Abbruch 2018 – Aufbruch 2019?


Das Jahr 2018 wird in die Geschichte eingehen als eines, in dem wir uns von sehr vielen Gewissheiten verabschieden mussten – im Fußball wie in der Politik. Da lohnt es sich, einen Ausblick auf die anstehenden Rückblicke zu riskieren sowie auf das kommende Jahr.

Bald ist es wieder soweit: Man wird den Fernseher kaum noch anschalten können, ohne daran erinnert zu werden, wie fürchterlich doch der zurückliegende Sommer war und dass das Klima noch nie so aus dem Gleichgewicht war wie im vergangenen Jahr. Und wieder werden wir uns in dieser Welt im Rückspiegel irgendwie heimisch fühlen, denn vieles ist doch, wie es immer war. Schließlich spielt alle Jahre wieder das Wetter so verrückt wie nie zuvor – wenngleich freilich immer anders, aber ganz gleich, ob zu heiß oder – wie im vorletzten Jahr – zu feucht: Schlimmer geht’s immer.

Von Absteigern und Aufsteigern
So same procedure as every year? Nicht ganz. Es gab in diesem Jahr einiges, das anders war. Zum Beispiel eindeutig weniger prominente Todesfälle in Deutschland als im Vorjahr, und auch weniger islamistischen Terror, selbst wenn man alle „Allahu Akbar“ rufende Menschenhasser mit Messer, aber ohne jegliche Franchise-Bindung zum „IS“, mit hinzurechnet. Die sinkenden Zahlen von Terroranschlägen und prominenter Toten hängen miteinander genauso wenig zusammen wie mit dem Wüstensommer 2018 – dies würde der Klimawandelpädagogik endgültig den Boden unter den Füßen wegziehen.

Wer indes über viele Jahre hinweg immer eng zusammenhing, waren Bundestrainer Joachim Löw und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Und sie tun es auch jetzt, wenngleich unter anderen Vorzeichen: Beide sind angezählt, und die Rückkehr guter alter Zeiten, in denen bloßer Ballbesitz ausreichte, um Dominanz vorzutäuschen, ist bei beiden ausgeschlossen. Und dennoch sind beide noch immer im Spiel, wohl, weil es niemanden gibt, der sich traut, sie auszuwechseln bzw. ihnen das Leder abzunehmen. Es ist beim Fußball wie in der Politik: Nur weil sich plötzlich jemand anbietet, heißt es noch lange nicht, dass er auch angespielt wird. Alternativen entstehen nicht dadurch, dass jemand das Ende der Alternativlosigkeit ausruft. Dennoch wurde in diesem Jahr klar: Sowohl Merkel als auch der HSV als auch die deutsche Nationalmannschaft sind wider aller Erfahrung doch absteigbar. Und Absteiger braucht es, wenn man Aufsteiger sehen will.

 Windschattenfahrer als Kurskorrektoren?

In diesem Traditionsbruch keimt also bereits der Aufbruch von morgen: Im Gegensatz zum DFB finden in der CDU tatsächlich offene Diskussionen statt – sogar mit der eigenen Basis. Und man diskutiert sogar nicht nur über bereits getroffene Entscheidungen, wie sonst üblich, sondern über die Zukunft der Spitze selbst. Lange hatte man darauf gewartet, dass irgendjemand aus dem Schatten der Kanzlerin herausspringen und sie herausfordern würde. Vergebens. Einzig die große Vorsitzende konnte die große Vorsitzende vom Thron stoßen. Sogar das musste Merkel selber machen. Ihre zumindest scheinbar anlasslose Rückzugsankündigung ist zwar das Ende einer Ära, zugleich aber auch das vorzeitige Ende eines Aufbruchs, der eigentlich erst noch einer hätte werden sollen. Denn erst nach ihrem Abgang flogen ein paar Hüte in den verwaisten Ring. Dass diese Gestalten sich erst jetzt wagten, ihren Gestaltungswillen zu offenbaren, ist das eigentliche Dilemma der CDU, das aus Zeiten stammt, in denen Merkel noch als „Kohls Mädchen“ durchging.

Zwei dieser drei Aufbrecher zu neuen Ufern sind bislang entweder im direkten Windschatten der ewigen Kanzlerin oder aber an den zerfasernden Rändern ihres Umrisses nach vorne gekommen. Von der selbst in öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen als „AKK“ firmierenden CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer eine glaubhafte Kurskorrektur zu erwarten, ist ungefähr so wahrscheinlich wie ein Frisur- und Garderobenwechsel bei Jogi Löw. Oder bei Markus Sorg. Sie kennen den nicht? Das macht nichts, denn er würde nichts anders machen als sein Rudelführer Löw. Denn täte er etwas anderes, würde ihn jeder fragen, warum er das nicht schon vorher getan hat. Für den anderen CDU-Hoffnungsträger Jens Spahn ist es wahrscheinlich eine biographische Demütigung, dass er als Vertreter der auf dem Schulhof unbeliebten wie unaufmüpfigen Aktenkofferträgerfraktion ausgerechnet als „schillernder Rebell“ und streitsüchtiger Scharfmacher Karriere machen muss. Aber er probiert’s nach besten Kräften und ringt um glattrasierte Kratzbürstigkeit. Jens Spahn ist der Oliver Bierhoff der Christdemokraten: Symbol einer Jugend ohne Vision und Alternativen, charismatisch und profiliert wie ein frisch gepelltes Ei, und dazu noch erdverbunden und authentisch wie … nun, wie eben Oliver Bierhoff.

Die „Tante Käthe“ der deutschen Politik
Der eigentliche Ritter von trauriger Gestalt ist indes einer, der aus Angst vor der Auswechselbank sich direkt bessere Aussichten suchte und sie in Aufsichtsräten fand. Friedrich Merz ist gewissermaßen die „Tante Käthe“ der deutschen Politik. Wie dereinst Rudi Völler zur Jahrtausendwende als Shooting Star gefeiert, scheiterte er 2004 und zog sich in die Privatwirtschaft zurück (Völler ging nach Leverkusen), um dort unterhalb des nationalen Radars und jedes Strebens nach Spitzenpositionen unverdächtig Erfolg zu haben. Glücklicherweise ist noch niemand auf die Idee gekommen, Völler als Retter der DFB-Elf aus dem verstaubten Hut zu zaubern. 15 Jahre, nachdem er in seiner wütenden Mittelmäßigkeitspredigt darauf pochte, dass es keine „kleinen“ und daher auch keine „großen Fußballnationen“ mehr gäbe, wäre er für ein Projekt mit dem Arbeitstitel „Make German football great again“ fürwahr eine Fehlbesetzung. Dass Völlers politisches Karrierependant Merz im Herbst 2018 der Union Frühlingsgefühle verleihen soll, deutet auf vieles hin, aber nicht auf einen Aufbruch, selbst dann nicht, wenn man seine Versuche, in der Asyldebatte Kantigkeit zu zeigen, noch nicht als provozierte Rudelbildung durschaut hat.

Dennoch sollte man Merz nicht unterschätzen, und man sollte ihn vor Schlimmerem in Schutz nehmen: Denn nicht nur hat er den eindeutig mutigeren Friseur als Völler, er ist auch rein monetär betrachtet im Vergleich zum knapp gescheiterten sozialdemokratischen Gottkanzler Martin Schulz tatsächlich nur Mittelklasse. Und wir wissen ja seit dem 19. Mai 2018, dem Tag, an dem Eintracht Frankfurt den FC Bayern in die Knie zwang: Die Mittelklasse kann an einem guten Tag auch Luxuskarossen abhängen. Sie muss nur robust und einträchtig genug auftreten. Spätestens daran wird es aber am Ende wohl bei Friedrich Merz scheitern, entweder erst im Amt, oder schon zuvor. Für ihn spricht, dass bislang noch nichts darüber bekannt geworden ist, dass er versehentlich illegale Spenden für die eigene Partei eingesammelt hat. So etwas ist ja schnell passiert, manchmal sogar schneller, als man eine richtig etablierte Partei geworden zu sein glaubt, wie es dieser Tage Alice Weidel aus dem AfD-Spenden-Wunderland erfährt. Ein Verein, dessen führende Vertreter jederzeit auf der eigenen Maus ausrutschen können, ist offenbar auch nicht davor gefeit, dass fremde Mäuse ungehindert aus dem Ausland einwandern.

Schluss mit Rückblicken – wo bleibt der Jahresausblick?
Was wird uns in den TV-Jahresrückblicken sonst noch erwarten? Wie immer, wird der Abschied von der Vergangenheit im Zentrum stehen sowie die Huldigung der guten alten Zeit, auch wenn diese noch vor Jahresfrist unter der Bezeichnung „Zukunft“ herbeigefürchtet wurde. Hinzukommen wird eine Überdosis Herzschmerz, die Omnipräsenz der Alltagshelden und vor allen Dingen: das Zelebrieren der modernen Schizophrenie, der zufolge die wir alle gleichzeitig Opfer und Täter und damit einer obrigkeitlichen Lebensführung bedürftig sind. Vielleicht sollten wir uns aber in diesem Jahr schon vor dem offiziellen Beginn der Rückblicksaison gegen die anstehende Gefühlsduselei und Vergangenheitsverliebtheit besser wappnen. Schließlich ist der Verlust von Sicherheiten immer auch ein Gewinn an Möglichkeiten zur Veränderung – selbst wenn uns unser antrainiertes Hochsicherheitsbewusstsein oft anderes glauben lässt.

Es stehen so enorm viele Veränderungen an, die Chancen bergen, die Dinge grundlegend zu verändern. Während Angela Merkel auf die Zielgerade ihrer politischen Karriere einbiegt – oder ist es schon die Ehrenrunde? –, wird Großbritannien trotz der Angstzerfressenheit seiner Elite im März 2019 seine demokratisch erzwungene Ausfahrt nehmen. Wohin die Wege Europas nach den Wahlen zum Europaparlament Ende Mai 2019 führen werden, ist ebenfalls offen. Fakt ist: Die Zeiten, in denen sich die Europäische Union EU als das politische Pangaea der Gegenwart fühlen konnte, sind jedenfalls vorbei. Daran ändern auch die Versuche nichts, die immer offener zu Tage tretenden Risse durch eine gemeinsame europäische Armee zuzuschütten. Wie überhaupt das kosmetische Kitten von Gräben in den meisten Fällen eine sinnlose und zukunftsvergessene Ersatzhandlung ist. Wer in einem Abbruchhaus sitzt, sollte weder Geld noch Zeit in das Tapezieren seiner Wohnung stecken, sondern Blicke wie Schritte nach vorne und vor allen Dingen nach draußen richten. Ich plane jedenfalls im Mai 2019 einen Städtetrip nach Baku. Und vorher interessiert mich: Wann läuft eigentlich der erste Jahresausblick 2019?

 

Dieser Artikel ist am 25. November 2019 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.