Amazonas-Panik: Vorboten des grünen Interventionismus

Waldbrand, Ein Lauffeuer, Heiße Glut

Der Aufschrei angesichts der Brände im brasilianischen Regenwald ist ein Vorgeschmack auf einen hysterischen Imperialismus, der sich aus dem modernen Weltuntergangssentiment speist.

Mittlerweile beginnt es durchzusickern: Der Regenwald im Amazonas wird doch nicht innerhalb der nächsten Wochen und Monate von Bränden aufgefressen. Seine Überlebenschancen sind sogar besser als noch zu Beginn des Jahrtausends. Er brennt zwar an mehr Stellen als im letzten Jahr, was dem brasilianischen Präsidenten Jair Messias Bolsonaro angelastet wird, aber bei weitem nicht so großflächig, wie uns noch vor wenigen Tagen vorgegaukelt wurde. Tatsächlich liegt nach Angaben der NASA die aktuelle Zahl der Brände über dem Durchschnitt der letzten 15 Jahre, aber doch deutlich unter dem Niveau der 2000er-Jahre. Der Meteorologe Jesse Ferrell weist darauf hin, dass allein in den Jahren 2003 bis 2007 und 2010, also in der Regierungszeit des linken brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva, genannt „Lula“, die Brände im Amazonas deutlich verheerender waren, als es die aktuellen sind. Warum also die Aufregung und die ganze Panik? Weil genau das die Zustände sind, in denen sich hervorragend autoritäre Politik machen lässt.

Die Politik der systematischen Entnormalisierung
Es ist kein neues Phänomen, dass die Öffentlichkeit auf manche Katastrophen oder auf Ereignisse, die sie für solche hält (oder halten soll), hysterisch reagiert. Die moderne politische Erregungskultur basiert auf genau diesem Mechanismus: Ein Problem wird dramatisiert, was bei den Menschen die Akzeptanz extremer Notstandsmaßnahmen erhöht. Anschließend beruhigt sich die Lage, man rudert – scheinbar besonnen und vernünftig – ein Stück zurück und ist dennoch politisch ein ganzes Stück weiter als vor Beginn des Dramas. Entscheidend ist nicht die akkurate Darstellung der tatsächlichen Ereignisse, sondern der „positiv verändernde Effekt“, der im Bewusstsein der Menschen ausgelöst werden soll. Denn durch Normalität könne man die Menschen ja „nicht mehr aufrütteln“.

So wird nicht nur die Akzeptanz für bisher nicht für möglich gehaltene politische Maßnahmen erhöht, sondern auch die allergische Reaktion gegen all jene verstärkt, die der Hysterie nicht auf den Leim gehen. Zur Erinnerung: Wer damals infrage stellte, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besitzt, wurde als Verharmloser oder Verteidiger des Bösen beschimpft. Ähnlich erging es, wer in der als „humanitär“ verteidigten Einmischung westlicher Bündnisse in Krisen- und Kriegsgebieten vom Balkan bis Somalia, von Afghanistan bis Libyen mehr Schaden als Nutzen für die betroffenen Menschen sah. Das böse Erwachen der Öffentlichkeit kam zumeist erst Jahre später, wenn überhaupt. Dass dem Publikum alle paar Jahre ein neuer „Hitler“ präsentiert wird, ist mittlerweile zu einer Gewohnheit geworden. Es zeigt sich, dass in Zeiten vielfältiger populistischer Revolten in aller Welt inzwischen multiple und schnell aufeinanderfolgende Bedrohungen, die von „unvernünftigen“, „verrückten“ und „entfesselten“ Politikern ausgehen, die Gesellschaft auf Trab und fernab der politischen Normalität halten.

Es zählen Haltung und Botschaft, keine Fakten
Glaubt man den „Analysen“ der Dschungelbrände in Südamerika, so ist es nun also der brasilianische Präsident Bolsonaro, der sich anschickt, das wohltemperierte Leben der westlichen ökologisch-nachhaltigen Wohlfühlgesellschaft aus reiner Engstirnigkeit und Bosheit zu ersticken. Anders sind aufgeregte Tweet-Aktivitäten wie die von Leonardo DiCaprio, Madonnas oder Ronaldo kaum zu verstehen: Die Metapher von der brennenden „grünen Lunge“ der Welt soll sich möglichst tief in das Bewusstsein der Menschen einbrennen. Dass die so verbreiteten Bilder zum Teil viele Jahre alt waren und nicht mal aus dem Amazonas stammten, ist da schon fast zweitrangig. Ganz zu schweigen vom wissenschaftlichen Faktum, dass der Einfluss des Regenwaldes auf die globale Zusammensetzung der Atmosphäre weitaus geringer ist, als das so griffige Bild von der „grünen Lunge“ vermuten lässt. Wen interessiert da schon, dass außerdem die Waldbestände weltweit seit 35 Jahren kontinuierlich zunehmen? Was zählt, sind nicht besonnene Wissenschaft und ein rationaler Blick auf die Wirklichkeit, sondern Haltung und die Dringlichkeit der Botschaft.

So schnell mittels moderner Kommunikationsmittel alle möglichen Bilder um die Welt gehen, so schnell verbreiten sich zum Glück auch kritische Kommentare und Gegendarstellungen, die die Aufregung ein wenig zu bremsen helfen. Und dennoch ist die westliche Amazonas-Hysterie ein bedenkliches Signal, ein Vorgeschmack auf das, was passieren kann, wenn Klimapanik und der politische Kampf gegen ungeliebte Regierungen vermischt werden. Es mag uns heute noch ein wenig schrill und skurril vorkommen, wenn gerade in sich fortschrittlich, nachhaltig und progressiv gebenden Kreisen gefordert wird, man müsse notfalls auch gegen deren Willen der Regierung Bolsonaro im Amazonas eingreifen, um das Klima des Planeten zu retten. Doch leider ist die Kultur der politischen Erregung gut darin, die Öffentlichkeit an Skurriles zu gewöhnen.

„Unsere“ Natur als Ur-Motiv eines grünen Imperialismus
An der Amazonas-Episode zeigt sich, dass der Klimaschutz und das planetare Bewusstsein der westlichen Welt hervorragend dazu geeignet sind, um die eigene Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Einmischung in aller Welt ein legitimes Mittel ist, um diese zu retten. Wenn sich der französische Präsident Emmanuel Macron mit der Aussage zitieren lässt, dass „unser Haus brennt“, dann lugt hinter seiner moralingetränkten Eine-Welt-Rhetorik unverhohlen das alte imperiale Selbstverständnis hervor: Macron gelang es, mit diesem Satz breite Zustimmung zu der Erkenntnis zu gewinnen, dass die Ereignisse im Amazonas nicht nur „uns“ betreffen, sondern er in gewisser Weise auch „uns“ gehört und „wir“ dafür verantwortlich sind – und wenn das bedeutet, dass den wild und entfesselt rodenden Brasilianern die Verantwortung für ihr Staatsgebiet „zum Wohle der Menschheit“ entzogen werden muss.

Derartige Fantasien sind alles andere als verstaubte Überbleibsel alter imperialistischer Stereotypen – sie sind feste Bestandteile aktueller Politik, und gerade auch moderner Umweltpolitik. Man muss beileibe kein Anhänger des brasilianischen Präsidenten Bolsonaro seiner zum Teil absurden Aussagen, Anschuldigungen und Aktivitäten sein, um die in Südamerika verbreitete Skepsis gegenüber der immer wieder aufflackernden westlichen Liebe zum tropischen Regenwald zu verstehen. Seit den frühen 1970er-Jahren wird Brasilien aus dem Westen immer wieder dafür kritisiert, dass es den Regenwald wirtschaftlich nutzt. Anfangs kam die Kritik noch aus Umweltschützerkreisen, doch schon bald erkannte auch die große Politik die ideologische Wucht ökologischer Argumentationen. So schlug in den 1980er-Jahren der damalige französische Staatspräsident François Mitterrand vor, man sollte angesichts der globalen Bedeutung der Bewahrung des Regenwaldes große Teile des brasilianischen Staatsgebiets unter internationale Aufsicht stellen. Es sollte nicht verwundern, dass neben Brasilien auch Staaten wie Ecuador und Peru immer wieder in Konflikt mit westlichen Umwelt-NGOs gerieten.

Auf dem grünen Auge blind?
Appelle an das globale Umweltbewusstsein haben heute Hochkonjunktur. Was dahinter zurücktritt, sind Appelle an die Menschlichkeit sowie Aufforderungen, das Wohl und den Lebensstandard der Menschen zu verbessern. In den Gedankengängen der ergrünten Öffentlichkeit gelten lokale Bevölkerungsgruppen am ehesten in ihrer traditionellen Lebensweise als „schützenswert“, nicht jedoch, wenn sie sich mehr Entwicklung und Wohlstand wünschen. Es wird deutlich, dass sich das moderne Umweltschutzdenken immer weiter von menschlichen Regungen löst, von humanistischen oder demokratischen Erwägungen ganz zu schweigen. Während der „humanitäre Interventionismus“ der 1990er-Jahre sich noch anhand solcher Ziele zu rechtfertigen versuchte, hat der sich entwickelnde grüne Imperialismus diese inhaltliche Fessel abgelegt. So hat radikales grünes Denken das Potenzial, zu einer Legitimationsgrundlage für eine entfesselte globale Eimischungspolitik zur Errettung des Planeten zu werden.

Dieses sich ganz direkt über menschliche Interessen hinwegsetzende (Um-)Weltbewusstsein kann in seiner infantilen und noch bockig-graswurzeligen Frühform auf den Fridays-for-Future-Demonstrationen besichtigt werden. Die Nähe der Bewegung zu den mächtigen Institutionen der Welt und ihre Nichtbeachtung unliebsamer (gewählter) Politiker ist schon jetzt auffällig. Wenn diesem sehr inhumanen grünen Politikansatz nicht grundsätzlich und vehement entgegengetreten wird, kann er sich in den kommenden Jahren zu einem neuen und gefährlichen politischen Instrumentarium entwickeln. Ähnlich wie in der Ära der als „humanitaristisch“ gerechtfertigten Interventionspolitik der 1990er-Jahre ist auch heute Skepsis gegenüber vermeintlich weltenrettender Großpolitik angesagt, auch und gerade dann, wenn sie für sich reklamiert, im Namen Unschuldiger, Machtloser, „der Natur“ oder „der Zukunft unserer Kinder“ zu handeln. Seien Sie skeptisch und neugierig, denn sonst sehen Sie den Regenwald vor lauter Bäumen nicht.

 

Der Artikel ist in leicht gekürzter Fassung am 1. September 2019 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.