Optimismus ist abgrundtief menschlich

Motivation, Möglichkeiten, Psychologie

22.07.2020 – Optimismus ist in schwierigen Zeiten sehr hilfreich, aber auch ein rarer Wert – denn das aktuelle Gesellschaftsklima bevorzugt Pessimisten.

Meine politische Sozialisation begann in Westdeutschland, und zwar genau am 26. April 1986, dem Tag des Unfalls im sowjetischen Kernkraftwerk Tschernobyl und somit einen Tag vor meinem 15. Geburtstag. Sich mit einem Schlag für die Welt interessieren zu müssen, bedeutete damals: sich einer enormen Gefahr bewusstwerden, ohne sie verstehen, geschweige denn spüren oder gar abwenden zu können. Von einem Tag auf den anderen vollzog sich meine Erst-Politisierung als eine Art Globalisierung der Angst. Ich hatte zwar ein paar Jahre zuvor schon von dem Gerücht gehört, dass neben unserem Schrebergarten im Frankfurter Stadtteil Hausen, im Equipment Maintenance Center der US-Armee, atomare Mittelstreckenraketen gelagert worden sein sollen, was dem Gelände den Namen „Pershing-Fabrik“ eingebacht hatte und zahlreiche Demonstranten anzog. Doch entweder war ich mit elf für globalen Weltschmerz und Untergangshysterie einfach noch zu jung, oder ich genoss unbewusst und im Stillen die Prominenz unserer Gartenkolonie. Wahrscheinlich beides.

Seit Tschernobyl war mir aber klar, dass, je mehr man sich für die Welt öffnete, die Vorzeichen dieser Aufklärung eindeutig negativ waren. In den Folgejahren prägte der Aufstieg von als „Neo-Nazis“ geltenden Protestparteien, das apokalyptische Waldsterben, das Tiananmen-Massaker in Peking, rassistische Gewalt im vereinten Deutschland sowie – durchaus prägend für meine Generation– die wilden Gerüchte um und die Ängste vor Aids unser Weltgefühl. Zukunftsangst und ein tiefsitzender Pessimismus galten für mich damals als Insignien der Bewusstheit und wurden dementsprechend wie eine religiöse Monstranz kulturell zur Schau getragen. Wer „gut“ und nicht wie „die Anderen“ war, der sah keine bunte Zukunft, sondern schwarz. Wer im Gegensatz dazu für das spätere Leben lernte und Karriere machen wollte, galt als oberflächlich, angepasst, als unverbesserlicher Optimist und Träumer, als systemtreuer Speichellecker und als Spießer. Ich bin dankbar, dieses oberflächliche Schwarz-Weiß-Sehen, bzw. das notorische Schwarzsehen überwunden zu haben – auch wenn dies ein harter Prozess war, der mich zwischenzeitlich meines kompletten Freundeskreises entledigte.

Pessimismus – das Gebot der Stunde
Als mich im letzten Herbst meine zwölfjährige Tochter fragte, ob ich es in Ordnung fände, dass sie am Freitag nicht auf die Schülerdemo „Fridays for future“ gehen wollte, wurde mir plötzlich klar, wie sehr sich einige Dinge seit meiner eigenen Jugend verändert haben. Offensichtlich sind es heute eher die Angepassten, die marschieren. Natürlich hätte ich damals liebend gerne während der Schulzeit demonstriert. Aber ich bin mir sicher, ich wäre skeptisch geworden, wenn sich plötzlich nicht nur alle „Spießer“ aus meiner Klasse, sondern auch das komplette Lehrerzimmer sowie die Eltern meinem Demonstrationszug angeschlossen und die Politiker applaudierend am Straßenrand gestanden hätten.

Diese Skepsis gegenüber Obrigkeiten ist heute bei Jugendlichen nicht besonders stark ausgeprägt – schon gar nicht dann, wenn es um das Beschwören globaler Ängste und Gefahren geht. Und offenbar ist das Schwarzsehen ein generationenübergreifender Grundkonsens geworden. Woher soll da die Skepsis kommen? Studien haben gezeigt, dass im Spätherbst 2019 das Durchschnittsalter der FfF-Demonstranten in Deutschland bei weit über 30 Jahren lag. Ende der 1980er fühlte ich mich mit meinem stilisierten Pessimismus noch irgendwie besonders. Heute schwömme ich mit einem Großteil meiner damaligen Ansichten wohl mitten im Mainstream.

Tatsächlich bin ich heute aber ein grundsätzlich optimistischer Mensch – und damit mindestens ebenso weit vom Durchschnitt entfernt wie vor rund 30 Jahren, wenn nicht sogar noch weiter. Der Treppenwitz meiner Biografie ist: Fing ich mir früher wegen meiner zur Schau getragenen Anti-Haltung verstörte Blicke ein, so ist es heute meine Zuversicht, die mich in den Augen mancher Zeitgenossen verdächtig macht. Optimistische Grundhaltungen sind nicht nur selten geworden, sie scheinen auch gar nicht mehr wirklich erwünscht zu sein. Ich erinnere mich noch gut an die Reflexe, die Zuversicht damals bei mir auslöste: Optimisten waren damals für mich blauäugige Realitätsverdreher und Weltmeister im Wegschauen und Verdrängen. „Wie kann angesichts der Zustände in der Welt jemand auch nur in Ansätzen zuversichtlich sein?“ So in etwa klang der als Frage gefasste Vorwurf an denjenigen, der nicht im Jammertal der Wirklichkeit versinken wollte. Fast scheint es, als seien Missmut und niedrige Erwartungen mittlerweile die Gebote elf und zwölf des bewusst lebenden Menschen. Doch warum ist das so?

Auch Krisen haben Platz für Zuversicht
Um den Optimismus ranken sich viele Missverständnisse. Eines besagt, dass alles gut sein muss, damit Zuversicht keimen kann. Doch wo steht geschrieben, dass wir nur dann eine positive Zukunft erhoffen dürfen, wenn schon die Gegenwart gut ist? Das würde ja bedeuten, dass Optimismus nur als kontinuierliche Fortsetzung der Gegenwart möglich ist. Wäre dem tatsächlich so, würde in der Krise die Hoffnung auf Besserung aussterben und es könne kein Entrinnen aus der Krise geben. Selbst die über Generationen funktionierende gedankliche Triebfeder des Fortschritts, nämlich das Ziel, dass es den Kindern einmal besser gehen solle als einem selbst, würde dann keinen Sinn machen. Im Vergleich dazu wirkt das Credo der Umweltbewegung, man habe die Erde nur von den Kindern geborgt und müsse sie möglichst unverändert weitergeben, wie blanker Zynismus. Ich bin froh, dass die Welt heute nicht so ist, wie sie meine Eltern vorfanden.

Viele Menschen sehen im Optimismus eine begrenzte Ressource, die in der Gegenwart wächst, aber nie ausreichend vorhanden ist. Das Beispiel von politischen Widerstandskämpfern, aber auch von ganz normalen Eltern, die alles dafür tun, damit ihre Kinder eine gute Schulbildung bekommen, zeigt indes etwas anderes: Optimismus entspringt nicht aus einer glücklichen Realität, sondern daraus, wie man gegenüber der Zukunft eingestellt ist. Optimismus ist eine Haltung, die entstehen kann, egal, wie die aktuellen Lebensumstände sind. Es ist nicht eine bestimmte Faktenlage, die jemanden optimistisch oder pessimistische denken lässt. Das einzige, was entscheidend ist, ist die persönliche Einstellung. Und über die entscheidet jeder Mensch ganz allein. Optimismus ist nichts, was wir lernen können, denn jeder Mensch trägt ihn in sich. Um ihn (wieder) ans Tageslicht zu befördern, hilft es, sich bewusst zu machen, dass Neugier eine positive menschliche Eigenschaft ist. Leider ist die moderne Gesellschaft viel zu wenig gierig auf wirklich Neues. Darunter leiden unsere geistige Offenheit und Beweglichkeit. Wenn wir wieder neugieriger werden auf die Welt und sie besser verstehen, dann wird sie uns auch besser gefallen.

Nichts schönmalen
Dass jeder selbst frei entscheidet, ob er Optimist oder Pessimist sein will, ist – je nach Standpunkt – eine gute oder eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist: Um Optimist zu sein, muss ich mir die Welt nicht schönreden, im Gegenteil: Ich kann mit jeder Realität, auch mit einer gebrochenen, umgehen, denn ich halte sie für veränderbar. Optimist werde ich dadurch, dass ich über die Zukunft nachdenke und nach Wegen suche, um diese positiv zu beeinflussen. Wenn man sein Denken darauf richtet, lässt man relativ automatisch das sehr pessimistische Denken hinter sich.

Und genau dies ist auch die schlechte Nachricht. Denn es ist das eigene Denken, von dem es abhängt, wie man die Welt sieht. Auch das Schlechtreden hilft nicht. Das eigene Verhältnis zur Zukunft entscheidet über die Sicht auf die Gegenwart. Niemand sonst ist dafür verantwortlich. Doch selbst hierin steckt wieder etwas Positives: Ich muss nicht erst die Welt verändern, um optimistisch werden zu können. Indem ich sie nach Chancen durchsuche, verändere ich sie bereits, denn ich höre auf, sie schwarzzumalen. Optimismus ist, wie die Zukunft auch, ein Produkt des menschlichen Nachvornedenkens. Dieses Denken ist entgegen der Ansicht mancher Zyniker keine begrenzte Ressource. Jeder der rund 7,7 Mrd. menschlichen Köpfe auf der Welt steuert hier seinen Teil bei, Tendenz steigend.

Ist aber die Tatsache, dass Optimisten heute scheinbar in der Minderheit sind, nicht eher ein Indiz dafür, dass es mehr Gründe für Pessimismus gibt? Als soziale Wesen sind wir alle gesellschaftlichen Einflüssen ausgesetzt. Wir werden geprägt durch Werte, Denkweisen, auch durch Machtkonstellationen und durch vorherrschendes Wissen und Glauben. All diese Faktoren machen das gesellschaftliche Klima aus. Und dieses Klima hat einen großen Einfluss darauf, wie Menschen ihre Welt wahrnehmen – und auch ihre Zukunft. Die moderne globalisierte Gesellschaft zeichnet sich heute dadurch aus, dass Ängste und Risiken stärker wahrgenommen werden als positive Entwicklungen und Potenziale. Das hängt u.a. damit zusammen, dass viele Menschen heute den Eindruck haben, in einer Welt voller globaler Zusammenhänge kaum mehr eine eigene Rolle zu spielen. Während die Wirklichkeit immer komplexer wird, verkleinert sich der Raum, auf den das Individuum noch glaubt, Einfluss nehmen zu können. Kein Wunder, dass Ängste und der Trend zu Rückzug und Abschottung zunehmen.

In einer Gesellschaft, in der scheinbar jede Woche ein neuer Weltuntergang heraufbeschworen wird, ist Zuversicht nicht nur eine Rarität, sondern in gewisser Weise sogar gefährlich für das stagnierende Gleichgewicht. Daher ist der Optimist eher ein Feind des Zeitgeists, insbesondere in Krisenzeiten. Optimisten streben kreativ nach Veränderung und sind nicht bereit, sich mit dem Status quo abzufinden. Sie beginnen, scheinbare Gewissheiten zu hinterfragen und Unruhe zu stiften – zumindest im Denken. Neugier, Ungeduld, die Lust am Zweifel und das Streben nach Veränderung und Verbesserung sind beim Optimisten stark ausgeprägt.

Optimisten sind weniger lenkbar
Anders formuliert: Nur für Optimisten macht es Sinn, überhaupt kritisch zu sein. Im Gegensatz dazu ist der Pessimist ein pflegeleichter Anhänger des modernen Zeitgeists. Er äußert keine hohen Erwartungen, sondern sucht eher Bestätigung dafür, dass derlei wenig Sinn macht und reine Energieverschwendung isdt. Er ist nicht nur offener für düstere Zukunftsaussichten und spürt und schürt Misstrauen gegenüber guten Nachrichten. Er ist auch viel eher bereit, sich regieren zu lassen, da er ohnehin keine Hoffnung darauf hat, dass Widerstand etwas Positives bewirken könnte. Das aktuelle Gesellschaftsklima bevorzugt Pessimisten, denn es betont negative Zukunftsvisionen und das Misstrauen gegenüber guten Nachrichten. Dadurch verengt sich der Erwartungshorizont, was sich anfangs bequem anfühlt, jedoch auf lange Sicht niemandem guttut.

Wer in düsteren Zeiten optimistisch sein will, stößt daher unweigerlich auf Widerstände. Denn Zuversicht braucht hohe Erwartungen an Mensch und Zukunft, und genau das fehlt dem modernen Zeitgeist. Optimismus ist ohne die Überzeugung, dass Menschen sich entwickeln können, kaum vorstellbar. Der Pessimist möchte über derartige Fragen gar nicht nachdenken: Da für ihn die Dinge ohnehin nicht besser werden, muss er auch nicht einmal für die Freiheit eintreten, sie aktiv besser machen zu können. Nicht selten interpretiert er Freiheit sogar als zusätzliche Bedrohung und deren Beschneidung als eine sinnvolle Zukunftsstrategie, um das Schlimmste eventuell doch noch zu verhindern. Hier schlägt dann auch die spürbar intolerante Dimension des pessimistischen Zeitgeists durch, der für Zweifel und Zwist keinerlei Verwendung hat. Optimistisches Denken hingegen kann sich immer entwickeln, da die Möglichkeit zur Veränderung nie ausgeschlossen werden kann. Gewissheit braucht er gar nicht, denn auch das Scheitern ist Teil seiner Vorstellungswelt. Es ist die persönliche Nähe oder Distanz zu dieser humanistischen Grundüberzeugung, die letztlich darüber entscheidet, ob jemand eher optimistisch oder pessimistisch eingestellt ist. Diese Frage ist für mich persönlich viel wichtiger als die, ob sich ein Mensch als „links“ oder „rechts“ oder „religiös“ oder als was auch immer versteht.

Wir alle verändern ständig die Welt – als Optimisten wie auch als Pessimisten. Ich habe beide beides ausprobiert und weiß für mich, dass optimistisches Denken nicht nur in Krisenzeiten glücklicher und robuster macht, sondern auch stärker erwidert wird. Und gerade heute hat optimistisches Denken eine zusätzlich rebellische und aufmüpfige Note. Zugleich kann niemand die persönliche Entscheidung, Optimist zu sein, revidieren. Sie ist und bleibt eine freie Entscheidung. Nicht einmal diese Freiheit kann der Pessimist genießen: Sein Pessimismus ist für ihn keine Entscheidung, sondern Naturgesetz. Deswegen erträgt er Zuversicht auch nicht gern, da sie ihm vor Augen führt, dass es anders gehen könnte, wenn man es will. Dem Optimisten, der weiß, dass er gegen den Strom schwimmt, reicht die Möglichkeit, Dinge zum Positiven verändern zu können, aus. Gute Gründe für Optimismus helfen ihm, um im stetigen Ringen mit dem Zeitgeist nicht weggerissen zu werden. Doch dieses Ringen lohnt sich: Optimisten leben in einer schöneren Welt – nicht, weil sie Hässlichkeit ausblenden, sondern weil die Welt für sie veränderbar ist und es also eine womöglich bessere Zukunft gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt.

„Da es sehr förderlich für die Gesundheit ist, habe ich beschlossen, glücklich zu sein.“ In dieser dem französischen Aufklärer Voltaire zugeschriebenen Aussage geht es nicht um eine Flucht ins Wolkenkuckucksheim, sondern darum zu erkennen, dass es an einem selbst liegt, ein positives Verhältnis zur Wirklichkeit zu entwickeln. Gerne wird der Einwand erhoben, dass notorische Optimisten mehr Enttäuschungen und böse Überraschungen erleben als Menschen mit niedrigen Erwartungen. Das mag sein, andererseits sind Pessimisten gezwungen, positive Überraschungen in negative umzudeuten, was garantiert nicht erfüllender ist. Optimisten sind in der Regel robuster und verkraften Rückschläge besser, denn sie sind davon überzeugt, dass es sich lohnt, immer wieder aufzustehen und für etwas zu kämpfen. Der Pessimist gibt den Kampf verloren, ohne ihn ausgefochten zu haben. Das spart Kräfte. Mir ist aber klar geworden: Solange es Ziele gibt, für die es sich lohnt, Kräfte aufzuwenden, solange ist Sparsamkeit pure Verschwendung.

Dieser Artikel ist zuerst  im Vögele Kultur Bulletin („Existenz. Über das Leben in schwieriger Zeit“, Nr. 109) erschienen.