Alle Beiträge von Matthias Heitmann

Antidoping ist ungesund – für die Grundrechte!

Lars Riedel, fünfmaliger Diskusweltmeister und Olympiasieger von 1996, hat die Veröffentlichung seiner Biografie „Meine Welt ist eine Scheibe“ genutzt, um öffentlichkeitswirksam seine Karriere zu beenden. Zugleich beklagte er sich über die Praxis der Dopingkontrollen: „Sich beim Urinieren zuschauen lassen zu müssen, verstößt gegen die Menschenwürde. Der Kopf des oft wildfremden Testers ist tief unten auf der Höhe des Glases, fast eingeklemmt zwischen Urinal und meinem Oberschenkel. Mein Penis wird zum Anschauungsobjekt. Sie haben die Macht, und ich habe mich zu unterwerfen“, schilderte er.

Was in der Öffentlichkeit als „Abrechnung“ diskutiert wurde, war jedoch keine. Vielmehr rechtfertigt Riedel grundsätzlich die Dopingkontrollen und wünscht sich lediglich, „dass künftig ein humaneres Kontrollsystem gefunden wird, in dem vielleicht über Haarproben-Doping nachgewiesen werden kann.“ Dass er an der Sportlerüberwachung lediglich das Zurschaustellenmüssen seines Penis kritisiert, ist bedauerlich.

Positiv ist jedoch, dass Riedel überhaupt Kritik äußert und zudem das Argument, Doping sei ungesund, zerpflückt: „Wenn man behauptet, es gelte durch die Dopingkontrollen die Gesundheit der Sportler zu schützen, müsste man konsequenterweise viel früher anfangen und mit dem gleichen Argument den Spitzensport verbieten. Viele Untersuchungen belegen es eindeutig: Der Spitzensport ist gesundheitsschädlich.“ Chapeau! Noch mutiger wäre es gewesen, er hätte solcherlei bereits während seiner aktiven Zeit geäußert und sich nicht davon abhalten lassen, dass man als aktiver Sportler „von den Funktionären schnell eins drüber “ bekommt.

Dass es Sportler gibt, die dies in Kauf nehmen, bewies jüngst die deutsche Fechterin und Olympiateilnehmerin Imke Duplitzer. In der am 11. Juli im Deutschlandradio Kultur ausgestrahlten Sendung „Titel, Taler und Talente – Kein Gold ohne Doping?“ äußerte sie sich zu der Art und Weise, wie mit Sportlern unter dem Antidoping-Regime umgegangen werde, überaus drastisch: „Jeder Kinderschänder in Deutschland hat mehr Grundrechte und mehr persönlichen Schutz als wir!“ (nachzuhören unter http://www.dradio.de/aod/html/?station=3& ab Minute 38 ) Dass sie sich dennoch für die Beibehaltung des Kontrollsystems aussprach, zeigt die Schizophrenie des Diskurses sowie den moralischen Druck, der auf dem Sport lastet.

Wer heute Leistungssport treiben will, sollte möglichst keine zu enge Bindung zu seinen Grundrechten haben.

Antidoping absurd: Ist „Freiwillige Selbstkontrolle“ im Radsport illegal?

Am Samstag, den 19.6.08 berichtete der Westdeutsche Rundfunk Köln via Pressemitteilung von einem spanischen Labor an der Universidad de Extremadura in Caceres, das Radsport-Profiteams interne Doping-Kontrollen angeboten haben soll. Das Labor habe verschiedenen Radport-Teams angeboten, „durch Urin-Analysen ein komplettes Steroid-Profil der Radfahrer der Profiteams durchzuführen“, hieß es in der Mitteilung. David Howman, der Generalsekretär der Welt-Anti-Doping-Agentur Wada, bezeichnete diese Meldung als „besorgniserregend“. Sportler könnten sich mit den im Labor erzielten Steroid-Profil-Analysen gezielt an Grenzwerte herandopen, positiv getestete Fahrer könnten zudem rechtzeitig vor einer offiziellen Doping-Kontrolle aus dem Rennen genommen werden.

Die Aufregung, die diese Mitteilung auslöste, macht deutlich, wie irrational mittlerweile über Doping diskutiert wird. Denn letztlich bietet das spanische Labor nichts anderes an, als Radsport-Teams dabei zu helfen, sich an eben die Regeln und Grenzwerte zu halten, die die Wada für die Verwendung leistungsfördernder Mittel und Methoden selbst festgelegt hat. Es handelt sich somit um eine Art „Freiwillige Selbstkontrolle“ des Radsports – eigentlich eine Entwicklung, die den Antidopingkriegern gefallen müsste. Dass mittlerweile aber schon das professionelle Überprüfen, ob diese Grenzwerte eingehalten werden, problematisiert und kriminalisiert wird, offenbart, wie weit sich die Dopingdiskussion von der Realität entfernt hat. Und auch vom Dopingbegriff selbst: Als Doping gilt das Anwenden von Medikamenten in einer bestimmten Dosis sowie von Methoden, die die Dopingagenturen in einer Positivliste festgelegt haben. Anders formuliert: Alles, was nicht auf dieser Liste steht oder die dort festgelegten Grenzwerte nicht überschreitet, ist kein Doping und mithin legal.

Als ob diese „Definition“ nicht schon schwammig genug wäre, untergraben Antidoping-Aktivisten mit ihrer Kritik an internen Kontrollen nun sogar diese Festlegung: Die Vorstellung, dass schon derjenige „dope“, der sich an Grenzwerte und Vorgaben halte, widerspricht dem rechtsstaatlichen Grundprinzip der Unschuldsvermutung sowie der Tatsache, dass man gegen Gesetze verstoßen muss, um sich eines Vergehens schuldig zu machen. Das Ausschöpfen von legalen Handlungsspielräumen ist kein Straftatbestand, sondern legal! Im Kampf gegen Doping scheint aber mittlerweile jedes Mittel Recht zu sein, auch, wenn es sich über das Recht hinweg setzt. Es wird Zeit, den wagen und wenig hilfreichen Dopingbegriff über Bord zu werfen und sich sachlich über Vor- und Nachteile leistungssteigernder Medikamente und Methoden auseinander zu setzen.

Wird Tibet Fußball-Europameister?

Während die olympische Flagge auf ihrem globalen Spießrutenlauf wie ein Castor-Transport vor dem Zugriff von Demonstranten geschützt werden muss, rückt – fast schon unbemerkt von der Öffentlichkeit – ein weiteres sportliches Großereignis näher: die Fußball-Europameisterschaft in Österreich und in der Schweiz.

 

Fußballliebhaber sollten den olympischen Fackelträgern eigentlich dankbar dafür sein, dass sie die mediale Aufmerksamkeit so vollständig auf sich ziehen. Nachdem das letzte globale Fußballfest uns bereits Wochen und Monate vor dem ersten Anpfiff den letzten Nerv geraubt und sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel – wenngleich wenig glaubhaft – dazu veranlasst hatte, ihre Fernsehansprache an die Nation in Fußballsprache zu verfassen, herrscht in diesen Tagen eine fast schon unheimliche Windstille im Blätterwald. Das Schöne daran ist: Es geht in der Vor-Berichterstattung zur „Euro 2008“, so sie denn überhaupt existiert, tatsächlich fast ausnahmslos um Fußball – noch!

Zur Erinnerung: Die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wurde in Deutschland zu einem Ereignis stilisiert, über das wir „zu uns selbst finden“, uns an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen und neu erfinden sollten. Kampagnen wie „Land der Ideen“, „Du bist Deutschland!“ sowie zahlreiche weitere staatliche Initiativen – fast jedes Ministerium hatte seine eigene WM-Kampagne – sollten der Gesellschaft Zuversicht, Sinn, Orientierung und Optimismus zurückgeben, die sie im Alltag und aus der ihr prognostizierten Zukunft nicht zu ziehen imstande sei. Man fühlte sich zuweilen wie in einem gottverlassenen mittelalterlichen Dorf, das sich wochenlang herausputzt und eine grundlegende Verbesserung seiner Situation erhofft, nur weil „König Fußball“ für vier Wochen Hof hielt.

Dass sich derartiges nun bei der Euro 2008 in Österreich und in der Schweiz wiederholen würde, steht nicht zu erwarten. Sollten jedoch in den nächsten Wochen weitere Inzestfälle in Österreich bekannt werden, erscheinen angesichts der Popularität von öffentlichen Protestkundgebungen und Boykotts auch Demonstrationen von Kinderschutzverbänden gegen die laxen Ermittlungsbehörden der Alpenrepublik als durchaus vorstellbar. Die Europameisterschaft findet in zwei Ländern statt, deren Herzen nicht ansatzweise so stark am Fußball hängen wie das deutsche. Die Österreicher zittern vor der erwarteten Blamage, aber auch die Eidgenossen, denen man mehr zutraut, glauben nicht wirklich daran, weiter als bis ins Viertelfinale des Turniers zu kommen. Angesichts dieser gedämpften Erwartungen überrascht es nicht, dass in den Alpenstaaten kaum jemand mit einem Sommermärchen rechnet. Auch die deutsche Euphorie hält sich wenige Wochen vor Beginn des Turniers in Grenzen.

Das mediale Interesse, insbesondere der Teile der Medienwelt, die mit Sport an und für sich nur wenig am Hut haben, konzentriert sich in diesem Sommer auf andere Sportereignisse. Im Juli werden wir uns anlässlich der Tour de France erneut mit der allgemeinen öffentlichen Aufregung über die „moralische Abgründe“ des Radsports auseinander zu setzen haben. Und pünktlich zu den im August stattfindenden Olympischen Spielen in Peking hat die westliche Öffentlichkeit ihre „Liebe zu Tibet“ wieder entdeckt und bringt sich unter Verwendung allerlei moderner Spielarten der alten Warnungen vor der „gelben Gefahr“ gekonnt in Stellung. Dass sportliche Großereignisse wie die olympischen Spiele als Bühnen für politische Kampagnen herhalten müssen, ist nichts Neues. Neu hingegen ist, dass mittlerweile die Athleten selbst von der Politik ermuntert werden, sich als Protestler zu betätigen und in Peking Protest-T-Shirts zu tragen.

In Zeiten, in denen bekennende Maoisten wie der Fußballer Paul Breitner für Deutschland Titel einheimsten, hätte man derlei wohl kaum erlaubt. Noch im letzten Jahr sah sich der Fußball-Weltverband Fifa genötigt, Profifußballern das Zurschaustellen „politischer, religiöser sowie persönlicher Schriftzüge“ zu verbieten, um Diskriminierungen zu unterbinden. Ob es in Österreich und in der Schweiz Ausnahmen von dieser Regel geben wird und der EM-Titel am Ende gar den Tibetern gewidmet wird? Die Zweckentfremdung des Sports ist mittlerweile soweit gediehen, dass auch dies vorstellbar erscheint. Aber über eines können wir uns sicher sein: Sowohl in Basel als auch in Wien oder in Peking werden nur ganz bestimmte Slogans auf den Trikots erlaubt werden. Und mit Sicherheit werden die „persönlichen“ Message-Shirts zuvor in Mannschaftsstärke verteilt. Shirts, die die politische wie geistliche – mithin totale – Führerschaft des Dalai Lama über die Tibeter als mittelalterlich-archaisch, antiaufklärerisch und undemokratisch problematisieren, werden ganz bestimmt nicht über unsere Bildschirme flimmern.

Angesichts des auf uns wartenden „Sport-Politik-Sommers“ ist die beschauliche Ruhe rund um die Fußball-Europameisterschaft fast schon erfrischend. Genießen wir sie, solange es geht!

Grand Prix: Ein „bisschen“ Frieden geht halt nicht!

Vor 25 Jahren war die Welt noch in Ordnung. Nicole gewann den Grand Prix Eurovision de la Chanson. „Ein bisschen Frieden“ hieß das Liedchen, mit dem ein kleines bis dato weithin unbekanntes Mädchen die Herzen des europäischen Grand-Prix-Publikums eroberte. Damals war so etwas noch möglich: Der Ostblock war intakt und – bis auf Jugoslawien – außen vor, die westliche Schlagerwelt war unter sich, und Nestbeschmutzer wie Stefan Raab oder Guildo Horn, die Ralph Siegel und Konsorten ans Leder wollten, erfreuten sich noch keiner Sendezeiten und hätten auch nicht gewählt werden können, da damals noch nicht per Telefon abgestimmt, sondern die Entscheidung von einer Jury getroffen wurde.

„Ein bisschen Frieden“ – ob Nicole damals bewusst war, wie wichtig das Wörtchen „bisschen“ in diesem Text werden würde? Wahrscheinlich nicht. Wie hätte sie auch ahnen können, dass im Jahre 2007 nicht nur ganz Osteuropa, sondern auch halb Asien sich aufmachen würde, dem Westen die Deutungshoheit dessen, was „guter Geschmack“ ist, so eindrucksvoll zu entreißen und acht der ersten zehn Plätze zu belegen?! Wie hätte sie zudem davon ausgehen können, dass auch innerhalb des Westens die Vorstellung davon, welche Musik es wert sei, die eigene Nation zu repräsentieren, parallel zum Nationalgefühl an jeglicher inhaltlichen Bodenhaftung verlieren würde? Das hat die 17-jährige Nicole nicht gewusst – und bestimmt auch nicht gewollt! Das einzige, was sie wollte, war „ein bisschen“ Frieden, nicht offenen Grenzen, und auch keine (vom Westen vorangetriebene) osteuropäische Kleinstaaterei, die den großen Schlagernationen kurzerhand das Heft aus der Hand nimmt. Ihr Lied schwamm auf der Welle des Unbehagens angesichts des Nato-Doppelbeschlusses, der Friedensbewegung und des Falklandkrieges. Eine slawische Schlager-Schwemme sollte daraus nicht werden. Der Ralph-Siegel-Song war nicht als Aufforderung gedacht, die altgedienten Barrieren der heilen Welt einzureißen, weder im Inneren, noch nach außen, im Gegenteil: Es war nur ein Traum eines kleinen naiven Mädchens.

Entsprechend wütend gibt sich Nicole heute darüber, dass man sie so falsch beim Wort genommen hat. Nicht nur, dass die Osteuropäer heute allein schon hinsichtlich der Anzahl der teilnehmenden Staaten den Eurovision Song Contest dominieren – sie setzen auch Guildo Horns Zeile aus seinem Grand-Prix-Song von 1998 in die Tat um und haben sich alle so dolle lieb, dass sie sich gegenseitig die Stimmen zuschustern. Das ist in jedem Falle eine herbe Kritik wert, dachte sich Nicole und beschwerte sich über das Stimmverhalten der Osteuropäer, die unter sich blieben und das paneuropäische Treiben somit gegen alle Regeln des guten Geschmacks unterwandern. Das Grand-Prix-Nachschlagewerk von Jan Feddersen trägt den für viele heute fast schon unheilvoll klingenden Titel „Ein Lied kann eine Brücke sein“. Trägt auch er Mitschuld an der modernen Entwicklung, dass nach der Fußball-Europameisterschaft, die 2012 in Polen und der Ukraine stattfindet, nun auch der gute Geschmack von postkommunistischen und mit einem Übermaß an nachbarschaftlicher Brüderlichkeit ausgestatteten Gesellschaften geprägt wird. Nein, denn ebenso wie Nicole nur von ein „bisschen“ Frieden sang, ging Feddersen davon aus, dass es mit einer Brücke (über den ansonsten aber seine Funktion erfüllenden eisernen Vorhang) getan wäre.

Wer sind dann aber die Schuldigen für das westliche Schlagerdilemma? Die Ursachen liegen jedenfalls deutlich tiefer, als dass sie mit einem kulturellen „Kalten Krieg im Wohnzimmer“ auszumerzen wären. Auch der Vorschlag, künftig beim Grand Prix zwei Qualifikationsstaffeln einzuführen und damit die gute alte europäische Trennung in Ost und West wieder einzuführen, wie es Ralph Siegel fordert, wird das „Problem“ nicht aus der Welt schaffen. Zwar hätte auch dies nicht den Sieg der (ausgerechnet!) serbischen Sängerin Marija Serifovic verhindert, denn wie der Tagesspiegel nachrechnete, hätte Serbien auch ohne Osteuropa den Contest gewonnen. Zudem müsste sich gerade Siegel nur zu gut daran erinnern können, dass es keiner Osteuropäer bedarf, um ihn lächerlich zu machen. Es sei denn, man nähme die Aufteilung in Ost und West nicht nur in geografischer, sondern in geschmacklicher Hinsicht vor und lagerte die Vertreter der deutschen Spaßgesellschaft und des Sittenverfalls wie Stefan Raab (Alf Igel), Guildo Horn, oder aber israelische Transsexuelle und finnische Gruselrocker wie Lordi kurzerhand in die Oststaffel aus.

Wenn der diesjährige deutsche Vertreter Roger Cicero seinen Nachfolgern den Tipp gibt, künftig „serbisch zu singen“, so mag dies der Kommentar eines frustrierten Künstlers und zudem schlechten Verlierers gewesen sein. Aber er ist auch symptomatisch: Im Westen weiß man weder, wie noch was und in welcher Sprache man sich künftig äußern sollte, um gehört zu werden. Zieht man eine zugegebenermaßen gewagte Parallele zur Politik auf europäischer Ebene, so lässt sich ein ähnliches Phänomen beobachten. Auch hier herrscht Sprachlosigkeit in einer uneinigen Gemeinschaft, die weder weiß, wofür sie steht, noch, wer eigentlich zu ihr gehört und wo ihre Grenzen liegen. Und auch hier hat man den Eindruck, dass es gerade die Osteuropäer sind, die sich dem Europagedanken verpflichtet fühlen, während er im Westen nur noch rudimentär vorhanden ist und eher ein Synonym für eine „neue Gefahr aus dem Osten“ darstellt – unabhängig davon, ob diese nun in Form von Billigarbeitern oder Schlagersängern daherkommt. Insofern ist es eigentlich nur konsequent, dass der Grand Prix eine osteuropäische Angelegenheit geworden ist. Der Westen – zero points!