Das Bundessozialgericht in Kassel hat entschieden, dass die Krankenkassen gesunden Männern mit Glatze keine Toupets bezahlen müssen. Gut so.
Die Richter des dritten Senats des Bundessozialgerichts in Kassel räumten in ihrer gestrigen Entscheidung zwar ein, dass im Falle eines krankhaften und vollständigen Haarausfalles, der auch Brauen, Wimpern und Bart beträfe und somit eine entstellende Wirkung habe, Krankenkassen männlichen Patienten Perücken bezahlen müssten. Der übliche Haarausfall böte dafür keinen Anlass. Geklagt hatte der 76jährige Kurt H., der noch bis 2006 von seiner Krankenkasse eine Perücke bezahlt bekam, danach aber nicht mehr. Er hatte in mehreren Verfahren und Instanzen geltend gemacht, stark unter seiner Glatze zu leiden und sich benachteiligt zu fühlen, weil Frauen in vergleichbaren Fällen eine Perücke bezahlt bekämen.
Bei Männern und Frauen ist der Haarverlust in 90 bis 95 Prozent der Fälle auf eine androgenetische Alopezie (AGA) zurückzuführen, es handelt sich um „Haarausfall durch männliche Hormone“. Ausgelöst wird er durch eine genetisch bedingte Überempfindlichkeit der Haarfollikel gegen das Steroidhormon Dihydrotestosteron (DHT), die in der Regel im Alter fortschreitet. Insgesamt ist der durch die AGA ausgelöste Haarausfall bei Männern weitaus stärker ausgeprägt als bei Frauen: Während bei Männern selbst eine Vollglatze keine Seltenheit ist, dünnt bei Frauen das Haar zumeist nur im Bereich des Mittelscheitels aus.
Auch wenn der Mensch seit Jahrtausenden versucht, dem Haarausfall beizukommen – ein wirklich wirksames Gegenmittel oder eine Prophylaxe gibt es nicht. Die Glatze hat zwar biologische Ursachen, aber keine medizinischen Konsequenzen. Anders formuliert: Haarausfall stellt keine Krankheit dar, und er ist auch nicht per se entstellend. Dies oder die Beeinträchtigung von Körperfunktionen muss aber gegeben sein, um eine Kostenübernahme durch Krankenkassen im Sinne von § 33 Absatz 1 SGB V zu rechtfertigen. So sahen es zumindest die Kasseler Richter. Sie argumentierten zudem, dass eine Vollglatze bei Männern viel häufiger auftrete als bei Frauen und entsprechend akzeptiert sei, weshalb es auch keine ungerechte Ungleichbehandlung darstelle, Frauen, bei denen zudem das Auftreten einer Vollglatze zumeist tatsächlich krankheitsbedingt sei, in einer solchen Situation die Kosten einer Perücke zu erstatten.
Diese Entscheidung ist aus mehreren Gründen zu begrüßen: Der Haarausfall ist, genau wie Augenfarbe, Körpergröße oder Gesichtsform, eine Erscheinung, die bisher nicht in Form einer Krankenkassenleistung zu beeinflussen ist. Sie mag uns in Einzelfällen nicht gefallen, aber sie stellt auch keine objektive Benachteiligung oder gar Behinderung dar. Sie ist lediglich eine individuelle Eigenschaft, wie wir Menschen sie millionenfach besitzen. Dass derartige Eigenschaften als „medizinisch behandlungswürdig“ betrachtet werden soll, kann allein schon aus Sicht der Beitragszahler nicht gefallen. Das eigentliche Problem geht jedoch weit über die Kostenfrage hinaus, es betrifft unsere Sicht auf unsere eigene Menschlichkeit.
Wir leben in einer Gesellschaft, in der eine wachsende Zahl von Menschen, anstatt beruflich oder gesellschaftlich hohe Ziele verwirklichen zu wollen, sich mit ihren Ambitionen und Engagements, aber auch mit ihren Erwartungen und Zielen auf das Privatleben ausrichtet. Work-Life-Balance gilt heute mehr vielen mehr als Karriere und das Aufgehen im Berufsleben fast schon per se als potenzieller Indikator persönlicher Defizite. Dieser Rückzug ins Private hat sehr häufig auch eine Betonung des Körperlichen, also von äußerer Schönheit, von Gesundheit und Fitness zur Folge.
Die Bedeutung des eigenen Looks zeigt sich nicht nur im gängigen Body-Shaping und dem Streben nach körperlich-geistiger Balance, sondern auch in der enorm gestiegenen gesellschaftlichen Akzeptanz von Tattoos und Piercings als Symbole von Individualität und Selbstbewusstheit. Dies ist deswegen vielen Menschen so wichtig, da die Gestaltung des eigenen Aussehens einer der wenigen Bereiche ist, in denen noch das Gefühl vorherrscht, sich selbst verwirklichen und unmittelbar ausdrücken zu können. Das gewünschte Aussehen spielt heute eine zentrale Rolle bei der Selbstvergewisserung vieler Menschen, gerade weil andere Bereiche, in denen man in der Vergangenheit Anerkennung und Selbstwert „tanken“ konnte, an Bedeutung für das Individuum verloren haben.
Die wachsende Bedeutung des Aussehens für das individuelle Wohlbefinden von Menschen hat auch eine Kehrseite: Denn umgekehrt ist die Unzufriedenheit mit der eigenen Optik ein weit verbreiteter und ebenfalls völlig akzeptabler Auslöser existenzieller Sinn- und Lebenskrisen – nicht nur bei pubertierenden Jugendlichen, sondern auch bei Erwachsenen. Der zu beobachtende Rückzug ins Private und Körperliche wird in solchen Fällen zur Sackgasse: Da man der modernen Lebensführung folgend nicht nur ist, was man isst, sondern auch persönliche Qualität gerne auf äußerliche Attraktivität und körperliche Fitness reduziert wird, stellen individuelle Eigenschaften, die eben nicht mit diesen Idealen in Einklang zu bringen sind, einen erheblichen Makel dar. Da ist es dann auch völlig unerheblich, ob sie gesundheitliche Beeinträchtigungen sind oder nicht.
In dem Maße, in dem physische Stärke und Schönheit zu existenziell wichtigen menschlichen Eigenschaften stilisiert werden, ist auch eine gegenläufige Trotzreaktion zu beobachten: Die Rede ist von der Selbstvergewisserung durch die eigene körperliche Schwäche und das eigene Leiden, die dem Individuum eben nicht als „Gewinnertyp“, sondern als „Opfer“ von Schicksalsschlägen besondere Glaubwürdigkeit und Authentizität verleihen. Den attraktiven Lebensweisheiten „Du bist, was Du isst“ und „Wahre Schönheit kommt von innen“ wird so auf der Kehrseite eine weitere hinzugefügt: „Es zählt nicht, was Du machst, sondern was Du durchmachst.“ Gemein ist beiden Leitsätzen die Suche nach Anerkennung der individuellen Identität allein auf Basis der eigenen Körperlichkeit.
In diesem Zusammenhang erscheint es nur allzu logisch, dass die Vorstellung, man habe ein einklagbares „Menschenrecht“ darauf, ohne bestimmte Makel leben zu können, inzwischen durchaus verbreitet ist. Sichtweisen wie diese sind sogar von solcher Gewichtigkeit, dass sich mittlerweile Gerichte in etlichen Instanzen mit der Frage befassen müssen, ob eine Glatze bei Männern als ein solcher Makel zu gelten hat, der auf Kosten gesetzlicher Krankenkassen zu beheben ist, um dem Betroffenen ein gleichberechtigtes und würdiges Leben zu ermöglichen.
Es ist eine gute Nachricht, dass das Bundessozialgericht hier klargestellt hat, dass Krankenkassen für die Behandlung tatsächlicher Krankheiten, nicht aber für die Optimierung von Allerweltsphänomen wie dem unbedenklichen und gewöhnlichen Haarausfall aufzukommen haben. Das Urteil schiebt der schrittweisen gesetzlichen Verankerung der Opferkultur zumindest an diesem Punkt einen vorläufigen Riegel vor. Frauen und Männer sollten sich nicht auf ihr Aussehen reduzieren lassen – und das auch nicht selbst tun. Wir sind weitaus mehr wert als die Summe unserer Haare.
Der Artikel ist am 23.4.15 in der BFT Bürgerzeitung erschienen.