Was ist eigentlich eine „falsche Wahl“?

Radiergummi, Abrieb, Schreibwaren, Büro

Lokalpolitiker haben den NPD-Mann Stefan Jagsch in der Gemeinde Altenstadt zum Ortsvorsteher gewählt. Nach einem Aufschrei quer durch alle Parteien soll er wieder abgewählt werden. Ein seltsamer Nachgeschmack bleibt. Und die Frage, ob das nicht einen größeren Schaden anrichtet.

Die Wahl eines NPD-Politikers zum Ortsvorsteher in der hessischen Gemeinde Altenstadt hat bundesweit für Entsetzen gesorgt. Vor allen Dingen, weil der Mann von seinen sozial-, christ- und freidemokratischen Kollegen gewählt wurde, mit denen er bereits seit längerem im Ortsbeirat sitzt. Jeder, der einmal an einer Ortsbeiratssitzung teilgenommen hat, vermag sich die Szene auszumalen: „Es ging alles sehr schnell“, beschrieb der 65-jährige Sozialdemokrat Ali Riza Agdas den Vorgang. „Ich war davon ausgegangen, dass sich der bisherige Stellvertreter des Ortsvorstehers von der CDU zur Wahl stellt. Aber dann hat sich niemand gemeldet. Bis eben Jagsch kandidierte.“ Er habe, so Agdas weiter, „nur noch die Person gesehen“, die er seit 13 Jahre kenne und die sich im Ortsbeirat „nie rassistisch geäußert“ habe. Erst später sei ihm klar geworden, dass er „wohl einen Aussetzer“ gehabt habe, äußerte er im Interview mit dem Spiegel. Nun wolle man „Herrn Jagsch abwählen und dann normal im Ortsbeirat mit den anderen Mitgliedern und auch ihm zusammenarbeiten“.

Demokratie-Gau in der Wetterau?
Die Reaktionen auf diesen Vorgang reichten von amüsiertem und fassungslosem Kopfschütteln bis hin zu der rabiaten Kritik des SPD-Vizes Ralf Stegner an der „Dummheit und Dreistigkeit dieses Vorgangs“. Auch der hessische CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Tauber forderte personelle Konsequenzen, da „unverantwortlich, pflicht- und geschichtsvergessen“ mit politischen Mandaten umgegangen worden sei. Myriam Gellner aus dem Kreisverband der Grünen in der Wetterau sprach von einem „Blackout der Demokratie“. Der Tenor war einstimmig und eindeutig: Die „falsche Entscheidung“ müsse umgehend korrigiert werden. Und tatsächlich erklärten Wetterauer Politiker schon wenige Tage nach der Abstimmung, dass es bereits eine neue Kandidatin für das Amt des Ortsvorstehers gäbe und Jagsch bei nächster Gelegenheit wieder abgewählt werde.

Sogleich wurden heftige Diskussionen über die Schlussfolgerungen losgetreten, die Deutschland zu ziehen habe, um dem Rechtsruck der Gesellschaft entgegenzutreten. Dass die Wahl von Jagsch nicht Ausdruck des Willens eines radikalen politischen Mobs, sondern scheinbar temporär desorientierter Lokalpolitiker war, spielte in den erregten Debatten über den Skandal von Altenstadt kaum noch einen Rolle. Wie auf Knopfdruck forderte Peter Maxell im Spiegel, was eigentlich immer gefordert wird, egal, um was es geht: „Mehr Bildung“ sei notwendig, denn es mangele „offenkundig an Wissen darüber, was genau die NPD ist und in welcher Tradition sie steht“. Der Vorfall zeige, dass man „nichts aus der Geschichte gelernt“ habe oder das Gelernte ignoriere.

Person wichtiger als Partei?
Man kann darüber streiten, ob sich aus dem zugegebenermaßen erstaunlichen Verlauf der Ortsbeiratssitzung in der Altenstädter Waldsiedlung gerade dies oder anderes ableiten lässt. Große ideologische Grundsatzdebatten sind auf der Ebene praktischer Lokalpolitik jedenfalls die absolute Ausnahme. „Wir sind völlig parteiunabhängig im Ortsbeirat“, teilte Norbert Szilasko (CDU) der hessenschau.de mit. Zudem würde sich der 33-Jährige, der Vize-Landesvorsitzender und Landesschatzmeister seiner Partei, Vorsitzender der vierköpfigen NPD-Fraktion und im Übrigen auch gewählter vierter Stellvertreter des Vorsitzenden der Gemeindevertretung sei, mit Computern auskennen und könne Mails verschicken, was für einen Ortsbeiratsvorsteher durchaus hilfreich sei.

Zuvor hatte der bisherige freidemokratische Ortsvorsteher Klaus Dietrich sein Amt wegen der „politischen Wirkungslosigkeit“ des Gremiums frustriert niedergelegt. Die demokratische Kultur des Landes hätte also durch die Wahl eines NPD-Funktionärs zum Vorsteher eines solchen Gremiums wohl keinen Schaden genommen, wäre da nicht die hohe öffentliche Sensibilität für rechtsradikale und extremistische Strömungen.

Sollte auf der Ebene von Ortsbeiräten, in denen über Fußgängerampeln und Umgehungsstraßen entschieden wird, das Gebot der Handlungsfähigkeit höher eingestuft werden als die Weigerung, mit Vertretern verfassungsfeindlicher Parteien zusammenzuarbeiten? Dass in der Lokalpolitik mangels Alternativen zuweilen jeder gewählt wird, der sich aufstellen lässt, ist jedenfalls nicht Ausdruck starker rechtsradikaler Tendenzen, sondern ein alarmierendes Signal für die Ermüdung der traditionellen demokratischen Kultur. Die fast schon ritualisierte Empörungswelle war für die Situation in der Waldsiedlung jedenfalls wenig förderlich. „Es gibt nur Verlierer“, äußerte entsprechend der ehemalige Ortsvorsteher Klaus Dietrich gegenüber dem Radiosender hr-INFO und meinte damit diejenigen, „die in gutem Wissen und Glauben ein einstimmiges Ergebnis präsentiert haben“.

Demokratie ist nicht unfehlbar
Diese Provinzposse wirft aber auch jenseits der lokalpolitischen Ebene interessante Fragen auf. Selbstverständlich ist gerade die Demokratie alles andere als fehlerlos oder unfehlbar. Im Gegenteil: Es ist das Prinzip der Demokratie, dass Entscheidungen in der Regel immer unter Zustimmungsvorbehalt stehen und durch demokratische Abstimmung revidiert oder verändert werden können. Dieser Mechanismus ist Ausdruck des demokratischen Rechts auf Wahlfreiheit. Wichtig für dessen Bewahrung ist, dass ein Politikwechsel ebenfalls diesen Regeln folgt. Wenn also die Abwahl des frischgewählten Ortvorstehers in Altenstadt formal einwandfrei und rechtskonform vonstattengeht, dann wird außer der öffentlichen Peinlichkeit kein weiterer Schaden entstehen.

Sorge bereitet derweil vielmehr der Umstand, dass sie sich in Zeiten ereignet, in denen häufiger, schneller und auch immer emotionaler von „falscher Politik“ und von „falschen politischen Entscheidungen“ die Rede ist, auch dann, wenn diese Ausdruck demokratischer Mehrheitsverhältnisse sind. Der Respekt vor solchen Entscheidungen geht verloren. Damit eine demokratische Gesellschaft ihre politischen Zielsetzungen grundlegend verändert, bedarf es dafür der demokratischen Legitimation. Es reicht nicht aus, dass irgendeine Institution oder Person die Meinung vertritt, eine bestimmte Politik sei „falsch“. Um diese Einschätzung zur politischen Umsetzung zu bringen, muss die öffentliche Debatte geführt und die Mehrheit überzeugt werden.

Was soll Demokratie?
Es ist prägend für die gegenwärtige politische Kultur, dass nicht mehr nur über punktuell „falsche Wahlentscheidungen“ gesprochen wird, sondern auch über die generelle Unfähigkeit der Menschen, komplexe Prozesse zu durchschauen und wohlinformierte Entscheidungen zu treffen. Diese recht weit verbreitete Sichtweise führt dazu, dass der demokratische Prozess der Entscheidungsfindung von einer steigenden Anzahl von Menschen als grundsätzlich fehlerhaft und ungeeignet angesehen wird. Die heute zuweilen dramatisierte Wahrnehmung gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen mündet in eine Zuspitzung der öffentlichen Gemütslage, in der die Welt nur noch in Schwarz und Weiß gesehen wird und politische Auseinandersetzungen zu zukunftsentscheidenden Konflikten zwischen „richtig“ und „falsch“ stilisiert werden. In der Folge werden auch die Menschen in diese Lager eingeordnet: in „Richtigwähler“ und in „Falschwähler“. Dieses Szenario bietet keinen Platz für eine offene Debattenkultur, denn gerade die Fähigkeit zur menschlicher Erkenntnis wird ja dem politisch Andersdenkenden nicht zugetraut. So gerät die Demokratie in eine Sackgasse.

Wir täten gut daran, uns vor der nächsten Empörungswelle in Erinnerung zu rufen, dass nicht alle Standpunkte, die sich nicht mit dem eigenen decken, automatisch „falsch“ und eine existenzielle Gefahr für den Frieden, die Nation oder den Planeten sind. Wäre dies der Fall, hätte die Demokratie ausgedient. Sie kennt keine inhaltlich „falschen“ Wahlergebnisse, ebenso wie die Meinungsfreiheit nicht zwischen richtigen und falschen Meinungen unterscheidet. Funktionierende demokratische Systeme beruhen auf der Einsicht, dass die Wahlbevölkerung in der Summe ziemlich weise Entscheidungen trifft – zumindest weisere, als von kleinen Eliten zu erwarten sind. Wer Wahlergebnisse für inhaltlich „falsch“ hält, muss die Menschen davon überzeugen, beim nächsten Mal anders abzustimmen. Wer sie hingegen für dumm hält, sollte sein Verhältnis zur Demokratie überdenken. Die wirklich mächtigen Feinde der Demokratie sind diejenigen, die in ihrem Namen das Wählervotum mit Füßen treten. Es wäre weiß Gott eine gute Nachricht, wenn diese nur in der NPD säßen – oder im Ortsbeirat von Altenstadt.

 

Dieser Artikel ist am 15. September 2019 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.