EU: Was Überregulierung und Demokratiedefizit mit der Ukraine zu tun haben

Die Europäische Union wird von einer Kommission geleitet, die der demokratischen Kontrolle durch die EU-Bürger vollständig entzogen ist. Die nationalen Regierungen verlagern immer mehr Kompetenzen nach Brüssel, wo dann die wirklich wichtigen Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden. Welche Art von Politik dort gemacht wird, spüren EU-Bürger jeden Tag. Und auch die Ukrainer spüren sie schon jetzt.

Die anstehenden Wahlen zum Europaparlament finden in einem politischen Großraum statt, in dem tatsächlich „europäische Politik“ nicht diskutiert wird. Deutlich macht dies der Wahlkampf der Parteien: Europäische Parteien wie die „Europäische Volkspartei“ treten gar nicht zur Wahl an, stattdessen wählt jede Nation ihre eigenen nationalen Parteien, deren Stimmanteile anschließend auf die europäischen Parteizusammenschlüsse umgerechnet werden. Es werden auch keine europäischen Themen im Wahlkampf in den Vordergrund gerückt, sondern innenpolitische Debatten fortgesetzt. Daher kann es nicht verwundern, dass bei den Wahlen zum EU-Parlament im Vergleich zu nationalen Parlamentswahlen regelmäßig nur wenige Wähler ihre Stimme abgeben. Die Europawahlen sind bestenfalls als Barometer für die politische Stimmung im jeweiligen Land. Die Kandidaten für EU-Kommission und EU-Parlament sind in der Regel Politiker, die entweder ihren politischen Zenit bereits überschritten oder auf nationaler Ebene den Durchbruch nie geschafft haben. So kann bei den Wählern natürlich kein Enthusiasmus und kein europäisches Demokratieverständnis entstehen.

Eine tatsächlich europäische Demokratie könnte nur funktionieren, wenn es einen vereinten europäischen „Souverän“ gäbe, der auch tatsächliche Entscheidungsgewalt über die Führung der EU-Kommission hätte. Daran besteht aber weder in Brüssel noch in Europas Hauptstädten großes Interesse. Im Gegenteil: Die Möglichkeit, ganze Kompetenzbereiche nach Brüssel abschieben zu können, wird von nationalen Regierungen trotz anderslautender Rhetorik gerne genutzt. Je größer die Distanz zwischen den nationalen Eliten und ihren jeweiligen „Wahlvölkern“ wird, desto stärker ist die Tendenz, unliebsame und potenziell kontroverse Angelegenheiten auf eine höhere Ebene zu verlagern. Diese Tendenz hat das Brüsseler Gebilde, auf das Wähler wie auch manche Politiker heute schimpfen, überhaupt erst entstehen lassen. Wenn Politiker sich in Wahlkampfzeiten darüber erregen, dass Brüssel eigenmächtig nationale Souveränitäten untergrabe, zeugt dies entweder von blanker Unwissenheit und Unkenntnis der politischen Prozesse oder aber von abgrundtiefer Verlogenheit.

Die Entfremdung der politischen Eliten von der Bevölkerung ist auch die Triebfeder der europäischen Kontroll- und Überwachungspolitik. Sie basiert auf einem sehr grundlegenden Misstrauen gegenüber den Menschen und deren Fähigkeit, sinnvoll und eigenständig in Freiräumen agieren und ohne eine komplette Durchregulierung aller Lebensbereiche existieren zu können. Der freiheitsfeindliche Impuls lässt Brüssel instinktiv genau die politischen Themenbereiche aufgreifen, die diesem Menschenbild entsprechen: Frauenpolitik, Umweltpolitik und Mark- und Wirtschaftsregulierung mittels Verbraucherschutz sind nicht umsonst diejenigen Bereiche, in denen die EU am aktivsten ist.

Sowohl die ideologische Verunsicherung der Eliten als auch das starke Misstrauen gegenüber den Menschen, die man ohnehin lieber als passive Verbraucher denn als aktive Bürger sieht, sind keine neuen Phänomene; tatsächlich bildeten beide zusammen den Grundstein des „europäischen Einigungsprozesses“ nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Der tiefe Pessimismus, die ökonomische Zerstörung, die völlige Diskreditierung alter Nationalismen und rassistischer Ideologien sowie der gewachsene machtpolitische wie ideologische Einfluss der Sowjetunion in Europa (in Ost- wie in Westeuropa, sogar in Westdeutschland, wie das Ahlener Programm der CDU von 1947 zeigt, in dem die „Vergesellschaftung der Großindustrie“ gefordert wurde) und in der Welt stellten die herrschenden Kreise im Nachkriegseuropa vor geradezu unlösbare Probleme. Den einzig möglichen Ausweg schien eine Einigung auf europäischer Ebene zu bieten: zum einen, um künftig die Eskalation zwischenstaatlicher Spannungen nicht eskalieren zu lassen, und zum anderen, um eine Ebene der kontinuierlichen Politik zu entwickeln, die nicht unmittelbar unter demokratischer Kontrolle des entfremdeten politischen Souverän stand. Die von vielen Menschen nach zwei Weltkriegen geteilte positive Vision eines vereinigten und somit friedlichen Europas machte es den entkräfteten politischen Führungen leicht, für ihr europäisches Projekt Zustimmung zu gewinnen. Allein, bis heute ist Europa „ihr“ Projekt, nämlich ein Elitenprojekt geblieben, in dem demokratische Prozesse bestenfalls Alibifunktionen erfüllen.

Der Gründungsmythos der Europäischen Union, Europa als „Kontinent des Friedens“ neu aufzubauen, ist somit zutiefst faul: Die Überwindung nationaler Interessen war nie das Ziel, auch nicht die Schaffung einer kontinentalen Demokratie. Stattdessen bot „Europa“ die Möglichkeit, nationale Interessen und Konflikte auf einer der Öffentlichkeit und der demokratischen Kontrolle entzogenen Ebene besser und diskreter managen zu können. Bis heute gilt „Europa“ als bestes Argument dafür, demokratische Entscheidungen, ja sogar gewählte Regierungen und Volksentscheide hinwegzufegen. Dass Brüssel davor innerhalb der EU-Grenzen zurückschreckt, zeigen die Entwicklungen der letzten Jahre, angefangen von den Volksentscheiden zu den Verträgen von Lissabon bis hin zu den im Zuge der Finanzkrise etablierten „Rettungsmechanismen“ für Italien und Griechenland. Auch in der EU-Außenpolitik zeigt sich diese Geringschätzung demokratischer Gepflogenheiten. Heute drängt sich der Eindruck auf: Sobald irgendwo jemand auf die Idee kommt, eine demokratisch gewählte Regierung durch eine Regierung aus Experten (innerhalb der EU) oder aus oppositionellen EU-Fans (außerhalb der EU) zu ersetzen, gibt Brüssel grünes Licht.

Das aktuelle Beispiel der Ukraine verdeutlich besonders anschaulich, wie unbedacht und rein intuitiv die Europäische Union mittlerweile Außenpolitik betreibt und wie gern man in Europas Hauptstädten bereit ist, unliebsame nationale Regierungen, selbst wenn diese demokratisch gewählt sind, aus dem Weg zu räumen. Das „Society-Building von oben“ hat hier eine neue Dimension erreicht: Zunächst wird dem ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch die Pistole auf die Brust gesetzt, er möge sich doch auch ohne konkrete Hilfszusagen gefälligst eindeutig auf die Seite der EU schlagen und konkrete Hilfsangebote Russlands dafür ausschlagen. Dass dieser sich dieser halbseidenen Strategie versagt, kann rückblickend betrachtet als Startschuss für die EU-Politik des von außen betriebenen Regimewechsels angesehen werden.

Die Propagandamaschine gegen Janukowitsch und Putin kommt ins Rollen: Europas Eliten ernennen den „Maidan“ in der Ukraine ungeachtet der dortigen Verhältnisse und ungeachtet der demokratischen Legitimität der erst im März 2010 gewählten Regierung kurzerhand zur Keimzelle der ukrainischen Demokratie; man hofiert die politisch völlig unerfahrenen, zerstrittenen, orientierungslosen und eher an „Occupy“ erinnernden Zusammenschlüsse der „Maidan-Kämpfer“ und erklärt sie zu den wahren Repräsentanten des ukrainischen Volkes und zu „demokratischen Revolutionären“, die es bedingungslos zu unterstützen gilt. Dass der Maidan keineswegs nur liberale Demokraten beherbergt und sich bis heute Gerüchte halten, denen zufolge die gewaltsame Eskalation vor Ort möglicherweise nicht von Janukowitsch, sondern aus den Reihen der Oppositionellen selbst betrieben wurde, um die westliche Öffentlichkeit zu mobilisieren, fällt da kaum mehr ins Gewicht. Denn die Abhängigkeit des Maidan von der Zustimmung der „Weltgemeinschaft“ ist so erdrückend, dass von diesen aus der Sicht Brüssels keine Gefahr ausgehen wird.

Als die „weltweite Sympathie“ für den Maidan Janukowitsch zum Abtauchen zwingt, schlägt die Stunde der „Maidan-Revolutionäre“ – die nun plötzlich gar nicht mehr so basisdemokratisch, bunt und friedliebend mehr sind: Als erste Amtshandlung der Interimsregierung wird die Abschaffung der russischen Amtssprache in Aussicht gestellt. Während sich die westliche Öffentlichkeit noch an der Korruptheit und der Selbstbereicherung von Janukowitsch ergötzt, rücken Rechtsradikale und erklärte Antisemiten auf „Ministerposten“ vor. Dass daraufhin nicht nur der prorussische Bevölkerungsteil der Ukraine, sondern auch Russlands Präsident Vladimir Putin reagiert, kann eigentlich niemanden irgendwo überraschen. Doch in Brüssel schlägt dies ein wie eine Bombe. Tatsächlich schien es die EU-Außenpolitik unvorbereitet zu treffen, dass Russland einen bislang eng befreundeten Staat, auf dessen Boden, auf der Halbhinsel Krim, es zudem einen eigenen riesigen Flottenstützpunkt unterhält, nicht einfach so in das „feindliche“ Lager wechseln lässt.

Während Putin nun also – nicht ungeschickt – nun darauf hofft, dass die mehrheitlich russische Bevölkerung auf der Krim sich in einer Abstimmung für den Anschluss an Russland ausspricht, empören sich die Brüsseler „Revolutionäre von oben“ ob der diktatorischen und den Weltfrieden gefährdenden Expansionspolitik Russlands. Man muss beileibe kein Freund autoritärer Führer wie Janukowitsch oder Putin sein, um die beispiellose Verlogenheit der europäischen Ukraine-Politik anzuprangern. Tatsächlich hat politische Sprache selten die Realitäten so eklatant auf den Kopf zu stellen versucht wie in diesem Konflikt.

Allein, verwundern sollte dies uns nicht: Einer Staatenunion, die sich auch innerhalb ihrer Grenzen über den demokratisch geäußerten Willen ihrer Bevölkerung hinwegsetzt oder ihn ignoriert, demokratisch legitimierte nationale Regierungen zu Fall bringt und zudem die Kontrolle des alltäglichen öffentlichen wie privaten Lebens in ungekannte Perversionen treibt, außenpolitisch moralische Autorität und Glaubwürdigkeit zusprechen zu wollen, zeugt von eklatanter politischer Naivität. Seit Jahrhunderten versuchen innenpolitisch ins Straucheln geratene Regierungen, auf dem Wege der Außenpolitik verloren gegangene Autorität zurückzugewinnen. Und immer ging diese Taktik zulasten der Rechte und Freiheiten der Menschen. Dass die EU 2012 den Friedensnobelpreis zugesprochen bekam, zeigt, wie gut diese Taktik noch heute funktioniert. Bürger, die sich für Freiheit und Toleranz einsetzen wollen, tun gut daran, die europäische Außenpolitik nicht als ein von der europäischen Innenpolitik losgelöstes Gebilde zu betrachten. Gerade in Zeiten der Globalisierung bilden beide Politikbereiche die zwei Seiten derselben Medaille. Und diese Medaille hat für freiheitsliebenden Menschen keinen Wert, weder in der EU noch in der Ukraine.

 

Der Artikel ist heute auf der Website von „Bürger für Freiheit und Toleranz e.V.“ erschienen (dort mittlerweile nicht mehr verfügbar).