Mit meinem am heutigen 22.12.14 auf der Website des Berliner Tagesspiegel erschienenen Artikel „Waise Weihnacht: Ich bin nicht gläubig, und dennoch liebe ich dieses Fest“ wünsche ich allen Menschen christlichen Glaubens frohe Weihnachten und allen anderen Menschen, dass sie diese Tage, wenn auch nicht für Besinnlichkeit, so doch für Sinnhaftes nutzen können.
Seit dem Tod meiner Eltern ist mir Weihnachten noch wichtiger geworden. Und ich lasse es mir auch vom modernen Atheismus nicht vermiesen.
Dass Weihnachten in diesem Jahr anders werden würde, war allen in unserer Familie bereits im April klar. In den vergangenen Jahren hatte sich uns immer die Frage gestellt, wo und mit wem der zunehmend gebrechlicher werdende verwitwete Vater die Feiertage verbringt und wer ihn Silvester aufnimmt, damit er nicht alleine vor dem Fernseher sitzt, was wir allesamt als unwürdig empfunden hätten.
Diese Frage stellt sich nun nicht mehr. Die letzte Person, gegenüber der ein 43-Jähriger und seine beiden älteren Schwestern noch „Kinder“ waren, sich so fühlten und vielleicht auch so verhielten, lebt nur noch in der Erinnerung. Alle drei haben in diesem Jahr aufgehört, die aktive Rolle von „Kindern“ einzunehmen. Bislang waren die Bezeichnungen „Tochter“ und „Sohn“ wenigstens noch in der Gegenwart denk- und aussprechbar, das ist nun vorbei.
Anfangs fällt der Verlust dieses Teils der eigenen Identität kaum ins Gewicht. Man ist so beschäftigt mit dem Abtreten der Person, dass man kaum spürt, was dieser Verlust mit einem selbst macht. Man veranstaltet Beerdigung und Trauerfeier, beantwortet Kondolenzpost, löst Haushalt, Versicherungen und Fotoalben auf, ist aber durch das unweigerliche Eintauchen in Familienerinnerungen zugleich auch noch ein letztes Mal in vollen Zügen „Kind“, auch wenn das schon leicht staubig zu schmecken beginnt.
Dass tatsächlich ein Loch gerissen worden war und Termine wirklich wegfallen, wurde mir so richtig erst Monate später in der Weihnachtszeit bewusst. Es schien, als fehlte ein wenig der dem ganzen vorweihnachtlichen Treiben zugrunde liegende Sinn. Das Weihnachtsfest hatte in unserer Familie schon immer eine gewichtige Rolle gespielt. Und obwohl die Adventszeit auch bei uns keine paradiesische Erholungszeit war, wurde der Heiligabend zumeist doch ohne größere familiäre Katastrophen erreicht und begangen.
Dieses Jahr fühlt sich das alles anders an. Einerseits ist der Vorfreude der alte familiäre Kern abhanden gekommen. Andererseits scheint es, als ob man sich gerade deswegen noch mehr an diese Tradition klammert – in der unterschwelligen Hoffnung, dadurch zumindest ein wenig von dem zu ersetzen, was nicht mehr da ist. Ich bin gespannt, inwieweit mir das gelingt, oder inwieweit ich es ausblenden kann, wenn es nicht gelingt.
Der Tod der Eltern und der damit einhergehende Verlust der eigenen Kindheit in lebendiger Spiegelung ist einer der Momente im Leben, in dem man Gefahr läuft, wirklich „alt“ zu werden – „alt“ im Sinne von gefühlt halbleeren Gläsern, im Sinne von Humorverlust und Bergfest oder von vergessenen Kindheitsritualen, die einem dabei helfen könnten, sich jünger zu fühlen, als man für die Welt da draußen ist. Wer diese Gefahr nicht erkennt, altert, ohne es zu merken. Macht man sich aber diese Gefahr bewusst, kann man sie abwenden.
Dafür kann es unterschiedliche Strategien geben: Manche versinken in Nostalgie und trauern nicht nur der eigenen Vergangenheit, sondern auch der ungenutzten Chancen der vergangenen Zukunft nach und entwickeln daraus eine Abneigung gegen alles Erwachsene und Jetzige. Andere wiederum stürzen sich ins Vergessen und Verdrängen, nur um nicht daran erinnert zu werden, dass früher alles zwar nicht besser, aber zumindest jünger war.
Mir bringt die Weihnachtszeit zwar den Verlust stärker ins Bewusstsein, gleichzeitig aber auch schöne Erinnerungen. Diese Mischung führt weder zu tiefer Trauer noch zu überschäumender Freude, sondern erzeugt eine intensive Spannung, ein instabiles Stimmungsgleichgewicht. Mich dieser Spannung aber durch Verdrängung oder Verklärung zu entziehen, wäre das krasseste Indiz dafür, dass ich „alt“ werde. Das positive Erinnern und das Festhalten an alten familiären Traditionen muss also keineswegs ein Ausdruck aufkeimender Konservativität oder altersbedingter Anpassung sein. Ich empfinde es jedenfalls als das genaue Gegenteil.
Im Gegensatz zu meinen Eltern bin ich nicht gläubig. Und dennoch liebe ich Weihnachten, mit all seiner religiösen Feierlichkeit und Heiligkeit, auch mit all seinem kindlichen Kitsch und in all seiner Absurdität. Die scheinbar fortschrittlich und aufklärerisch formulierte Kritik an weihnachtlichen Ritualen, oder auch nur die Defensivität bezüglich christlicher Traditionen, stößt mir zunehmend übel auf. Dies liegt nicht nur an meiner persönlichen Beziehung zu Weihnachten, sondern auch an den häufig zynischen und wenig menschlichen Motiven vieler moderner Traditionsgegner, denen nicht einmal mehr freudig-glänzende Kinderaugen heilig sind.
Der moderne Atheismus hat den Glauben an Gott vielfach durch den Glauben an die Sinn- und Wertlosigkeit der menschlichen Existenz ersetzt. Vom einstigen Motiv der Befreiung ist in Zeiten, in dem man Menschen die Freiheit nicht zutraut und sie immer mehr gängelt, kontrolliert und entmündigt, nichts übrig geblieben. Ich gönne den Menschen die Freiheit, sich an Weihnachten mit ungesunden Lebensmitteln die Bäuche vollzuschlagen, trotz Energiewende ihre Häuser wie UFO-Landeplätze auszuleuchten, bei 15 °C Außentemperatur den Kamin zum Glühen zu bringen und auch sonst viele unnachhaltige Dinge zu tun. Wenn man sich, um solches zu tun, in jahrhundertealte Traditionen flüchten muss, dann ist das nicht deren Schuld.
Wenn Weihnachten auf diese Art, also bar jeder religiösen Tiefe, zu einem Fest des gemeinsamen Wertschätzens und Genießens wird, zu dem man das Diktat des schlechten Gewissens getrost ignoriert und einfach mal Fünfe gerade sein lässt, dann ist dies eine wichtige und auch frohe Botschaft. Und meinetwegen sollen die Leute dann auch noch in 50 Jahren den Weihnachtssong von Bob Geldof kaufen in dem Glauben, damit etwas Gutes zu tun (und zu hören).
Denn im heutigen Jammertal der Misanthropie ist der Glaube an das Gute in der Welt, und ja, auch an das Gute im Menschen, eine bedrohte und daher zu schützende Auffassung. Wenn Menschen nach elf Monaten voller Arbeit, voll krisenhaftem Missmut und auch zielloser Hatz im Hamsterrad im zwölften Monat gewissermaßen kollektiv, und sei es auch nur, weil der Kalender es eben gebietet, sich Geschenke machen, so erzeugt das neben aller Hektik, Falschheit und Absurdität eben auch Offenheit und Wärme. Man kann sie auf den Straßen spüren, wenn man will.
Besinnlichkeit mag ein religiös ummantelter Begriff sein. Er hat aber etwas mit Sinn, mit Besinnung und mit dem Suchen von Sinn zu tun, und das ist allemal wertvoll. Wer das mutwillig aufs Spiel setzt, weil er meint, „Weihnachts“-Märkte würden die Gefühle von Anders- oder Nichtgläubigen verletzen und müssten deshalb umbenannt und sogar neu ausgerichtet oder abgeschafft werden, der hat auf barbarische Weise missverstanden, worum es in menschlichen Gesellschaften und im Leben eigentlich geht.
Vielleicht ist es neben meinem ganz persönlichen Wunsch, das Fest meiner ältesten, feierlichsten und intensivsten Kindheitserinnerungen zu feiern, gerade auch meine Ablehnung der zynisch-atheistischen Entzauberungskultur, die es mir als gottlosem Anhänger von Aufklärung und Moderne ermöglicht, mich auch auf dieses Weihnachtsfest wie ein kleiner Junge zu freuen. Zumindest wünsche ich mir, dass mir das gelingt. Aber ich glaube schon.