„Gut leben in Deutschland – Was uns wichtig ist“ – so lautet das Motto, unter das Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre neue Reihe an Bürgerdialogen gestellt hat. Was hier als fast empirische Erhebung des Volkswillens zur inhaltlichen Ausrichtung der Politik erscheint, dürfte in der Praxis jedoch eher der Entwicklung neuer Nudging-Ansätze dienen.
Zwei am 13. April 2015 in deutschen Tageszeitungen behandelte Themen, auf den ersten Blick nicht miteinander zusammenhängend, definieren das Spannungsfeld, in dem sich deutsche Politik derzeit bewegt: Auf der einen Seite steht die von Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeinsam mit ihrem Vizekanzler Sigmar Gabriel angestoßene Veranstaltungsreihe „Gut leben in Deutschland – Was uns wichtig ist“, über die in den nächsten Monaten mit den Bürgern „neugierig“ in Dialog getreten und die groß gewordene Distanz überwunden werden soll. Wie egalitär, interessiert und fast basisdemokratisch das klingt!
Demgegenüber steht auf der anderen Seite Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles von der SPD, die zur kontrollierenden Durchsetzung des gesetzlichen Mindestlohns nicht nur 1600 zusätzliche neue Zollbeamte einstellen will, sondern diese auch noch mit Schusswaffen ausstatten und in deren Gebrauch ausbilden lassen will. Dies sei natürlich „ein ganz normaler Vorgang“, und mit „einer unterschwelligen Kriminalisierung von Arbeitgebern, wie Kritiker monierten, habe das nichts zu tun“, hieß es aus dem Ministerium.
Somit erlebt der „kleinkarierte Kontrollwahn der Großen Koalition“, wie es Roland Tichy in einem nur wenige Tage zuvor veröffentlichten Artikel nannte, eine weitere Zuspitzung. Der Zoll werde quasi nebenbei „zur neuen Lohnpolizei der Bundesregierung“, denn eigentlich gehe es – wie übrigens auch bei der frisch beschlossenen Frauenquote – um etwas anderes: „Um die totale Kontrolle aller Beschäftigungsverhältnisse und die faktische Überführung in eine altertümlich-archaische Behörden- und Beamtenstruktur“. Die gesamte Wirtschaft, so Tichy weiter, gerate in Gefahr, „sich zu einer Zone potentieller Kriminalität umgedeutet zu sehen – kurz: Wir haben es mit einem erzwungenen Rückschritt in eine Welt autoritärer, hierarchischer und fremdbestimmter Arbeitsbeziehungen zu tun.“
Nun könnte sich ein soeben von einer fremden Galaxie in der Bundesrepublik Merkelland gelandeter Außerirdischer verwundert seine diversen Augen reiben und fragen, wie dieses Kontroll- und Überwachungsregime mit dem scheinbar ernstgemeinten politischen Interesse am Bürgerwillen und der bürgerlichen Vorstellung von einem „guten Leben“ in Einklang zu bringen sei. Was noch im 20. Jahrhundert für viele ein unvereinbarer Gegensatz gewesen sein mag, macht heute das alternativlose Politikverständnis aus: Bei den Bürgern zu ermitteln, was denn ein gutes Leben sei, ist der erste Schritt. Da aber dem modernen Menschenbild folgend sich Menschen dadurch auszeichnen, dass sie mehrheitlich ihren eigenen Interessen zuwider handeln, sind Werte wie „Glück“ oder „das gute Leben“ eben gerade nicht mit bürgerlicher Autonomie und Entscheidungsfreiheit zu erreichen, sondern nur durch eine wohlmeinende Politik, die die Bürger nicht nur an das eigentlich Gute erinnert, sondern sie auch freundlich in die Richtung des Glücks schubst.
Diese Herangehensweise hat einen Namen: „Nudging“, das politische „Stupsen“ als Politikentwurf, von dem sein geister Vater, der Wirtschaftsforscher Cass Sunstein, begeistert erklärt, man könne so großartige Ziele zu erreichen, ohne Gesetze verändern zu müssen und ohne den Menschen das Gefühl zu geben, man dränge sie zu irgendetwas. Nach der US-amerikanischen und der britischen Regierung hat nun auch Angela Merkel eine eigene kleine Nudging-Einheit aufgebaut: Bis zum Ende der Legislaturperiode wurden drei Referenten eingestellt, die über „hervorragende psychologische, soziologische, anthropologische, verhaltensökonomische bzw. verhaltenswissenschaftliche Kenntnisse“ verfügen. Ihre Aufgabe ist es, der Bundesregierung beim „wirksamen Regieren“ zu helfen.
In der Kultur des Nudgings heißt „wirksames Regieren“ eben nicht, den Menschen möglichst große Spielräume für Selbstentfaltung zu gewähren, sondern sie aktiv eingreifend bei dem Erreichen eines „guten Lebens“ zu unterstützen, auf dass die eigenständig und „frei“ getroffenen Entscheidungen besser und falsche wenn möglich gleich ganz verhindert werden. Vor diesem Hintergrund gewinnt die als demokratische Charmeoffensive getarnte Dialog-Offensive der Bundesregierung eine neue Qualität. Wenn Merkel sagt, die Politiker müssten sich mehr um das Volk bemühen, so geht es dabei eben nicht um ernstgemeinte Nähe auf Augenhöhe, sondern um Nähe im Sinne des wohlmeinenden, aber bestimmten Erziehens zum eigenen Wohle.
„Ich hoffe, dass ich immer noch das wirkliche Leben sehe“, erklärte Merkel die Schwierigkeiten, den Kontakt zum einfachen Bürger zu halten, dessen Misstrauen und Distanz immer größer werde. „Wenn ich einen Besuch mache, dann ist das angekündigt. Dann frage ich oft, wie war es denn vorher. Es soll sich nicht alles immer nur von der besten Seite zeigen.“ Dass die Menschen auch objektiv betrachtet vielleicht gar kein Interesse daran haben könnten, Politikern, denen sie so sehr misstrauen, Einblicke in ihre eigenen Vorstellungen vom „guten Leben“ zu gewähren, darauf scheint Angela Merkel überhaupt nicht zu kommen.
Tina Hildebrandt hat dies in ihrem Kommentar vom 1. Januar 2015 treffend formuliert: „Eine Regierung sollte nicht stupsen, sie sollte versuchen zu überzeugen. Und deutlich sagen, wohin sie das Land lenken will. Sie sollte gut regieren und das Glück ihren Bürgern überlassen. Jedem der 80,62 Millionen sein eigenes.“ Ich sehe das sehr ähnlich: Für mich klingt Angela Merkels Aussage, sie sei „neugierig“ auf das wirkliche und „gute Leben“, wie eine direkte Drohung. Und mit Verlaub: Es geht die Bundeskanzlerin einen Dreck an, was ich unter einem guten Leben verstehe. Es ist nicht die Aufgabe von Politik, mir zu einem guten oder glücklichen Leben zu verhelfen. Dies ist meine eigene Aufgabe, und um sie zu meiner eigenen Zufriedenheit zu erfüllen, setze ich mich dafür ein, die Politik daran zu hindern, Menschen die Freiheit zum eigenständigen Leben abspenstig zu machen.
Dieser Artikel ist am 14.4.15 auf der Website der BFT Bürgerzeitung und bei der Achse des Guten erschienen.