„Rechts“, „links“, „Nazi“ und „Sozialist“ sind heute keine klar definierten Zuschreibungen mehr, sondern Ausdrücke emotionaler Verurteilung. Die Polarisierung nimmt ständig zu. Wie konnte es dazu kommen?
Heute ist „Nazi“, wer Atomkraft und Tierversuche nicht verteufelt, wer gerne Fleisch isst, Trump wählt oder die in Nationalstaaten praktizierte Demokratie verteidigt. Gleichzeitig gilt heute als „linksradikal“, wer Landesgrenzen nicht verrammeln möchte, wer Algerien nicht für einen sicheren Drittstaat hält und nicht die Nationalhymne mitsingt. Das war nicht immer so. Erinnert sich noch jemand an das Buch „Das Ende der Geschichte“? Der Titel klingt auf den ersten Blick wie der Titel eines apokalyptischen Untergangspamphlets. Doch das 1992 erschienene Buch von Francis Fukuyama war alles andere als das. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler vertrat hier die These, dass mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion das Ende der Großkonflikte gekommen sei und sich schon bald die Prinzipien des Liberalismus in Form von Demokratie und Marktwirtschaft weltweit durchsetzen würden.
Viele Denker sahen auf ähnliche Weise das Ende der alten politischen Ordnung und damit das Ende des ideologischen Links-Rechts-Konflikts voraus. Der britische Soziologe Anthony Giddens verabschiedete sich in seinem Werk „Jenseits von links und rechts“ aus dem Jahr 1994 ebenfalls von den alten politischen Parametern. Zuvor hatte bereits der deutsche Soziologe Ulrich Beck in seinem Buch „Risikogesellschaft“ aus dem Jahr 1986 das Ende des alten politischen Denkens prognostiziert, jedoch weitaus weniger optimistisch, als es Fukuyama tat. Die Überwindung der alten ideologischen Konflikte prägte die politische Stimmung. Und sie zeigte sich in der Erosion sozialistischer Parteien sowie in der Modernisierung sozialdemokratischer wie auch konservativer Parteien, die sich allesamt zunehmend in der „politischen Mitte“ zu drängeln begannen.
Das „Ende der Geschichte“ war erst der Anfang
Doch schon wenige Jahre nach dem Zerfall der UdSSR und dem Niedergang der sich an ihrer Existenz orientierenden „linken“ Alternative war im Westen von der anfänglichen Euphorie nichts mehr zu spüren. Anstelle von Demokratie und Marktwirtschaft eskalierten regionale Konflikte zu internationalisierten Kriegen. Staaten und Gesellschaften zerfielen und verloren die Perspektive. Auch in den Kernländern des Kalten Krieges machte sich das Fehlen der alten Ordnung bemerkbar: Die Parteien verloren ihre Grundorientierung, und Konfrontationen drängten mehr und mehr auf die personalisierte Ebene – ein Prozess, den man bis heute versucht, positiv zu umschreiben.
Einst relevante Zuschreibungen wie „links“ und „rechts“ verloren ihre einordnende Bedeutung, was die Politik immer weniger durchschau- und greifbar machte. Nur kurz nach dem Sieg des Westens im Systemkonflikt wurde in Deutschland „Politikverdrossenheit“ zum Wort des Jahres gewählt. Immer wieder errangen Parteien und Strömungen Achtungserfolge, weil sie sich gezielt gegen die zunehmende Schwammigkeit und die zur Schau getragene Alternativlosigkeit etablierter Politik in Stellung brachten. Rechte und rechtsextreme Parteien, aber auch grüne und separatistische Strömungen, Satire-Parteien oder die Anfang dieses Jahrzehnts plötzlich erstarkende Piratenpartei machten deutlich, dass sich jenseits des politischen Mainstreams ein beträchtliches Wählerreservoir erschließen lässt, wenn man nur den Nerv trifft und die richtige Sprache spricht.
Vorwärts in die Vergangenheit?
Schaut man heute auf die Hochphase der Piratenpartei zurück, so hat man den Eindruck, es mit einer weit zurückliegende Epoche zu tun zu haben. Diskutierte man noch vor Kurzem über die möglichen Folgen des Endes von rechts und links, so scheinen diese beiden Pole heute eine Renaissance zu erleben. Überall wird das Erstarken „rechter“ Parteien und „rechten Gedankenguts“ diagnostiziert, und Konflikte werden wieder häufiger im alten Rechts-Links-Vokabular beschrieben. Auch in der internationalen Politik scheinen wir mit einem Wiederaufleben alter politischer Konflikte konfrontiert zu werden: Das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland wird als „neuer Kalter Krieg“ beschrieben, und auch innerhalb der Europäischen Union scheint der einstige „Eiserne Vorhang“ heute wieder moderne, weltoffene, demokratische von traditionsverhafteten, verschlossenen und autokratischen Staaten zu trennen.
Hatte Fukuyama also in gewisser Weise doch recht? Ist es tatsächlich so, dass die Geschichte zwar vielleicht nicht zu Ende ist, sie sich aber wiederholt oder zurückdrehen lässt? Oberflächlich betrachtet erscheint diese Annahme plausibel. Doch schaut man ein wenig genauer hin und durchbricht die Ebene des plakativen und gezielt provokanten Auftretens, dann wird deutlich: Das Gros der modernen Mainstream-Gegner ist mit dem alten politischen Vokabular nicht hinreichend zu erfassen, geschweige denn durch altes politisches Denken treffend zu analysieren. Dies ist auch der Grund dafür, warum öffentliche Debatten zunehmend emotional und geradezu hysterisch geführt werden: Da die alten Begriffe nicht mehr wirklich greifen und wirken, werden sie mit vermeintlich zusätzlicher Bedeutung und Dramatik aufgeladen. Dies führt zwar im ersten Moment zu einer scheinbaren Aufwertung und einer wachsenden Prominenz des Begriffs, doch langfristig ereilt ihn das Schicksal eines jeden Luftballons.
Jonglieren mit heißen, aber leeren Begriffen
Wir befinden uns gerade in einer solchen Phase, in der zahlreiche Luftballons an Höhe gewinnen. Die als neu empfundene Radikalisierung des politischen Diskurses entspricht dem von mir bereits beschriebenen Phänomen, demzufolge es am Ende einer langen Frostperiode im Stadtpark nicht nach frischen Blumen, sondern nach frisch aufgetauten Exkrementen und nach Verwesung riecht. Viel übelriechende Luft steigt auf und macht das eigentlich erfreuliche Auftauen der politischen Welt nach dem Ende der Alternativlosigkeit zu einem unangenehmen sinnlichen Erlebnis. Natürlich kommt dem Spaziergänger der Gedanke, dass es im Dauerfrost doch eigentlich freundlicher war. Und dennoch weiß er: Ohne das olfaktorisch belastende Auftauen gibt es keinen Frühling.
Man kann die politischen Prozesse am Ende der Ära der Alternativlosigkeit natürlich als die Rückkehr des Alten interpretieren und sich in den politischen Dauerfrost zurücksehnen. Diese Sichtweise ist naheliegend und bequem zugleich. Doch drängen sich einem dann schon bald Zweifel auf. Denn gestützt wird diese Weltsicht durch einen zunehmend sinnentleerten und wahllosen Umgang mit politischen Begriffen: „Rechts“, „links“, „Nazi“ und „Sozialist“ sind heute keine inhaltlich klar definierten Zuschreibungen mehr, sondern Ausdrücke emotionaler Verurteilung.
Rechts und links sind mausetot
Jeder diskussionsfreudige Mensch kann diese Erfahrung machen, wenn er sich aus der Blase seiner eigenen Überzeugungen entfernt. Ich wurde schon als Kommunist und als Kapitalist beschimpft, als Rechtskonservativer und als Linksextremer, als Frauenfeind und als Frauenversteher, als Zahlen-Fetischist und als Fakten-Relativierer. Und träfen auch nur einige dieser Zuschreibungen zu, so stünde ich bei nahezu allen Bösen dieser Welt auf der Gehaltsliste. An persönlichen Erfahrungen wie diesen spürt man, wie sehr an der Wirklichkeit vorbeianalysiert wird, wenn man sich dabei auf Altertümliches denken stützt. Was uns heute als Renaissance von rechten und linken Ideologien erscheint, sind nur die Ausdünstungen ihrer Verwesung. Die rein sinnlich als Zuspitzung wahrgenommene Auferstehung ist in Wirklichkeit das endgültige Ende von rechts und links.
Dass sich Menschen an alte Begriffe und Zuordnungen klammern, ist hingegen nicht verwunderlich. Viele Jahre lang wurde der Gesellschaft im Geiste Fukuyamas eingetrichtert, dass es nichts Neues mehr geben werde und dass man sich an pragmatisches Krisenmanagement als höchste Form der politischen Steuerung gewöhnen solle. Woher soll also eine breite Aufgeschlossenheit für Neues und Fremdes kommen? Zumal ja das politische Ende der Alternativlosigkeit nicht durch eine neu aufkommende inhaltlich fundierte Bewegung erzwungen, sondern durch das Versteinern der alten Strukturen unumgänglich wurde. Nur so kann erklärt werden, dass mit Friedrich Merz ein vor vielen Jahren kalt gestellter und gescheiterter Politiker, der in der Zwischenzeit sein Heil in der Privatwirtschaft suchte, heute als Erneuerer der CDU gefeiert wird. Genauso gut könnte man heute Rudi Völler als Erneuerer der deutschen Fußball-Nationalmannschaft zurückholen.
Raus aus den Schubladen!
Es ist Zeit, aus den politischen Schubladen auszubrechen, in die uns der Zeitgeist zu sperren versucht. Ich bin immer wieder überrascht, wenn man mich als „rechts“ beschreibt. Es ist für mich keine Beleidigung, denn ich weiß, dass derlei Begriffe keine echte Bedeutung mehr haben. Und zudem macht es unglaublichen Spaß, als vermeintlich „Rechter“ für das Recht auf Abtreibung, gegen Zensur und für völlige Meinungsfreiheit zu argumentieren. Genauso viel Vergnügen bereitet es aber auch, als vermeintlicher „Linker“ für die Bedeutung von Landesgrenzen gegen die Europäische Union einzustehen. Probieren Sie es aus, nehmen Sie sich die Freiheit des Denkens. Es lohnt sich.
Dieser Artikel ist am 11. November 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.