… und integriert sie als gleichberechtigte Wettkämpfe in das olympische Programm. Nur so lassen sich sportliche Fairness und Gleichstellung behinderter und nicht behinderter Sportler unter einen Hut bringen.
(Erschienen in der „Financial Times Deutschland“ am 27. Juli 2012)
Soll mit Oscar Pistorius erstmals ein amputierter Sportler bei Olympischen Spielen gegen Nichtbehinderte antreten dürfen? Wie bereits vor vier Jahren erhitzt diese Frage auch heute die sportinteressierten Gemüter. „Nein, denn mit seinen Karbonprothesen hat er gegenüber nicht behinderten Konkurrenten einen Vorteil, und das ist unfair“, sagen die einen. Zudem verstoße das Laufen auf Karbonfedern gegen die Idee des natürlichen Sports. „Doch, er soll teilnehmen dürfen“, sagen andere, „dies ist ein wichtiger Schritt für die Gleichstellung von Behinderten.“ Außerdem habe Pistorius durch die Verwendung der Karbonfedern keinen Vorteil, da sie in ihrer Wirkung gesunden menschlichen Beinen entsprächen.
Beim Thema Pistorius wird sowohl auf sportlicher Ebene (Fairness im Wettkampf) als auch auf gesellschaftlicher Ebene (Gleichberechtigung von Behinderten) argumentiert: ein Phänomen, das wir heute bei zahlreichen Sportthemen beobachten können. Es scheint aber, als seien in diesem Fall die beiden Zielsetzungen – sportliche Fairness und Gleichberechtigung – nicht in Einklang zu bringen.
Dies wird an der Emotionalität der Debatte sowie an der Bereitschaft deutlich, auch widersprüchliche Argumente zur Verteidigung der „wichtigen Sache“ zu verwenden. So sprechen sich viele derjenigen, die den Start von Pistorius befürworten, gleichzeitig vehement gegen jede Anwendung leistungssteigernder Substanzen und Methoden im Sport aus. Dies ist widersprüchlich, da die Laufprothesen des Südafrikaners zweifellos Hilfsmittel zur widernatürlichen Leistungssteigerung sind. Es ist daher wichtig, die einzelnen Argumente auseinanderzuhalten und einzuordnen, um einen Ausweg aus dem vermeintlichen Dilemma zu finden.
Der Einwand, der Start von Pistorius verstoße gegen die „Natürlichkeit“ des Leistungssports, basiert auf einem Denkfehler. Der moderne Leistungssport ist ein gesellschaftliches und kulturelles Phänomen und per se nicht natürlich. Die Natur „leistet“ nichts, und sie ist auch nicht sportlich. Zudem entspricht es auch nicht der „natürlichen“ Beschaffenheit des menschlichen Körpers, auf gezielte Art und Weise und mitunter sehr einseitig austrainiert zu werden, wie es der Hochleistungssport erfordert. Weder würde der BMI eines Marathonläufers noch der eines Schwergewichtsboxers oder Gewichthebers als „natürlich“ oder gar „gesund“ gelten.
Hilfsmittel sind gang und gäbe
Technische Hilfsmittel sind im Sport seit Jahrzehnten gang und gäbe. Pistorius wegen des Einsatzes solcher Hilfsmittel nicht an den Start gehen zu lassen würde die Entwicklung des modernen Leistungssports ad absurdum führen. 1:0 für Pistorius.
Viele Kommentatoren machen die Rechtmäßigkeit der Zulassung von Oscar Pistorius zu den olympischen Laufwettbewerben davon abhängig, ob der Südafrikaner durch die beiden Sprungfedern einen messbaren Vorteil gegenüber anderen Läufern hat. Im Jahr 2007 kam Professor Gert-Peter Brüggemann, Leiter des Instituts für Biomechanik und Orthopädie an der Deutschen Sporthochschule Köln, zu dem Ergebnis, dass Pistorius sehr wohl Vorteile habe. Rund ein Jahr später wurde das auf Basis dieses Gutachtens vom Leichtathletikweltverband verhängte Startverbot vom Internationalen Sport-Gerichtshof (CAS) jedoch aufgehoben. Ein neues Gutachten war zu dem Schluss gelangt, dass die Vorteile, die Pistorius auf der geraden Strecke habe, durch seine Nachteile beim Start und in den Kurven ausgeglichen würden.
An der Frage, ob Karbonfedern und menschliche Beine vergleichbar sind, scheiden sich bis heute die Geister. Sollten sie Pistorius einen Vorteil verschaffen, wäre der Vorwurf der Unfairness berechtigt. Dies schließt aber nicht die Möglichkeit aus, dass in Zukunft Laufprothesen entwickelt werden könnten, die tatsächlich menschlichen Beinen entsprächen. Die Skepsis gegenüber der Entscheidung des CAS ist auch innerhalb der Sportwelt weiterhin groß, weshalb ich mich in dieser offenbar noch nicht abschließend geklärten Frage für ein torloses Remis entscheide. Es bleibt also dabei: 1:0 für Pistorius.
Viele Menschen sehen im Start von Pistorius bei den olympischen Laufwettbewerben einen wichtigen Schritt in Richtung der Gleichstellung von Behinderten in der Gesellschaft. Was aber oft verkannt wird: Die Gleichstellung von Behinderten und Nichtbehinderten basiert gerade nicht auf einer Gleichbehandlung. Schließlich bliebe bei einer tatsächlichen Gleichbehandlung ein Rollstuhlfahrer auf der Strecke. Es sind gerade die offensichtlichen Nachteile behinderter Menschen, die die Gesellschaft dazu ermutigen, die daraus entstehenden Benachteiligungen so gut wie möglich auszugleichen. Durch die Förderung von Behinderten behandelt man sie als das, was sie sind: nicht gleich, aber gleichwertig.
Viele behinderte Menschen sind zu Höchstleistungen fähig. Sie verdienen dafür denselben Respekt wie nicht behinderte Menschen, auch ohne sich in sportlichen Wettkämpfen gegen diese behaupten zu müssten. Wer solches fordert, bewertet sportliche Leistungen von Behinderten über den Vergleich mit Nichtbehinderten, was zu Recht als behindertenfeindlich gilt. Die Berücksichtigung körperlicher Unterschiede im Sport ist gerecht und zudem gängige Praxis, nicht nur in Bezug auf Behinderte und Nichtbehinderte. Nicht zu Unrecht treten Hammerwerferinnen und Hammerwerfer nicht gegeneinander an. Die Trennung der Geschlechter führt dazu, dass die Leistungen von Frauen und Männern an sich wertgeschätzt werden.
Innerhalb vieler Sportarten geht die Klassifizierung sogar noch weiter: Im Boxen oder Ringen entscheiden manchmal wenige Gramm Körpergewicht darüber, ob Fairness gewährleistet ist oder nicht. Pistorius ist ein tatsächlicher Ausnahmeathlet, auch dann, wenn er Zeiten erreichen kann wie ein Läufer auf zwei Beinen. Die Behauptung, es sei per se ungerecht oder behindertenfeindlich, ihn nicht gegen Nichtbehinderte antreten zu lassen, entspricht nicht der Realität. Ein Punkt gegen Pistorius: 1:1.
Wenig Beachtung wurde bislang einem anderen Aspekt geschenkt, der in der Tat den Einsatz von Sprungfedern zu einer Wettbewerbsverzerrung macht: Bislang galt es als unumstößliches Prinzip, dass ein fairer Wettbewerb nur dann möglich sei, wenn alle Teilnehmer die Möglichkeit hätten, dieselben Hilfsmittel einzusetzen. Dieser Akt der Gleichbehandlung ist bei den Karbonfedern von Pistorius nicht möglich – ein gesunder Läufer müsste sich hierzu beide Unterschenkel amputieren lassen.
Ausgrenzung ist ein Anachronismus
Es ist also nicht der Einsatz leistungssteigernder Technologien und Hilfsmittel an sich, der ein Problem darstellt, sondern die Tatsache, dass diese in diesem Fall nicht von allen Athleten verwendet werden können. Was zählt, ist weniger der tatsächliche Vorteil, den ein Hilfsmittel bringt, sondern die Frage, ob alle Konkurrenten die Möglichkeit haben, sie einzusetzen. Dass diese Möglichkeit nicht existiert, ist der entscheidende Grund, warum Pistorius nicht zu den Laufwettbewerben Nichtbehinderter hätte zugelassen werden dürfen. 2:1 gegen Pistorius.
Trotz aller Skepsis gegenüber dem Start von Pistorius wirft seine Ambition, Südafrika bei den Olympischen Spielen in London vertreten zu dürfen, eine interessante Frage auf: Warum sollen behinderte Athleten eigentlich nicht bei Olympia starten, wenn wir deren Leistungen doch ebenso wertschätzen wie die nicht behinderter Sportler? Wozu brauchen wir eigentlich die Paralympischen Spiele?
Die Ausgrenzung von Behinderten ist ein Relikt vergangener Zeiten. Diese Sichtweise haben aufgeklärte Gesellschaften lange verinnerlicht und streben an, Benachteiligungen zu reduzieren. Dies sollte auch für die größte Sportveranstaltung der Welt gelten. Ich würde Pistorius gern bei den Olympischen Spielen sehen – doch nicht nur ihn und nicht deshalb, weil er mit nicht behinderten Läufern Schritt halten kann. Pistorius soll in olympischen Wettbewerben gegen andere amputierte Läufer um olympische Medaillen kämpfen dürfen, ebenso wie Rollstuhlbasketballer, behinderte Tischtennisspieler, Schützen und Schwimmer in ihren Disziplinen.
Mein Vorschlag lautet daher: Schafft die Paralympischen Spiele als Parallelveranstaltung ab und integriert sie als gleichberechtigte Wettkämpfe in das olympische Programm. Damit wäre sowohl den Interessen derjenigen, die auf die prinzipielle Chancengleichheit im Leistungssport pochen, wie auch den Interessen derjenigen, die sich für die Anerkennung der Leistungen behinderter Menschen einsetzen, gleichermaßen Rechnung getragen. Das wäre ein echter Fortschritt – für Pistorius, für alle behinderten und nicht behinderten.