Helene Fischers „Vielseitigkeit“ offenbart neben der unbestreitbaren gesanglichen Qualität der Entertainerin vor allem eines: ein breites wie tiefes Desinteresse für Inhalt und Bedeutung.
Weihnachten bot die perfekte Gelegenheit für einen riskanten Selbstversuch: Noch nie hatte ich eine „Helene-Fischer-Show“ gesehen, mich noch nie diesem Phänomen bewusst ausgesetzt. Nach etwa eineinhalb Stunden überkam mich eine Art sinnliches Taubheitsgefühl, der Eindruck der Übersättigung und Verwirrung, sodass ich schon befürchtete, den Kern des Helene-Fischer-Prinzips nicht mehr entdecken zu können – bis mir plötzlich bewusst wurde: Genau diese Taubheit, erzeugt durch eine Überdosis an wahllos aneinandergereihten musikalischen Stilwechseln, macht den Kern dieses Prinzips aus!
Schöne und Biest
Jelena Petrowna Fischer – so lautete der Geburtsname der aus Sibirien stammenden Spätaussiedlerin – bietet Stoff für grandiose Märchen. Und nicht nur Stoff, sie stellt auch gleich das Personal. Sie kann die unschuldige blonde Schönheit verkörpern, die einfach nur durch ihren Gesang Freund und Feind verzaubert und der niemand etwas Böses wollen kann. Sie kann aber auch auf Knopfdruck die böse Hexe spielen, die sich dafür rächt, dass ihr als staatlich anerkannter Musicaldarstellerin von einer Karriere im Musical-Business ab- und stattdessen die Schlager-Szene angeraten wurde, und sie nun den Menschen die Sinne raubt, sie mit ihrem sirenenartigen Gesang verführt und verwirrt und unrettbar in ihren Bann zieht. Wahrscheinlich liegt auch bei Helene Fischer die Wahrheit irgendwo zwischen diesen Extremen. Und möglicherweise trägt die Tatsache, dass sie sowohl zur Heldin als auch zur Hexe taugt, nicht unwesentlich zu ihrem einzigartigen Erfolg bei. Es bedarf maximal eines Kostümwechsels, eine von Fischers einfachsten Übungen.
Um nicht missverstanden zu werden: Die 30Jährige kann sehr gut singen, tanzen und performen. Rein äußerlich und fachlich gibt es nichts Gravierendes an ihr auszusetzen. Sie wirkt freundlich, respektvoll und dankbar, hat ein Herz für Kinder und engagiert sich gegen Kinderprostitution. Auch künstlerisch eckt sie nicht an, sie ist aber gleichzeitig auch mutig und spult in ihren Shows ein beachtliches Pensum ab. Ihre Fans lieben an ihr nicht zuletzt ihre außergewöhnliche Vielseitigkeit sowie ihre Offenheit, was Musikstile anbelangt. Und in der Tat: In ihrer Show singt Helene Fischer alles, was nicht bei Drei auf den Bäumen ist. In der an Weihnachten 2014 ausgestrahlten Show weicht der Schlager alsbald dem Musical, das wiederum von einem Metal-Klassiker abgelöst wird, bevor sie im Duett Udo Jürgens diesen fast zu Tränen rührt. Schon im nächsten Moment ist sie Teil eines Comedy-Sketches, dessen artigen Applaus sie am Ende nutzt, um schon wieder in das nächste Kostüm zu schlüpfen und den nächsten abrupten Stilbruch anzustimmen. Und Fischer wagt sich auch an Koryphäen: Die Rockgruppe Queen gibt ihr die Ehre und singt gemeinsam mit ihr ein Lied. Dies war übrigens der Moment, an dem sich bei mir der Verdacht regte, dass der Helene-Fischer-Effekt in Wirklichkeit nicht auf reiner „Vielseitigkeit“ basiert, sondern hier irgendetwas anderes vor sich geht.
Von der Vielseitigkeit zur Beliebigkeit
Dabei ist es nicht so, dass Helene Fischer nicht dazu geeignet wäre, Musical oder Rock-Balladen zu singen. Sie kann es zweifellos, immerhin hat sie eine dreijährige Ausbildung an der Stage & Musical School in Frankfurt absolviert. Das Interessante aber ist: Helene Fischer interpretiert keine Musikstile, sie nimmt sie in Besitz. Wenn sie Rockmusik oder Swing singt, hat man nicht das Gefühl, dass sie in das jeweilige Genre und in dessen Lebensgefühl eintaucht; eher fühlt es sich an wie das Gegenteil: Fischer „rockt“ und „swingt“ nicht, vielmehr werden Rock und Swing „gefischert“. Einerseits könnte man nun sagen: Fischer ist nicht nur vielseitig, sondern auch zutiefst tolerant, da sie in ihren Shows nahezu aller Stilrichtungen bedient – was ja letztlich auch der Grund ist, warum sie sowohl von Teenies als auch von Eltern und Großeltern geliebt wird. In geradezu naiver Unschuld scheint sie Musik einfach als das zu betrachten, was sie in ihren Augen ist: eine Folge von Harmonien, Klängen und Melodien, die zum Singen und Tanzen einladen, ganz gleich, wie alt sie sind, woher sie kamen und was sie einmal bedeuteten.
Für mich fühlt und hört sich Helene Fischer nicht vielseitig an, im Gegenteil: Es ist ganz gleich, was sie singt, es klingt immer und in allererster Linie nach Helene Fischer. In ihrer Liebe zur Musik und ihrer Bereitschaft, sich nahezu jeder Musik zuzuwenden und sie als gleichberechtigte Melodien zu behandeln, betreibt sie Gleichmacherei – wahrscheinlich sogar, ohne das zu wollen. Aber das ziel-, ordnungs- und somit auch sinnfreie Potpourri, mit dem sie ihr Publikum in ihrer mehrstündigen Show beglückt, macht es nahezu unmöglich, eine andere Botschaft im Gedächtnis zu behalten als: Helene Fischer kann alles singen, was jemals komponiert wurde.
Entkernte Musik
Dabei ist gerade auch in der Musik das Verständnis von inhaltlichen Zusammenhängen, aber auch von stilistischen Entwicklungslinien und bewussten Abgrenzungen wichtig, um ihrer Seele gewahr zu werden. Rockmusik hätte nicht entstehen können, wenn es nicht vorher den Jazz gegeben hätte. Genauso wenig wie Musik eine bloße Aneinanderreihung von Tönen ist, so ist Musikgeschichte eine zufällige Aneinanderreihung von frei im Raum schwebenden Ideen und Stilrichtungen. Musik ist der historisch-spezifische Ausdruck von individuellen wie auch gesellschaftlichen, aufeinander aufbauenden Gefühlslagen, Stimmungen und Sichtweisen, aber auch vom jeweiligen Umgang mit Regeln und Traditionen. Kurz gesagt: Musik spiegelt immer auch den Zeitgeist wider. Nimmt man diesem Spiegelbild aber die zeitliche Dimension, läuft man Gefahr, ihm auch den eigenen Geist zu nehmen. Was bleibt, ist Verwirrung – und die Konzentration auf den Interpreten.
Gerade weil Musik aber immer Ausdruck des Zeitgeist ist, wurde die Rockmusik, als sie entstand, von den älteren Generationen verabscheut und als „Bedrohung für das Abendland“ angesehen: Diese Musik entsprach dem Lebensgefühl der damaligen jungen Generation, es roch nach Revolte, nach Schweiß, nach Ausbruch, nach Wildheit und Erotik – anders formuliert: Ja, das Abendland sollte tatsächlich – zumindest ein Bisschen – ins Wanken geraten und zum Einsturz gebracht werden.
Helene Fischer schwitzt nicht, sie versprüht auch weder Wildheit noch Ekstase oder gar Revolte und Erotik. Ihre „Personality“ ist so perfekt stilisiert, dass sie keiner Wandlung mehr zu bedürfen scheint. Fischer nimmt der Musik, die sie singt, ihre eigentliche Bedeutung – und dies gerade dadurch, dass sie Musik eben nur als Aneinanderreihung von Tönen betrachtet und nicht als Ausdruck von unterschiedlichen Kulturen und Subkulturen, man könnte auch sagen: „Parallelgesellschaften“. Fischer verhilft diesen Kulturen nicht zu ihrem Recht, sondern sie entkernt sie, verwischt alle Unterschiede und reduziert sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner singbarer Seichtheit.
Das mag, wenn professionell arrangiert, eine gute Strategie sein, um an einem Feiertagsabend in alter „Wetten-dass…?-Manier“ mehrere Generationen für eine kurze Zeit um das öffentlich-rechtliche Lagerfeuer zu vereinen, da für jeden etwas dabei ist. Andererseits ist ein solcher Gebrauch von Musik für viele, die mit Musik so etwas verbinden wie kulturelle Weltanschauungen und sie als Ausdrucksform von echten Passionen und tiefen Überzeugungen erspüren und zelebrieren, ein schmerzhafter Missbrauch.
Dies ist aber natürlich kein Aufruf, nicht mehr mit Musikstilen zu experimentieren. In der Kunst ist aus guten Gründen der Handwerker-Leitsatz, demzufolge der Schuster besser bei seinen Leisten bleibt, außer Kraft gesetzt. Alles ist erlaubt, und alles hat seine Daseinsberechtigung. Und tatsächlich gibt es grandiose stilistische Fremdgänger oder Genre-Hopper, die nicht nur Grenzen überwanden, sondern so auch neue Stile entwickelten. Freddy Mercurys Liebe zur Oper beispielsweise gipfelte in fantastischen Duetten mit der spanischen Opernsängerin Montserrat Caballé, so u.a. im Song „Barcelona“ von 1987, der 1992 zur inoffiziellen Hymne der Olympischen Sommerspiele in der katalanischen Stadt wurde.
Ob Mercury indes auch mit Helene Fischer gesungen hätte, wage ich zu bezweifeln. Wahrscheinlich hätte ihm bei all ihrer Professionalität eine Prise Echtheit gefehlt, die ein solches Duett für ihn interessant gemacht hätte. Diesen Zweifel spürten vielleicht auch Mercurys noch lebende Band-Kollegen, weshalb sie dem kurzen gemeinsamen Auftritt mit Fischer noch einen eigenen Auftritt ohne sie folgen ließen. Gut zu wissen, dass „Queen“ auch ohne Freddy nicht ganz so tief gesunken ist.
Kastriertes Crossover
Es ist alles erlaubt im künstlerischen Bereich, schließlich existiert ja kein Konsumzwang. Dasselbe gilt auch für die Musik- und Kulturkritik, aber auch für alle anderen Kritiken. Auch Kritik an Helene Fischer bzw. am Helene-Fischer-Phänomen ist erlaubt. Sich in dieser Kritik am Menschen oder seinen gesanglichen Fähigkeiten aufzuhalten, ist zwar populär und auch üblich, wäre aus meiner Sicht zu kurz gegriffen und zudem auch ungerecht. Helene Fischer ist eine außergewöhnlich gute Sängerin, und es ist in einer freien Gesellschaft ebenfalls statthaft, mit Florian Silbereisen liiert zu sein. Dass Fischer extrem erfolgreich ist, taugt ebenfalls nicht zur Angriffsfläche, vorausgesetzt, man möchte sich nicht einfach nur auf billige Kommerzkritik beschränken. Fischer trifft wie kaum jemand sonst den Nerv der Zeit. Sie weiß, dass ihr Erfolgsrezept funktioniert: Sie muss einfach nur Helene Fischer bleiben und singen, was man ihr vorschlägt.
Vor 30 Jahren wäre sie mit diesem Modell wohl noch grandios gescheitert – womöglich wäre dieses Konzept so aber gar nicht entstanden. Mitte der 80er-Jahre hätte sich eine ernsthafte Schlagersängerin weder an Punk- noch an Rockmusik herangetraut. Und dies nicht nur, weil ihr ihre Fangemeinde das nicht gedankt hätte, sondern auch, weil sich hinter Musikstilen noch stärker verankerte und inhaltlich positionierte kulturelle Standpunkte, wenn nicht sogar kulturell, aber auch politisch definierte Parallelgesellschaften verbargen. Wer Punkrock mochte, hasste Schlager und umgekehrt. Außerhalb beißender Parodien war beides nicht vereinbar – nicht, weil beide Stilrichtungen hinsichtlich ihrer Komplexität weit auseinanderlagen, sondern wegen ihrer jeweiligen gesellschaftlichen Verankerungen.
Heute bekommt Helene Fischer bekommt stehende Ovationen bei Jung und Alt, wenn sie in ihrer Show ihren Hit „Atemlos“ in einem Medley mit nicht weniger als 14 Stilrichtungen präsentiert und dabei wie selbstverständlich auch eine Hardcore-Sequenz einbaut. Dabei tut sie etwas ganz anderes wie Heino: Wenn sich der 76jährige Schlagersänger gemeinsam mit der Rockband Rammstein beim Wacken Open Air auf die Bühne traut, riskiert er etwas: Er spielt mit den Gegensätzen und vollzieht den bewussten Stilbruch. Helene Fischer zieht die Risikolosigkeit vor, zudem ist ihr Stilbrechen eine eher bewusstlose Tat, ohne Konsequenzen und ohne Erinnerungswert.
Badengehen in der Konsens-Suppe
Dass Fischer Melodien einfach nur wie verwendbares Gesangsmaterial behandelt und jeglichen kulturell-historisch-politischen Kontext von Musik beiseiteschiebt, ist allein weder neu noch eine Aufregung wert. Dass sie dafür als vielseitig und multikulturell und integrativ gelobt wird, liegt am heutigen Zeitgeist: Wir leben nicht in einer Epoche, die sich durch knallharte und trennscharfe Positionen, Identitäten und Kulturen auszeichnet. Standpunkte werden nicht mehr bis ins Kleinste ausdiskutiert und auseinander dividiert, man bleibt eher pauschal und an der Oberfläche, aber dadurch auch wenig profiliert und überzeugend. Anstatt Unterschiede zu definieren und zu erklären, ist es zeitgemäßer, grundlegende Gemeinsamkeiten herauszustellen, die jedem Individuum eine begrenzte Freiheit der Selbstgestaltung ermöglichen, aber freilich, ohne ernsthaft aus dem Rahmen zu fallen. Große Ideen und weltbewegende Ideale sind heute ebenso wenig en vogue wie sich hierum entwickelnde, in sich geschlossene, schlüssige und von sich überzeugte kulturelle oder politische Identitäten.
Im gesellschaftlichen Stillstand und angesichts des Fehlens eindeutiger Polaritäten differenzieren sich Stile nicht mehr wirklich aus, sondern tendieren eher dazu zu verschwimmen. Das gilt für die kulturelle Welt in ähnlicher Weise wie für die politische Welt. Während Angela Merkel der Inbegriff der konfliktscheuen Konsenspolitik ist, verkörpert Helene Fischer das Kollabieren von einstigen kulturellen Identitäten im stehenden Gewässer moderner Stagnation. Was in diesem Mischmasch übrigbleibt, ist allein die Person. Helene Fischer ist gewissermaßen die hohe Priesterin der „Großen Koalition der populären Musik“, in der eine „Hitparade“ im Radio auch wieder „Schlagerparade“ heißen kann, ohne dass ernsthaft dagegen rebelliert wird.
Es gibt also gute Gründe dafür, das Helene-Fischer-Phänomen nicht zu mögen. Die Sängerin ist das Aushängeschild einer bedauerlichen inhaltlichen wie kulturellen Verengung, die entsteht, wenn vormals Gegensätzliches und Auseinanderstrebendes die eigene Dynamik verliert, sich nach innen kehrt, aufeinander fällt und somit Unterschiede und Abweichungen zu Nebensächlichkeiten und Plattitüden zerquetscht. Kaum eine deutsche Künstlerin symbolisiert diese Entwicklung so perfekt wie Helene Fischer – verantwortlich für den Kollaps der Stile ist sie indes nicht. Sie singt es nur.
Mein Artikel über meinen Selbstversuch mit der „Helene Fischer-Show“ ist am 3.1.2015 bei der Achse des Guten erschienen.