Zeitumstellung? Wir brauchen eine Zeitenwende!


Europa muss dringend seine Uhren nicht nur umstellen, sondern sie ganz neu ausrichten. Es braucht eine neue Zeitrechnung, in der Demokratie und das Votum der Wähler wirklich etwas bedeuten.

Bis Ende August 2018 konnten die wahlberechtigten Bürger in allen Ländern der Europäischen Union darüber abstimmen, ob künftig an der zweimal im Jahr stattfindenden Zeitumstellung festgehalten werden soll oder nicht. Das Ergebnis dieser Online-Befragung fiel eindeutig aus: 84 Prozent der Teilnehmer sprachen sich für die Abschaffung der Zeitumstellung aus. „Die Menschen wollen das, wir machen das“, sagte der Präsident der EU-Kommission Jean-Claude Juncker kurz nach Beendigung der Umfrage.

Brüsseler Demokratie-Simulation
Das klingt mega-demokratisch, wie man es sich wünscht: Der Souverän tut seine Meinung kund, und die gewählten Repräsentanten setzen dies um. Nur leider gibt es hier ein paar kleine Schönheitsfehler: Zum einen ist Jean-Claude Juncker kein von den EU-Bürgern gewählter Repräsentant, und das Volk ist daher auch nicht wirklich der „Souverän“. Ob Juncker das Ergebnis irgendeiner Umfrage zur Basis seines Handelns macht oder nicht, ist allein seine Sache.

Zum anderen muss der Fairness halber darauf hingewiesen werden, dass an der Umfrage zur Zeitumstellung gerade einmal 4,6 Millionen Menschen in der gesamten EU teilgenommen haben. Bedenkt man, dass in der Union rund 400 Millionen Menschen wahlberechtigt sind, ist dies eine unfassbar geringe Beteiligung: sie liegt bei etwa 1,15 Prozent. Jeder tatsächliche Volksentscheid oder jede Volksbefragung würde sofort wegen dieser extrem schwachen Beteiligung für krachend gescheitert erklärt, und niemand würde sich für das Ergebnis interessieren. Nicht so bei dieser Online-Befragung. Der Verdacht liegt nahe: Es war das vermeintlich klare Ergebnis, das Juncker aktiv werden ließ, und nicht dessen Zustandekommen.

 Wie Mehrheiten herbeigewollt werden

Als ob die europaweite Beteiligung von rund 1 Prozent nicht schon niederschmetternd genug wäre – es kommt noch schlimmer, wenn man sich die genauere Verteilung ansieht: Von den 4,6 Millionen Teilnehmern der Befragung kamen mehr als drei Millionen aus Deutschland, also etwa zwei Drittel. Das macht bei den knapp 64 Millionen in Deutschland lebenden EU-Wahlbürgern eine Beteiligung von mageren 4,7 Prozent – und dies, obwohl das Thema Zeitumstellung als ein typisch deutsches Aufreger-Thema gilt. Noch minimaler war das Interesse aber außerhalb Deutschlands: Von den rund 336 Millionen außerhalb Deutschlands lebenden EU-Wahlbürgern haben 1,5 Millionen oder 0,45 Prozent an der Befragung teilgenommen. Und von diesen 0,45 Prozent haben 84 Prozent für die Abschaffung der Zeitumstellung gestimmt, also 0,36 Prozent.

Zum Vergleich: Die 17,4 Millionen Briten, die im Juni 2016 für den Brexit gestimmt haben, machen in der gesamten EU-Wählerschaft einen Anteil von 4,3 Prozent aus. Man stelle sich vor, Juncker hätte vergleichbare Maßstäbe in der Verallgemeinerung und Interpretation des Wählerwillens bei der Brexit-Abstimmung und bei der Befragung zur Zeitumstellung angelegt – er hätte quasi die sofortige Selbstauflösung der EU ausrufen müssen! Natürlich ist aber das britische Referendum mit einer EU-weiten Online-Befragung nicht zu vergleichen. Denn in Wirklichkeit ist die britische Entscheidung demokratisch höchst relevant. Auffällig ist nur, dass dies in Brüssel wie auch in Berlin offenbar anders gesehen wird.

Aufbegehren allenthalben
Es sind ja nicht nur die verschrobenen Briten, die mit den Brüsseler Eurokraten über Kreuz liegen. So wehren sich die Italiener dagegen, dass ihnen Brüssel in ihr Recht, den eigenen Staatshaushalt festzulegen, hineinredet. Man muss nicht Anhänger der offenkundig merkwürdigen italienischen Regierungskoalition aus Fünf-Sterne-Bewegung und der rechten Lega sein, um derlei Eingriffe in die Befugnisse einer legitimen Regierung zu kritisieren. Zur Erinnerung: Ein Staat, dessen gewählte Regierung über dieses Recht nicht verfügt, ist kein souveräner und damit auch kein demokratischer Staat. Dass die italienische Bevölkerung dies nicht gutheißen und sich weiter gegen die EU wenden wird, sollte nicht überraschen.

Die Ungarn wehren sich dagegen, dass ihnen die EU vorzuschreiben versucht, wie sie mit an ihren Landesgrenzen ankommenden Menschen umgehen sollen. Auch hier gilt: Man muss die Politik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbàn nicht gutheißen, um anzuerkennen, dass die Ungarn selbst darüber zu entscheiden haben, ob sie die eigene Grenzpolitik verändern möchte oder eben nicht. Ein Staat, der das nicht kann, ist kein souveräner und damit auch kein demokratischer Staat. Nur weil einem die Politik der gewählten Regierung Orbàn nicht gefällt, kann man nicht einfach das Recht auf Grenzsouveränität infrage stellen. Tut man es dennoch, können sich selbst die größten Despoten als Freiheitskämpfer darstellen.

Die politischen Beben werden zum chronischen Tremor
Während also Italiener für ihr Recht eintreten, einen eigenen Staatshaushalt aufzustellen, und die Ungarn ihre eigene Grenz- und Einwanderungspolitik durchsetzen, so sind die Polen derzeit damit beschäftigt, das Recht auf eine eigene Rechtsprechung gegen Übergriffe aus Brüssel zu verteidigen. Erneut gilt: Ein Staat, der nicht über seine eigene Rechtsprechung verfügen kann, ist weder souverän, noch kann er demokratisch sein. Es gibt gute Gründe, die in Warschau regierende nationalkonservative Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) für ihren Umbau des polnischen Rechtssystems zu kritisieren. Wenn man aber demokratische Veränderungen in Polen erhofft, dann ist die Souveränität Polens eine politische Voraussetzung dafür.

Auch in den anderen EU-Staaten wirken ähnliche politische Fliehkräfte. Es scheint, als würden sich die früher vereinzelt auftretenden politischen Beben zu einer Art politischem Tremor verdichten: In Frankreich konnte der Wahlsieg des rechtsextremen Front National bei den jüngsten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen nur dadurch verhindert werden, dass sich das traditionelle Parteiensystem der Fünften Republik gewissermaßen selbst auflöste und einem „politisch unbelasteten“ Kandidaten vor die Füße warf. Auch in den Niederlanden und in den skandinavischen Ländern sind politische Kräfte auf dem Vormarsch, die einen Großteil ihrer Energie aus der Ablehnung der EU-Politik ziehen. Und selbst im EU-Musterland Deutschland werden die im nächsten Jahr stattfindenden Wahlen zum Europaparlament von der etablierten Politik mit großer Sorge betrachtet – weil man sich nicht sicher ist, wer dann im Kanzleramt sitzt.

Kolonialmacht Europäische Union
Es gehört zu den zentralen Missverständnissen der Europäischen Union, dass sie dazu legitimiert und berufen fühlt, demokratische Werte gegen den Willen der Menschen durchzusetzen. An dieser Fehleinschätzung krankt das gesamte Konstrukt seit Jahrzehnten. Und womöglich wird es eines Tages genau daran scheitern, weil sich die Bürger immer weiter von diesem sich wie eine Kolonialmacht aufspielenden Apparat abwenden werden. Dass Brüssel darauf mit immer schrillerer Rhetorik reagiert, offenbart eine viel größere Ablehnung von Freiheit und Demokratie, als sie den als „rechtspopulistisch“ gebrandmarkten Regierungen in Rom, Warschau und Budapest unterstellt werden kann.

Die Sorge um den Fortbestand der dirigistischen Europäischen Union setzt den Ton in den zahlreichen Konflikten, die Brüssel derzeit auszufechten hat. Das erklärt auch, warum gerade im Umgang mit London das Interesse an einem geschmeidigen Scheidungsprozess zwischen der Union und dem Vereinten Königreich nicht groß ist. Da es an allen Ecken und Enden und sogar auch in den noch einigermaßen stabilen Regionen des gesamteuropäischen Gebäudes bedenklich im Gebälk knirscht und kracht, hat keiner der Insassen ein Interesse daran, einen für alle Seiten glimpflichen Austritt als reale politische Option zu erreichen.

Es ist Zeit für Demokratie!
Angesichts der flächendeckenden Dauerkrise sucht die Pro-EU-Elite nach positiven Nachrichten und gemeinschaftlichen Projekten. Der Versuch Junckers, das ihm gefallene Ergebnis einer kaum beachteten Online-Befragung zur Zeitumstellung zu einem solchen Projekt zu stilisieren, ist weder ein Indiz für dessen demokratische Erdung noch für den dringlichen Wunsch der Europäer nach Abschaffung der Zeitumstellung. Tatsächlich ist Junckers „Wir machen das“ Ausdruck der Ratlosigkeit und der Verzweiflung, da es offenbar nichts anderes zu geben scheint, von dem man sich Pluspunkte verspricht.

Ja, Europa braucht eine Zeitumstellung. Aber die, die wir wirklich brauchen, ist nicht damit zu erreichen, dass wir alle halbe Jahre im Wechsel den Stundenzeiger um eine Ziffer nach vorne und zurückdrehen. Was die politische Kultur in Europa braucht, ist eine demokratische Zeitenwende. Die gute Nachricht ist: Die ersten Wehen haben bereits eingesetzt. Die schlechte Nachricht ist: Da die Demokratie auf erbitterte Widerstände trifft, verhärten sich die Fronten, und es wird ungemütlicher. Das Ende der politischen Bequemlichkeit und der Aufbruch in die rauere See der Demokratie wird uns in Zukunft einiges abverlangen – dagegen ist das Verkraften der Zeitumstellung um eine Stunde wirklich nur Kinderkram! Egal wie spät es ist: Es ist höchste Zeit.

Dieser Artikel ist am 28. Oktober 2018 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.