheiten nicht entsprechen, auch weiterhin öffentlich verbreiten zu dürfen.

Es scheint, als stünden sich hier klare Fronten gegenüber: auf der einen Seite die Anständigen, Aufgeklärten, Sanften, Kultivierten und Progressiven, die davon ausgehen, dass die Verwendung einer wohltemperierten Sprache dem Fortschrittlichen zum Durchbruch verhilft und das Zusammenleben fördert; auf der anderen Seite diejenigen, die hinter eben dieser Vorstellung die Verschwörung einer kulturellen Elite wittern, die Sprache verwendet, um eine irgendwie „linke“ Agenda durchzusetzen. In aufeinanderfolgenden Wellen fühlt sich mal die eine, mal die andere Seite in der Defensive.

Für einen aufgeschlossenen Menschen, der weder ein Problem mit Homosexuellen hat noch es für relevant hält, welche Hautfarbe jemand hat, müsste in diesem Konflikt doch eigentlich klar sein, auf welcher Seite er steht – oder etwa nicht? Die Seite der „Tabulosen“, die wider jeden Anstand ihr Recht auf Borniertheit verteidigen wollen, kann es ja wohl nicht sein. Wer stellt sich schon gern auf die Seite derjenigen, die sich gerne lauthals als „Opfer der politischen Korrektheit“ gerieren und wahllos auf die vermeintliche „Diktatur der Gutmenschen“ einprügeln?

Und doch habe ich ein mulmiges Gefühl: Muss ich als aufgeklärter Mensch wirklich daran glauben, dass das Verbieten von rückwärtsgerichtetem Denken und Reden dazu beiträgt, dass die Welt zu einer besseren wird? Einst formulierte der linksliberale Lyriker Erich Fried in seinem sarkastisch gemeinten Gedicht „Die Maßnahmen“ in überspitzter Form diese Logik zu Ende: „Die Hässlichen werden geschlachtet, die Welt wird schön / Die Narren werden geschlachtet, die Welt wird weise…“ Muss ich mich also entweder auf die Seite der Dummen und Hässlichen schlagen oder auf die Seite ihrer Schlächter?

Ich denke nicht, dass wir heute vor der Wahl zwischen Anständigkeit und Tabulosigkeit stehen. Tatsächlich zeichnet sich unsere Gesellschaft durch ein Schrumpfen individueller Freiräume und eine zunehmende Regulierung unterschiedlichster Lebensbereiche aus. Wo hier ein gesellschaftlicher Hang zu Maßlosigkeit oder gar „Tabulosigkeit“ sein Unwesen treiben soll, vermag ich nicht zu erkennen. Ebenso wenig erscheint mir in einem so stark von Zynismus und Misstrauen geprägten sozialen Klima Anständigkeit und Aufgeklärtheit ein Raum greifender Trend zu sein. Insofern halte ich auch die Debatte über das Pro und Contra „politischer Korrektheit“ für wenig hilfreich. Tatsächlich sind sich die beiden Seiten in diesem Konflikt sehr viel ähnlicher, als sie glauben: Beide eint das tiefsitzende Misstrauen gegenüber den Menschen und der daraus folgende Impuls, ihnen Vorschriften zu machen.

Die Verfechter der „politischen Korrektheit“ befürchten den Verlust zivilisatorischer Errungenschaften und den moralischen Dammbruch, wenn die Menschen ohne ein genau festgelegtes Korsett von Werten und wertebasierten Regeln ihrem Denken und ihrem Sprechen freien Lauf lassen. Diese Furcht ist so groß, dass sie sich nicht nur auf das Verbreiten moralisch hochwertiger Sprachtipps beschränken, sondern eine deutliche Einschränkung des Rechts auf freie Meinungsäußerung fordern.

Der Versuch der Grünen im Europaparlament, dem früheren sozialdemokratischen Bundeskanzler Gerhard Schröder nach unliebsamen Zeitungsinterviews ein öffentliches Redeverbot zu erteilen, ist nur das jüngste Beispiel dafür, dass politische Korrektheit Teil einer Weltsicht ist, die weder im eigentlichen Sinne „politisch“ noch „korrekt“ ist. Geht es gegen die Feinde dessen, was als Zivilisiertheit, guter Geschmack oder einfach auch nur als die richtige moralische Überzeugung gilt, werden schnell Begriffe wie „Leugner“ und Maßnahmen wie Ausgrenzungen oder Verbote bemüht, um der Niedertracht Einhalt zu gebieten und der Fortschrittlichkeit zum Durchbruch zu verhelfen.

Keinen Deut besser sind natürlich konservative Aktivisten und Polemiker: Sie befürchten einerseits den Untergang ihrer traditionellen Moralvorstellungen und nutzen andererseits die angstgetriebene Verbotskultur ihrer politischen Gegner, um sich selbst als Freiheitsapostel aufzuspielen. Dass ihnen das in der Wahrnehmung mancher gelingt, liegt nicht an der eigenen Überzeugungskraft. Denn tatsächlich ist auch ihnen Rede- und Meinungsfreiheit sowie die Achtung vor dem Individuum nicht nur ein Dorn im Auge, sondern abgrundtief zuwider. Die beiden vermuteten Kontrahenten in diesem Konflikt sind also das glatte Gegenteil von dem, was man aufrichtigerweise „tabulos“ oder „anständig“ nennen könnte. Der beidseitige Impuls, Menschen wie Festplatten zu behandeln, die mit radikalen Anti-Viren-Programmen in ihrer Reinheit zu beschützen sind, da sie ansonsten die heile Welt mit falschem Denken und Handeln infizieren, ist zutiefst unanständig. Und wenn daran etwas tabulos ist, dann höchstens die Tatsache, dass kaum jemand noch ein Blatt vor den Mund nimmt, wenn es darum geht, den Menschen die Fähigkeit abzusprechen, eigenständig und ohne moralische Leitplanken sinnvolle Entscheidungen zu fällen.

Wenn sich also die Kontrahenten in der Debatte um die politische Korrektheit letztlich in ihrer Hauptdiagnose einig sind, dass der Gesellschaft ein Zuviel an Freiheit nicht gut bekommt und schon die heute gewährten Freiheiten eigentlich ein Zuviel sind, dann wird deutlich, dass hier eigentlich eine ganz andere Diskussion zu führen wäre: eine über die humanistischen Fundamente eines Gemeinwesens, das sich und seinen Mitgliedern traut, frei zu sein, und das sich zutraut, seine Freiheit zu bewahren, ohne dabei selbst unfrei zu werden.

Eine solche Gesellschaft setzt ein Menschenbild voraus, in dem Anständigkeit nicht durch Umerziehung oder Gängelung in die eine oder andere Richtung erzwungen werden muss, sondern durch eine möglichst freie Entfaltung und einen freien Wettstreit um die besten politischen Ideen entsteht. Wenn wir diesen Wettstreit scheuen, da wir bezweifeln, dass den Menschen die Robustheit und das Interesse daran grundsätzlich fehlen, brauchen wir über Demokratie als gesellschaftliches Anständigkeits-Ideal nicht weiter reden.

Timo Stein schrieb in seinem Cicero-Artikel („Für die neue Rechte ist Deutschland ein totalitärer Staat“): „Gesellschaften, die zu autoritären wurden, haben zuallererst den Kampf um die Sprache verloren.“ Wenn er damit den Kampf um die Freiheit der Sprache als Ausdruck des eigenständigen Denkens meint, so hat er Recht.

Dieser Artikel ist heute auf Cicero Online erschienen.