Widerspruch erwünscht!

Einer Gegen Alle, Alle Gegen Einen

14.07.2020 – Im Krieg und in der Krise müssen wir zusammenhalten, da gibt es keinen Raum für Dissens und Kritik. So heißt es gemeinhin. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Habe ich eine Erkältung, gehe ich in der Regel nicht gleich zum Arzt. Den suche ich erst auf, wenn es mir über längere Zeit ernsthaft schlecht geht und ich nicht mehr weiter weiß. Bis dahin versuche ich, die Krise mit alten Ritualen und Hausmittelchen zu bekämpfen, die mir auch in der Vergangenheit geholfen haben. Gesundheitsexperten überlasse ich erst die Entscheidungshoheit über mein Wohl, wenn ich mit meinem Laienwissen am Ende bin.

In gesellschaftlichen Schieflagen hingegen konsultieren wir schnell allerhand Experten und lassen uns von diesen all­fällige Verhaltensweisen „briefen“, wie es modern heißt. Die Experteninformationen werden in die öffentliche Auseinandersetzung eingebracht und in eine politische Problembehandlung gegossen. Wir debattieren das Ganze permanent, und beständig legen wir immer neue Finger in immer neue unbehandelte Wunden. Diese Vorgehensweise ist für demokratisch verfasste Gesellschaften typisch und stilprägend. Sie sorgt zwar einerseits für eine Verlangsamung politischer Prozesse, andererseits aber durch die kontinuierliche kritische Begleitung auch für eine Beschleunigung, was die Anpassung solcher Prozesse und ihrer Tauglichkeit in der Wirklichkeit angeht. Dies macht offene Gesellschaften auch derart lernfähig und erfolgreich und autoritäre so statisch und fehleranfällig.

Kein monolithischer Block
Aber ist nicht doch irgendwann der Zeitpunkt gekommen, an dem es für eine demokratische Gesellschaft geboten ist, mit dem Debattieren aufzuhören und dem Ratschlag der Experten blind zu folgen? Die Antwort ist eindeutig: Weder gibt es diesen Zeitpunkt, noch ist irgendjemand befugt, gesellschaftliche Diskussionen für beendet zu erklären. Niemand hat das Recht, festzulegen, ab wann die demokratische und vielfältige Gesellschaft sich plötzlich wie ein monolithischer Block im Gleichschritt zu bewegen hat. Was für die Freiheit im Kleinen gilt, gilt auch im Großen: Denn als mündiger Patient mit freier Arztwahl vertraue ich mich nur jenem Arzt an, der mich gedanklich mitnimmt, und selbst dann gebe ich die Entscheidungshoheit nie freiwillig ab. Selbst dann, wenn ich bewusstlos bin und meine Entscheidung nicht äußern kann, ist der Handlungsspielraum der Ärzte extrem eng und reglementiert.

Eine Gesellschaft kann sich ihrer Situation vielleicht nicht bewusst sein, aber sie ist nie kollektiv bewusstlos. Es ist also folglich auch nie der Punkt erreicht, ab dem Experten über jeden Zweifel erhabene Entscheidungen treffen können, die die gesamte Gesellschaft betreffen. Denn das Hinterfragen der Experten und das Veröffentlichen kritischer Gegenpositionen ist ein zentrales Charakteristikum und eine enorme Stärke der demokratischen Gesellschaft. Existiert diese Möglichkeit nicht, hat die Gesellschaft aufgehört, demokratisch zu sein.

In den letzten Jahren ist die Beschwörung von Krisen oder Ausnahmezuständen zu einem häufig eingesetzten Instrument geworden, mit dem sich politisches Handeln von lästiger Interrogation abschirmen und Freiheitsrechte be­schneiden lassen. Im März 2019 setzte beispielsweise die deutsche Bundesregierung das sogenannte „Klimakabinett“ ein. Dieser oberhalb der verschiedenen Ressorts angesiedelte Ausschuss sollte Gesetzesvorlagen erarbeiten, mit denen Deutschland seine Klimaziele einhalten soll. Das bezweckte Signal war eindeutig: Klima geht vor, alle anderen Gesellschaftsbereiche sollen sich diesem Primat unterordnen und Abstriche machen. Die Bezeichnung des Ausschusses erinnerte sicherlich nicht zufällig an Sonderformationen aus Krisenzeiten wie etwa an das „Kriegskabinett“.

Krisenmanager übernehmen
Im selben Jahr wurde von mehr als 50 deutschen Städten und Kommunen der „Klimanotstand“ ausgerufen. Die Stadtregierungen brachten mit diesem Schritt zum Ausdruck, all ihre künftigen Entscheidungen unter einen Klimavorbehalt stellen zu wollen. Auch wenn all diese Maßnahmen für sich genommen rein symbolisch und rechtlich unbedeutend waren, so prägten sie doch das öffentliche Bewusstsein: Sie dienten auch der Popularisierung des Ausnahmezustandes – und dadurch zugleich auch dessen Normalisierung. Wie hilfreich dieses Einüben des Unnormalen werden sollte, zeigte sich nur wenige Monate später während der heranbrechenden Corona-Krise. Innerhalb weniger Tage wurde aus dem Klimakabinett das Corona-Kabinett.

Im Zuge dieser Krise breitet sich eine Art der Intoleranz aus, die durchaus an schlimme Zeiten erinnert – auch wenn sie vorgibt, uns vor Ungemach beschützen zu wollen. Sie legt nahe, dass diejenigen von uns, die keine Epidemiologen sind, einfach den Mund halten und das akzeptieren sollten, was uns von denen gesagt wird, die es sind. Von den Laien, also vom Gros der Bevölkerung, wird gefordert, sich demütig denen zu unterwerfen, die offensichtlich wissen, was für uns am besten ist. Der Ton der Verachtung schwingt allenthalben mit – man missbilligt die Versuche einfacher Leute, die Coronavirus-Krise in zahlreichen Diskussionen, etwa in den sozialen Medien, zu verstehen. Diese Verachtung erinnert an die elitären Vorurteile, die Regierungs- und Religionsexperten im 19. Jahrhundert gegenüber dem Landvolk und dem Pöbel empfanden.

Es ist aber nicht nur der herablassende Ton dieser Verfechter der «Expertokratie in Krisenzeiten», der fragwürdig ist. Darin schwingt auch der Versuch mit, den Menschen das Recht auf Zweifel, Kritik und Widerspruch zu nehmen. Dabei ist Skepsis gegenüber Obrigkeiten und Experten ge­rade in Krisenzeiten dringend geboten. Denn dies sind die Momente, in denen Politik ihren zivilen Rahmen verlässt und mit der Autorität „unabhängiger“ und „neutraler“ Fachberater neue Regeln setzt bzw. alte außer Kraft setzt. Die Forderung nach Krisengehorsam erweist der Gesellschaft in solchen Momenten einen schlechten Dienst – und eigentlich auch den Experten, denn auch sie haben kein Monopol auf Wahrheit und laufen Gefahr, einen Karren in Gang zu setzen, vor den sie anschließend stärker gespannt werden, als ihnen lieb ist.

Worte für den Wahnsinn
Sicherlich bereiten gerade Zeiten der Verunsicherung und der Angst den Boden für zahlreiche Verschwörungstheorien und horrende Falschmeldungen, welche die Menschen weiter verunsichern. Doch die Annahme, dass dies von staatlichen oder privatwirtschaftlichen Aufsehern mit aller Härte unterbunden werden sollte, ist aber gefährlich für das Grundrecht auf Meinungsfreiheit. Tatsächlich sind offene Diskussionen ein gutes Zeichen, auch wenn darin zweifelhafte Argumente mitschwingen. Sie zeigen, dass gewöhnliche Menschen, genau wie die Experten, versuchen, dem Wahnsinn unserer Zeit einen Sinn zu geben, ihn zu begreifen.

Es ist ebenfalls ein Irrtum, anzunehmen, man müsse selbst Naturwissenschaftler sein, um mit Epidemiologen sinnvoll diskutieren zu können. Durch unser Hinterfragen können wir erkennen, ob das Wissen, die Theorien oder die Maßnahmen, die wir akzeptieren sollen, glaubwürdig und reali­tätstauglich sind. Durch die öffentliche Kontroverse darüber gestalten wir die Politik konstruktiv mit. Indem wir Widersprüche und Falschaussagen aufdecken, sorgen wir für eine höhere Transparenz und zwingen die Experten dazu, miteinander in Konflikt zu geraten und ihre Positionen besser zu erklären. Nicht zuletzt helfen wir ihnen dabei, sich ihrer gesellschaftlichen Bedeutung bewusster zu wer­den und Einflüsse in ihr Denken mit aufzunehmen, für das sie nicht geschult und ausgebildet sind. Denn in Sachen Alltagsleben sind nicht die Wissenschaftler die Experten, sondern wir!

Kluge Wissenschaftler werden das wachsende Interesse und das Nachfragen der Menschen begrüßen. Im Gegensatz zu Moralhütern, die glauben, dass ihre Erkenntnisse mehr Wert sind als die des „Pöbels“, wissen sie nämlich, dass eine Krise an mehreren Fronten gleichzeitig bekämpft werden muss – an der wissenschaftlichen, an der politischen und an der sozialen. Anders formuliert: Wer in Krisenzeiten Experten vor unseren Fragen bewahren will, schwächt die Experten und verstärkt die Krise. Im Gegensatz dazu hält Widerspruch die demokratische Gesellschaft am Leben und die Zukunft offen.

Dieser Artikel ist zuerst  im Vögele Kultur Bulletin („Existenz. Über das Leben in schwieriger Zeit“, Nr. 109) erschienen. Die PDF-Version findet sich hier.