Die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer machen sprachlos – nicht nur wegen der schier unglaublichen Zahl der Opfer, sondern auch wegen der Ausbrüche von Heuchelei, die sie ein ums andere Mal in Europas Hauptstädten auslösen. Dabei brauchen nicht nur Flüchtlinge offene Grenzen, wir brauchen sie auch!
Welche Organisation hat in den letzten 10 Tagen mehr als 1100 und in den letzten knapp 12 Jahren mehrere Zehntausend unschuldige Menschen auf dem Gewissen? Nein, die Rede ist nicht vom „Islamischen Staat“ oder von „Boko Haram“, die Rede ist von der Friedensnobelpreisträgerin des Jahres 2012, der „Europäischen Union“. Sie tut alles dafür, damit Flüchtlinge aus Afrika oder aus dem brennenden Nahen Osten keine andere Möglichkeit der Einreise nach Europa sehen als die Überfahrt in halb abgewrackten Fischerbooten. Die EU-Grenzpolitik macht das Mittelmeer zu einem Massengrab ungekannten Ausmaßes. Alle Hinweise auf „kriminelle Schlepperbanden“ – in anderen politischen Zusammenhängen nennt man sie auch Fluchthelfer – oder aber auf die Verantwortung der arabischen Mittelmeeranrainer, die Menschen gefälligst und notfalls gewaltsam vor dem Tod durch Ertrinken in EU-Gewässern zu bewahren, können nicht von der entscheidenden Tatsache ablenken: Die Europäische Union führt seit Jahren einen blutigen Krieg gegen Immigranten.
Die EU – ein moralisch gescheitertes Gebilde
Natürlich sieht das Europas politische Elite ganz anders. Sie wähnt sich im stetigen Kampf für Frieden und gegen die Geißel des Nationalismus und Rassismus, die sie in Organisationen wie dem französischen „Front National“, den „wahren Finnen“, der britischen „UKIP“ oder der „Alternative für Deutschland“ vermutet. Dass diese Protestparteien keineswegs das Monopol auf alltäglichen Rassismus halten, sondern sich eher wie Schmeißfliegen von der langsam verrottenden europäischen demokratischen Kultur ernähren, wird in Europas Hauptstädten konsequent weggelächelt. Lieber demonstriert man zivilisiert Einigkeit im Kampf gegen die zuvor eigenhändig militärisch hochgerüsteten Terroristen des „Islamischen Staates“ oder im Gedenken an die Gräuel vergangener Kriege, als auch nur mit einem Funken Ehrlichkeit den eigenen aktuellen Mittelmeerkrieg zu hinterfragen.
Und da nun die neue Flucht- und damit auch Sterbesaison beginnt, stimmen Europas Politiker wieder die altbekannten Trauergesänge an, beklagen das „entsetzlichen Leid“ der Flüchtlinge, die menschenverachtende Kriminalität der Schleuser und leiten daraus die Notwendigkeit ab, die Situation in den Herkunftsländern zu verbessern. Gleichzeitig aber sehen sie als einzige „Lösung des Flüchtlingsproblems“ die weitere Abschottung des Kontinents – in der Hoffnung, hohe Opferzahlen könnten künftig „Wirtschaftsflüchtlinge“ davon abhalten, in marode Kähne zu steigen und in Richtung Norden in See zu stechen. Und diese Hohepriester der Humanität wollen nun allen Ernstes ein weiteres Mal „humanitär“ in Libyen eingreifen, da es dort keine schlagkräftige Regierung mehr gibt, die die Flüchtlingsströme stoppt und in Auffanglager umleitet.
Gleichzeitig argumentiert Bundesinnenminister Thomas de Maizière dafür, direkt vor der libyschen Küste aufgebrachte Flüchtlingsboote nach der Rettung der Insassen (und deren kostenfreier Rückführung nach Libyen) systematisch zu versenken, um Schlepperbanden zu vernichten und die Anzahl der an Europas Badestränden angeschwemmten Flüchtlingsleichen drastisch zu reduzieren. An Zynismus ist diese Politik kaum mehr zu überbieten.
Ausbruch aus dem Gedankengefängnis der Alternativlosigkeit
Aber wie soll man als normaler Bürger zu diesen Ereignissen Stellung nehmen? Sicherlich reicht es nicht aus, sich ins stille Kämmerlein zurückzuziehen und sich schuldig zu fühlen. Das Dilemma der Menschen in Europa besteht darin, dass sie sich immer wieder von den von ihnen selbst gewählten Politikern einreden lassen, es gäbe keine Alternative zur „Festung Europa“. Hier muss angesetzt werden. Wer vor den nahenden Flüchtlingsbooten einfach die Zugbrücke hochzieht, gleichzeitig innerhalb der Festung Ängste vor Überfremdung und wirtschaftlichem Niedergang schürt und mit dem Finger auf die nach und nach kollabierenden Staaten Nordafrikas und des Nahen Ostens als Verursacher der Krise deutet, ist selbst nichts weiter als ein Verteidiger einer moralisch bereits seit langem gescheiterten europäischen Wertegemeinschaft.
Wenn wir uns der in Brüssel gepredigten Alternativlosigkeit zur Unmenschlichkeit nicht länger unterwerfen wollen, müssen wir der scheinbar alternativlosen Wirtschaftslogik der EU-Abschottungspolitik entsagen. Den zynischen Versuchen, mit ökonomischen Argumenten die Situation zu „versachlichen“ – sprich, die vermeintlichen „Wirtschaftsschmarotzer“ zu kriminalisieren –, muss entgegengetreten werden. Zum Glück sind große Teile der deutschen Bevölkerung tatsächlich überaus hilfsbereit und verständnisvoll im Umgang mit den ankommenden Flüchtlingen. Dazu braucht es keine ökonomischen Abwägungen, ob „wir“ diesen oder jenen Flüchtling nun „brauchen“ oder nicht.
Mit Wirtschaftsargumenten kann man der Angst vor der „Flüchtlingsschwemme“ und der Ablehnung von Fremden nicht begegnen. Daher sind auch Argumentationen, die massenhafte Immigration würde in Wirklichkeit unserer Volkswirtschaft mehr schaden als nutzen, bedauerlich hohle Überbleibsel konsequent antirassistischer Standpunkte. Es geht bei Hilfeleistungen nicht um den Nutzen des Helfenden, sondern um die Bedürfnisse des Notleidenden. Knüpft man Hilfe an die Bedürfnisse des Helfenden, stellt man sie unter einen Nutzenvorbehalt, der dann im Zweifel mögliche Hilfe als wirtschaftlich schädlich verurteilt und somit verhindert. Mit der durch zahlreiche Studien untermauerten Sichtweise, Deutschland brauche Flüchtlinge, um die lichter werdenden Reihen deutscher Arbeitnehmer und Konsumenten aufzufüllen, ist kein einziger Vorbehalt beseitigt – wie auch ein Blick in die deutsche Nachkriegsgeschichte und die langjährigen Vorbehalte gegen die so dringend gebrauchten „Gastarbeiter“ nur zu eindringlich zeigt.
Für eine echte Willkommenskultur!
Viel wird in diesen Tagen darüber debattiert, dass Europa eine neue Willkommenskultur brauche, um sich dem Einwanderungsproblem auf neue Weise zu nähern. Das stimmt zu 100 Prozent, bedeutet aber etwas ganz anderes, als die große Politik, die gleichzeitig den Kontinent systematisch abschottet, darunter versteht. Es kann nicht darum gehen, künftig wieder mehr Patrouilleschiffe durchs Mittelmeer zu schicken, auf dass diese Tausende von Flüchtlingen zurück nach Afrika bringen, damit diese dort einen weiteren Versuch starten, die Blockade zu überwinden. Wenn wir verhindern wollen, dass auch in Zukunft Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken, dann müssen wir sichere Wege nach Europa eröffnen. Eine wirkliche Willkommenskultur kann nur entstehen, wenn Europa seine Schutzmauern einreißt und die Menschen bereitwillig hereinlässt.
Natürlich greifen an dieser Stelle die allzu bekannten und beliebten Argumente der nationalen Bedenkenträger, denen zufolge wir die Festungsmauern brauchen, da die Armen dieser Welt ansonsten den Kontinent überschwemmen und uns selbst in die Armut ziehen. Dieser Sichtweise offensiv zu begegnen, ist eine weitere Bedingung für ein Umdenken in der Gesellschaft: Denn wenn unser Leben in relativem Wohlstand nur funktioniert, weil wir Millionen von Menschen im Elend sitzen lassen, dann wird es wohl höchste Zeit, über neue Wege nachzudenken, wie wir mehr Menschen in der Welt ein gutes Leben ermöglichen können als bisher. Wenn es nur dadurch weitergeht wie bisher, dass wir Menschen ein menschenwertes Leben verwehren, dann geht es eben nicht weiter wie bisher, wenn wir uns unserer eigenen Menschlichkeit nicht selbst entledigen wollen. Dieser Realität müssen wir uns stellen, und diese Herausforderung müssen wir annehmen.
Ebenfalls zentral für eine wirkliche Willkommenskultur ist, dass wir damit aufhören, Flüchtlinge entweder als Opfer oder aber als potenzielle Täter zu sehen. Denn tatsächlich sind Flüchtlinge dafür zu bewundern, dass sie ihr Recht auf Bewegungsfreiheit selbst in die Hand nehmen und enorme Risiken eingehen, um für sich und für ihre Familien ein besseres Leben zu erreichen. Es handelt sich um Menschen, die alles auf eine Karte setzen, um die Möglichkeit zu haben, so zu leben wie wir. Sie wegen dieses nur allzu menschlichen Strebens im Mittelmeer ertrinken zu lassen oder sie aber, wenn sie die Überfahrt nach Europa tatsächlich überlebt haben sollten, wie Menschen zweiter Klasse zu behandeln, ist beschämend und ekelerregend. Es sind Menschen wie diese, die jede Gesellschaft und insbesondere das stagnierende und verängstigte Europa wirklich braucht – nicht aufgrund von ökonomischen Zahlenspielereien, sondern aus kulturellen und menschlichen Gründen!
Wir brauchen diese Menschen – nicht, weil wir momentan einen Fachkräftemangel haben oder unser derzeitiges Wirtschaftsmodell davon profitieren könnte. Wir brauchen sie, weil ihr entschlossenes Handeln uns dabei helfen kann, wieder zu erkennen, dass Menschen mehr sind als „Parasiten“, die unser europäisches Paradies sowie unseren gesamten Planeten zerstören. Wir sollten dringend die Zugbrücken herunterlassen und diesen Menschen die Möglichkeit geben, hier glücklich zu werden. Hierdurch schaffen wir nicht nur ein gesellschaftliches Klima, das es Immigranten einfach macht, sich zu integrieren – wir hauchen damit auch unserem eigenen humanistischen Wertekanon, der heute aufgrund von Selbstzweifeln, Zynismus und Misanthropie kaum noch erkennbar ist, neues Leben ein. Lasst uns gemeinsam mit diesen Neu-Europäern unser kleines, enges, ängstliches und engstirniges Europa zu etwas Neuem, Dynamischem und Globalem entwickeln. Öffnet die Grenzen! Gründet Schlepperbanden!
Dieser Artikel ist am 21.4.2015 in der BFT Bürgerzeitung erschienen.