Der Zeitgeist, ein Angsthase!

04.07.2020 – Interview von Andreas Dünser mit Matthias Heitmann, erschienen in „Thema Vorarlberg“, Juli-August 2020)

Sie laden in Ihrem Buch zur Zeitgeisterjagd, Sie wollen das hinterfragen, was der Zeitgeist vorgibt . . .
Hinterfragen ist der zweite Schritt. Der erste Schritt ist: Den Zeitgeist sichtbar zu machen. Denn der Zeitgeist zeigt sich in unterschiedlichen Themen, er verhüllt sich, er tarnt sich, etwa als „gesunder Menschenverstand“, als Weltenrettung oder als Geschlechtergerechtigkeit. Aber wenn man genauer hinblickt, stellt man fest: Das sind teilweise ganz schön zynische und pessimistische Argumente, die sich da hinter der positiv wirkenden Fassade verbergen.

Sie formulieren da so schön, was wohl jeder von sich behauptet: „Der Zeitgeist, das sind immer die Anderen.“ Ist das denn die Ausrede der heutigen Zeit?
Ja. Keiner würde von sich behaupten, dass er ein Kind des Zeitgeistes ist; keiner würde von sich behaupten, dass er dem Zeitgeist hinterherrennt. Wer sich heute nicht als Querdenker positioniert, der gilt doch als uninteressant. Worauf sich allerdings die anschließende Frage stützt: Wenn alle Leute querdenken, was ist dann eigentlich quer? Ist dann quer das neue Geradeaus? Es ist interessant, dass sich die Leute zwar in Abgrenzung zum Zeitgeist verstehen, jeder den Zeitgeist aber anders definiert. Der ökologisch orientierte Mensch behauptet beispielsweise, dass unser Zeitgeist heute extrem antiökologisch wäre. Das sehe ich nicht so. Ich glaube, dass wir in einer sehr grünen Zeit leben und wir kaum tatsächlichen Widerstand gegen ökologische Argumente haben. Was dann wiederum dazu führt, dass ich mit Grünen in der Wahrnehmung der Wirklichkeit schon über Kreuz liege. Sie führen sich immer noch so auf, als wären sie die Opposition, und merken dabei gar nicht, dass sie den Zeitgeist heute sehr stark dominieren mit ihren Argumenten.

Aber wer trägt dann den Zeitgeist, wenn alle angeblich so kritisch sind?
Tja, das ist die schöne Frage. Ich denke, was den Zeitgeist trägt, sind seine Grundwerte: Skepsis und Misstrauen gegenüber dem einzelnen Menschen und gegenüber der Gesellschaft. Betrachtet man die einzelnen Bestandteile, auf denen der heutige Zeitgeist beruht, dann fallen einem die Untiefen auf, die Einseitigkeiten und Halbwahrheiten, die teilweise sehr moralischen, ja fast religiösen Standpunkte, von denen er abhängt. Und wenn Sie diese einzelnen Aspekte kritisieren, bekommen Sie sehr schnell den tatsächlichen Charakter unseres Zeitgeistes zu spüren. Ich versichere Ihnen, die Unterhaltung wird dann interessanter und der Ton rauer werden, Sie werden Unverständnis und Intoleranz ernten.

Sie schreiben, man treffe „kaum noch selbstbewusste Verteidiger gegenteiliger Vorstellungen“. Ist der aus dem Spiel, der sich gegen die herrschende Moral stellt?
Es gibt auch Gegen-Öffentlichkeiten, aber aus den öffentlich dominierenden Medien ist man sehr schnell raus. Gerade dort wird versucht, dieses Mantra der Alternativlosigkeit aufrecht zu erhalten, weil man befürchtet, dass noch mehr Leute anfangen, die Welt ganz anders zu sehen. Und deswegen werden diejenigen, die teilweise nur in Nuancen von der öffentlichen Wahrnehmung der Welt abweichen, sehr schnell in vermeintlich radikale Ecken gesteckt – oder in Schubladen, in die sie gar nicht passen. Man ist heute ja schneller in irgendeiner Form ein Extremist, als man das Wort niedergeschrieben hat. Wer auch nur geringfügig abweicht, bekommt den Zorn des intoleranten Mainstreams zu spüren, der aus einer eigenen Verunsicherung heraus mit Dissens überhaupt nicht umgehen kann.

Und diejenigen, die für sich Redefreiheit in Anspruch nehmen, sind oftmals die ersten, die anderen diese Redefreiheit vorenthalten wollen . . .
Ja. Absolut. Es ist diese wachsende Intoleranz, die man auch an der Art und Weise merkt, wie auf solche Abweichler reagiert wird. Das ist dann hochemotional und hysterisch und sehr schnell wird auch der Einfluss solcher Abweichler überhöht und die Gefahr, die angeblich von ihnen ausgeht. Ein sachlicher, ein ruhiger kontroverser Diskurs findet kaum noch statt. Ich habe übrigens immer wieder die Erfahrung gemacht, dass in Gesprächen über Gott und die Welt sich gerade diejenigen als besonders intolerant, diffamierend und unsachlich erweisen, die von sich in Anspruch nehmen, zu den progressivsten Querdenkern zu gehören.

Nehmen wir ein konkretes Beispiel für ein Thema, bei dem man mit gegenläufiger Meinung sehr schnell zu einer Persona non grata wird?
Klimawandel. Wir können das Wortspiel aufgreifen. Wer da dagegen argumentiert, wird sofort zur ‚Persona non Greta.‘ Gerade bei Themen, in denen es einen scheinbaren überwältigenden Konsens gibt, führt dieser Konsens interessanterweise nicht dazu, dass man irgendwie gelassen mit der Diskussion umginge. Nein, geradezu hysterisch wird da verbal auf Leute eingeprügelt, die anderer Meinung sind. Ein ähnlich hysterisches Thema ist Migration. Dort hätte man sehr viel mehr auf die Sorgen von Menschen hören müssen, anstatt sie automatisch in die radikale Richtung zu schieben. Aber bedauerlicherweise wurden bei beiden Themen Andersdenkende oder auch nur leicht Andersdenkende sofort aus dem angeblich akzeptablen Debattenspektrum ausgegrenzt.

Es zieht sich wie ein roter Faden durch Ihr Buch:  Sie wollen die Meinungsfreiheit verteidigen!
Ja. Das will ich. Ich kann Beschränkungen der Meinungsfreiheit in keiner Art und Weise akzeptieren. Auch nicht bei Meinungen, die ich selbst ablehne. Da sind die Begriffe der Meinungsfreiheit und der Toleranz untrennbar verbunden. Es ist der alte Leitsatz, der Voltaire zugeschrieben wird: ‚Ich verabscheue, was du sagst. Aber ich werde mein Leben dafür hergeben, dass du es sagen darfst.‘ So würde ich es auch halten, weil ich denke, dass eine Gesellschaft, die nicht in der Lage ist, widerwärtige Standpunkte zu entkräften, ein Problem hat. Es gehört zu einer offenen, aufgeklärten Gesellschaft dazu, dass sie Standpunkten aktiv entgegentritt, ohne sie zu verbieten. Denn der Glaube, dass Standpunkte aus der Welt sind, wenn man sie nur verbietet, ist allzu naiv. Und gerade im Hinblick auf die deutsche Geschichte ist es ganz wichtig, sich vor Augen zu führen, dass die Weimarer Republik nicht an einem Übermaß an Meinungsfreiheit und Demokratie zu Grunde gegangen ist, sondern im Gegenteil an einem Mangel an Freiheit.

Im Zeitgeist liege etwas Totalitäres, etwas Krakenhaftes, dem sich niemand entziehen könne, sie zitieren da den Historiker Hiery.
Je stärker der Zeitgeist, desto schwächer der einzelne Mensch, sagt Hiery. Und Aldous Huxley hat gesagt, dass er den Zeitgeist für ein gefährliches Biest halte, und er sich wünsche, er könnte sich seinen Klauen entziehen. Das ist schwierig, weil der Zeitgeist nicht offen daherkommt, sondern sich in unser Denken einschleicht. Der Zeitgeist funktioniert ein bisschen wie ein Bug in Ihrem Rechner. Der nistet sich ein und das führt dann dazu, dass das System ein instabiler und das Denken ein anderes, statischeres, engeres wird. Dieser Zeitgeist hat sich quasi in unser gesellschaftliches Rechenzentrum eingenistet und beeinflusst uns alle, weil wir so miteinander vernetzt sind. Ein Großteil der Prozesse, die die heutige Gesellschaft prägen, ist darauf ausgerichtet, die persönliche Eigenständigkeit systematisch zu untergraben. Ich will diese Bugs sichtbar machen, sodass sie jeder für sich aus seinem Denken entfernen kann. Auf dass auch individuelle Gedankengänge wieder möglich sind, ohne dass gleich mit der moralischen Keule darauf eingeprügelt wird!

Lassen sich die Menschen heute zu viel gefallen? An Denk- und an Sprachverboten?
Ja. Man sagt heute oft, dass die Menschen alle egoistisch seien und nur an sich denken würden. Wenn ich mir aber ansehe, was wir alles mit uns machen lassen, kommt mir da eher der umgekehrte Gedanke: Vielleicht sind wir gar nicht egoistisch genug? Denn dem Menschen wird eigentlich nur der Verzicht als moralisch hochwertig verkauft, geschmückt mit diesem besonderen Wort der Alternativlosigkeit. Die seit Jahrzehnten betriebene Politik der schrittweisen Entmündigung der Bürger wie auch das Proklamieren des Verzichts als moralisch wertvolle und unverzichtbare Haltung hat jedenfalls ihre Spuren im allgemeinen Bewusstsein hinterlassen. Nur wenige Menschen sind noch bereit, ihre Interessen offensiv zu formulieren – und noch seltener sind sie dazu bereit, für sie zu streiten und zu kämpfen.

In Ihrem Buch steht auch der Satz: ‚Noch nie war Zukunft so vielversprechend, und noch nie haben sich die Menschen so wenig von ihr versprochen.‘ Widerspricht denn auch Optimismus dem Zeitgeist?
Ich habe den Eindruck, dass man heute nichts Aufmüpfigeres tun kann, als optimistisch zu sein. Optimismus ist die Wahrnehmung, dass sich die Dinge zum Positiven ändern können. Optimismus ist keine Aussage über die Gegenwart, sondern eine über die Zukunft. Aber der Zeitgeist bevorzugt Pessimisten. Weil Pessimisten eigentlich nur auf Anweisungen warten. Sie brauchen die Bestätigung, dass sich nichts zum Bessern ändern kann. Und dieses Denken hat sich durch die Corona-Pandemie und die Art des gesellschaftlichen Umgangs damit jetzt nochmals sehr verfestigt.

Ist der Zeitgeist der der Bedenkenträger und der der politischen Korrektheit geworden?
Absolut. Der Zeitgeist ein Angsthase. Er will nicht, dass wir selbst denken, dass wir uns selbst als handelnde Subjekte im Sinne der Aufklärung verstehen. Der Zeitgeist ist derjenige, der uns die ganze Zeit weismachen will, dass wir gescheitert sind und wir deswegen Leute brauchen, die für uns alles regeln und organisieren. Es ist auch ein obrigkeitliches Denken, das den heutigen Zeitgeist auszeichnet. Der einzelne Mensch ist derjenige, den es zu leiten und für den es zu denken gilt. Der Einfluss der Menschheit auf den Planeten ist zu reduzieren, zu kontrollieren, das ist der Kern des grünen Zeitgeists. Bei diesem negativen Menschenbild ist Demokratie aus Sicht der Herrschenden eher ein Wagnis als eine Chance. Ich glaube, wir bräuchten dringend eine Renaissance im aufklärerischen demokratischen Denken. Denn die Welt wird schon allein dadurch eine andere, dass man sich die Freiheit nimmt, frei über sie nachzudenken! Man muss sich nur seine Neugier bewahren. Auch wenn das Wort heutzutage verpönt ist, und das auf beiden Silben: Neu ist schlecht und Gier erst recht. Auch das ist der Zeitgeist . . .

Vielen Dank für das Gespräch!

Das Interview ist erschienen in „Thema Vorarlberg„, Juli/August, 2020, herausgegeben von der Wirtschaftskammer Vorarlberg, Österreich.