Warum eine Gesellschaft streiten können muss

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28.06.2020 – In Talkshows und Sonntagsreden wird gerne der Niedergang der Demokratie und der Debattenkultur betrauert. Gleichzeitig reagiert dieselbe Öffentlichkeit allergisch auf Abweichler. Dabei braucht die Gesellschaft von heute vor allem Dissens, um herauszufinden, was sie warum für richtig halten soll.

Deutschland hat eine lange Tradition der Konsensdemokratie. Bei allen unterschiedlichen Standpunkten war es immer wichtig, dass sich alle am Ende einer Debatte die Hände schütteln – vor Corona auch wortwörtlich –, einander respektieren und sogar liebhaben. Dieser „Grundkonsens der Demokraten“ gilt als das stabilisierende Fundament der Nachkriegsrepublik. Deshalb ist es auch bis heute eine weit verbreitete Ansicht, dass all jene, denen dieser demokratische Handschlag verweigert wird oder ihn von sich aus ablehnen, aus gutem Grunde nicht dazugehören und aus der politischen Landschaft herausgesäubert gehören.

Während sich zahlreiche Nachbarstaaten seit jeher damit arrangiert haben, dass es politische Querulanten unterschiedlicher Couleur immer wieder bis in die Parlamente und zuweilen sogar in Regierungen schaffen, löst diese Vorstellung in Deutschland bis heute reflexartig Angst und Schrecken aus. Das Bild vom drohenden Dammbruch und von den Anfängen, derer man gewahr sein muss, verkörpert das Unbehagen der Deutschen mit Normabweichungen. Es scheint, als müsse der Deckel unbedingt auf dem Topf gehalten werden, um das explosionsartige Aufflammen der dunklen Vergangenheit zu verhindern.

Ertrinken in Kompromiss und Konsens

Dies ist auch der Grund, warum in Deutschland selten von einer „lebendigen Demokratie“ die Rede ist. Man bevorzugt die Formulierung „funktionierende Demokratie“ und meint damit eine, die gewissermaßen im Konsens erstickt, in Konstruktivität ersäuft und von Kompromissbereitschaft geradezu erdrosselt wird. Die Musterdemokratie made in Germany kommt ohne horizonterweiternden Dissens und abweichende Meinungen aus. Diese gelten als Anomalien des politischen Regelbetriebs, die man verzweifelt zu unterdrücken versucht, notfalls auch mit (Gesetzes-)Gewalt. Statt Streit und Debatte wünscht man sich Kompromiss und Konsens.

Aus dem obersten deutschen Gebot, demzufolge Demokraten untereinander konsensfähig sein müssen, wird abgeleitet, dass Nicht-Konsensfähige keine Demokraten und nicht Bestandteile des Normalen sein können, weshalb dann auch die inhaltliche Auseinandersetzung nicht als sinnvoll gilt. Kein Wunder also, dass harte inhaltliche Debatten, wenn sie sich denn doch einmal entzünden, sehr schnell als Gezänk und Zeitverschwendung betrachtet werden. Wenn schon debattieren, dann wenigstens mit dem bereits zuvor festgelegten Ziel der Kompromissfindung. Dabei weiß ein jeder seit der frühesten Jugend: Wer einen Standpunkt vertritt, wird in einer Diskussion nicht gleich zu Beginn den Kompromiss anstreben – es sei denn, er hat in Wahrheit gar keinen Standpunkt.

Gottesdienst der Hobbypsychologen

Das bundesrepublikanische Konsensgebot entleert jeden inhaltlichen Konflikt und degradiert die Debatte zu einem bloßen Ritual. Das Schauspiel erinnert zwar äußerlich noch an einen freien und ergebnisoffenen Austausch der Argumente, doch das strikte Drehbuch mit verbindlichem, gemeinsamem Abschlussstatement tötet die Offenheit und damit jede Pointe der Auseinandersetzung. Das Interesse an Inhalten beschränkt sich zumeist auf jene bis zur Unkenntlichkeit verwässerten Inhaltsfragmente, auf die man sich am Ende geeinigt hat und die daher als die einzigen realitätstauglichen gelten. Entsprechend überschaubar ist der Enthusiasmus und entsprechend groß die Versuchung, anstatt über Inhalte lieber über Personen zu reden. Nachvollziehbar: Die übermüdeten und Schweiß beperlten Politikerhäupter während der nächtlichen improvisierten Pressekonferenz zu beobachten ist allemal spannender als der von ihnen verkündete Kompromissbeschluss.

Die Fokussierung auf Personen hat Konsequenzen, die uns heute als Beschränkungen unserer Freiheit und als Denkblockaden immer stärker beeinträchtigen. Wenn die inhaltliche Ebene in Auseinandersetzungen und Konflikten an Bedeutung verliert und stattdessen die beteiligten Menschen in den Vordergrund treten, dann gerät die Rezeption von Politik zu einer Art Gottesdienst für Hobbypsychologen und Pseudopsychoanalytiker, die miteinander darum wetteifern, wer bezogen auf Frau X oder Herrn Y die treffendste „Diagnose“ stellen kann. Die Rolle des beobachtenden Diagnostikers passt gut zur „funktionierende Demokratie“, in der aktives Eingreifen gar nicht und demokratische Teilhabe lediglich als legitimierendes Lippenbekenntnis wertgeschätzt werden. Dies verschärft die Inhaltslosigkeit zusätzlich: Wenn Politiker wissen, dass Profil ein äußerliches Gut ist und als Teil der Persönlichkeit gesehen wird, macht es für sie keinen Sinn, sich inhaltlich festzulegen. Und wenn sie zudem verstanden haben, dass argumentative Robustheit weniger wiegt als die Fähigkeit, Sensibilität und Schwäche zu zeigen, welche Qualitäten werden sie wohl betonen?

Wohin mit den Querulanten?

Die Tendenz, gesellschaftliche Entwicklungen aus einer diagnostischen Position heraus zu beobachten und entsprechend zu bewerten, hat sich in den letzten Jahren immer mehr durchgesetzt. Läuft etwas schief, sind es verrückte Geister oder kranke Hirne, die dies zu verantworten haben. Trump-Wähler? Allesamt bekloppte, zurückgebliebene rassistische weiße Hinterwäldler. Brexit-Anhänger? Größenwahnsinnige Inselaffen, die nicht alle Teetassen im Cupboard haben. Sonstige Protestwähler? Die müssen beschränkt, frustriert und zurückgeblieben sein. Und was haben alle miteinander gemein? Als Querulanten sind sie allesamt diskussionsunwürdig, weil nicht ernst zu nehmen. Mehr noch: Sie sind potenziell gefährlich, weshalb man sich nicht einmal mehr traut, sie öffentlich vorzuführen. Sie ist jenseits jeder Norm, sie sind unnormal und eigentlich krank, und sie gefährden den gesunden Grundkonsens. Und sie vermehren sich, geradezu virenartig.

Was bedeutet das für Gesellschaft und Demokratie, wenn Abweichung als Störung betrachtet wird? Zum einen so wird einer Gesellschaft eine inhaltliche Homogenität unterstellt, die sie niemals hatte und niemals haben wird. Derlei zu behaupten ist nichts als ein durchschaubarer Versuch, die eigene Position als alternativlos zu festigen, und zeugt zudem von extremer Realitätsferne. Zum anderen erzeugt diese Sichtweise eine falsche Exklusivität, denn tatsächlich erklärt sie die Abweichung zu einem externen Einfluss, der der eigenen Gesellschaft als seelen- und geistesfremd und damit letztlich als gesundheits- und demokratiegefährdend gilt. Und wenn Abweichungen demokratiegefährdend und ungesund sind, dann ist deren Säuberung ein demokratischer, hygienischer Akt. Hingegen gilt dann eine ernsthafte Auseinandersetzung mit „fremden“ und „andersartigen“ Ideen als extrem riskant, ja wenn nicht sogar als verräterisch.

Corona als Katalysator der Konformität

Dieser überaus elitäre Umgang mit Andersdenkenden erhält durch die aktuelle Obsession mit Gesundheit eine zusätzliche wissenschaftliche Fundierung. Dabei ist keineswegs die epidemiologische Auseinandersetzung mit dem Coronavirus das Problem, sondern die Tendenz, gesellschaftliches Leben insgesamt als bedingungslosen und naturwissenschaftlich definierten Lieferservice für Gesundheit für Alle umzuinterpretieren, koste es, was es wolle. Der an sich durchaus positive Zustand von Gesundheit wird von einem sehr individuellen Parameter zu einem gesellschaftspolitischen Dogma verfremdet, das keinerlei Widerspruch duldet.

Die Abweichung von dieser Verhaltensnorm der unbedingten Infektionsverhinderung erfordert daher auch keine kritische – oder gar selbstkritische – Beachtung und Reflektion, sondern eine sozialpsychologische Diagnose und bestenfalls kriminologische Behandlung des Abweichlers. Dies ist der eigentliche Kern des Begriffs „Gesundheitsdiktatur“. Gesundheit ist hier nicht mehr nur ein individuell möglicherweise erstrebenswertes Ziel, sondern wird zur Norm, der sich das Leben zu beugen hat: sowohl kulturelles, soziales, politisches und wirtschaftliches als auch manchmal sogar menschliches.

Max Mustermann ist eine Fälschung

Die Pathologisierung von Abweichung und Dissens kommt der Ermordung der Demokratie aus Angst vor ihrem Niedergang gleich. Gleichzeitig wird der Idee einer vermeintlich homogenen Konsensgemeinschaft als Trutzburg gegen die Unbilden von Fortschritt und Veränderung das Wort geredet, wie es absurder kaum sein kann. Wer sich tatsächlich für die Inkarnation von Lieschen Müller und Max Mustermann und alle anderen demnach für Abweichungen von der Norm hält, sollte anerkennen, einem Trugbild nachgeeifert zu haben. Max und Lieschen sind nicht nur Fälschungen, sondern sie existieren nur deshalb überhaupt als Schablonen, weil ihnen tatsächlich niemand entspricht. Ohne Abweichler gäbe es sie gar nicht. Wie übrigens auch die Freiheit und die Demokratie.

Dieser Artikel ist am 28. Juni 2020 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.