14.06.2020 – Nicht verschwörungstheoretisches Denken ist das Problem, sondern die Tatsache, dass sich normale politische Diskurse kaum noch davon unterscheiden. Die Gründe dafür liegen im Niedergang der demokratischen Debattenkultur und in der zunehmenden Entfremdung zwischen Eliten und Bevölkerung.
Attila Hildmann, Ken Jebsen, Xavier Naidoo – im deutschen Sprachraum werden diese drei Namen im Zusammenhang mit sogenannten „Verschwörungstheorien“ am häufigsten genannt. Ihre Erzählungen sind facettenreich, aber auch alter Wein in neuen Schläuchen: Es geht um verborgene Machtkartelle, um Milliardäre mit angeblichen Weltherrschaftsgelüsten und um Prominente, die gemäß der „QAnon-Theorie“ Kinder gefangen halten. Fantastische Narrative wie diese erleben in Corona-Zeiten Hochkonjunktur.
Journalisten als Marketingagenten
Es ist müßig, weiter in diese glibberige Materie einzutauchen. Das tut bereits die mediale Öffentlichkeit mit wachsender voyeuristischer Lust. Die „Macht der Verschwörungstheoretiker“ ist ein beliebtes Thema, insbesondere für liberale Medien, die nach klaren Bestimmungen des „unsagbar Bösen“ suchen, um sich selbst auf der guten Seite einzuzementieren. Öffentlichkeits- und sendungsbewusste Possen-Prediger wie Attila Hildmann liefern zuverlässig immer stärker zugespitztes Nachschubmaterial, um die Skandal-Junkies mit neuen Details über die ihm offenbar vorliegenden „Pläne Satans“ bei Laune zu halten.
Diese mediale Empörungshuldigung hat mit Journalismus nur noch die äußere Form gemein. Wieder einmal fokussiert sich das veröffentlichte Interesse auf die Oberfläche – und bleibt dort kleben wie Fruchtfliegen am Honigglas. Die den altbackenen Fantastologen entrüstet nachjagenden Journalisten machen sich einmal mehr zu willfährigen Marketingagenten ihrer „Beute“. Wir kennen das Prinzip nur zu gut: Terrororganisationen wie „al Qaida“ und „Islamischer Staat“ haben es professionalisiert. Auch Protestparteien leben vom reflexhaften Aufschrei der Anständigen. Je schriller und realitätsferner die Provokation, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie das Scheinwerferlicht ins Visier nimmt.
Nicht Verschwörungstheoretiker, sondern Entfremdungspraktiker
Mich langweilen diese Wirrologen zutiefst. Noch langweiliger ist nur die permanent am Köcheln gehaltene öffentliche Empörung über diese peinlichen Paranoia-Poeten. Dass man diese nunmehr nicht mehr „Verschwörungstheoretiker“ nennen soll, da man befürchtet, sie als „Theoretiker“ aufzuwerten, ist ein weiterer Beleg für die hysterische Ahnungslosigkeit im Umgang mit Hildmann, Naidoo & Co. Wenn diesen „Theoretikern“ durch irgendetwas Ernsthaftigkeit zugeschrieben wird, dann eher durch das Wort „Verschwörung“. Jeder historisch verbürgte politische Verschwörer würde entsetzt im Grabe rotieren.
Was die konspirativen Gedankengebäude verbindet, ist der fortschreitende Verfall der Realitätsverankerung sowie der Aufbau alternativer Faktenwelten, errichtet nicht auf Rationalität und dem Widerstand der Mündigen, sondern auf praktizierter Entfremdung und der Rache der Opfer. Da diese Argumentationsweise aber in weiten Gesellschaftskreisen verbreitet ist, fällt es vielen so schwer, zwischen noch vernünftiger Kritik und schon vernunftbefreiter Fiktion zu unterscheiden. Man muss damit umgehen lernen und wieder stärker auf seinen eigenen Menschenverstand hören. Die mikrowissenschaftliche Abgrenzungsexpertise hilft da nicht, da ihr der Blick für das Ganze abgeht.
Moralisierende Rückabwicklung der Wissenschaft
Deutlich spannender als der Inhalt verschwurbelten Verschwörungstheorien ist die Frage, welche Rolle derlei Denken früher spielte und warum sein Einfluss seit Beginn des 21. Jahrhunderts so stark zugenommen hat. Wilde und parareale Erzählungen sind feste Bestandteile der Kulturgeschichte, sie füllen ganze Bibliotheken und auch diverse heilige Bücher. Ein durchgängiges Motiv ist es, Katastrophen wie Seuchen, Hungersnöte oder Erdbeben auf unsichtbare und übernatürliche Kräfte zurückführen. Die Funktion derartiger „Theorien“ ist klar: Sie versorgen die Menschen mit disziplinierenden Erklärungen und die Herrschenden mit Legitimität überall dort, wo wissenschaftliche Erklärungen an ihre Grenzen stoßen oder aber unerwünschte Ergebnisse bringen.
Seit dem 18. Jahrhundert sind religiöse und spirituelle Erklärungen vielfach einem wissenschaftlicheren Verständnis der Welt gewichen. Die Entwicklung der Wissenschaft als Erkenntnis- und auch Gewissheitsquelle veränderte die Interpretation von Katastrophen. Doch in den letzten Jahren hat sich ein weiterer Wandel vollzogen: Was bislang als Naturereignis angesehen wurde, wird zunehmend als Konsequenz menschlichen Handelns betrachtet und mit einer neuen, moralischen Bedeutung aufgeladen. Bei Naturkatastrophen sind wir an dieses Narrativ bereits gewohnt: Ob Dürre, Flut, Erdrutsch, Wetterextrem oder Krötensterben – immer spielt dabei das emotionale Lied von der menschlichen Weltenzerstörung, gegen die der Planet sich nun zu Wehr setze.
Ängstliche Sinnsuche als Triebfeder für Irrationalität
Weil katastrophale und nicht vorhersehbare Ereignisse trotz immenser Fortschritte in Wissenschaft und Technologie weiter vorkommen, ist eine zumindest latente Skepsis gegenüber den menschlichen kognitiven Fähigkeiten entstanden. Nach tieferliegenden moralischen Erklärungen jenseits der erkenn- und beeinflussbaren Welt zu suchen, reflektiert eine grundlegende Verunsicherung sowie das Gefühl einer wachsenden individuellen Ohnmacht. Diese Entfremdung von objektiven Erklärungs- und Lösungsversuchen zugunsten eines subjektiven Gefühls für die inneren Zusammenhänge erklärt nicht nur den Aufstieg von alternativer Neo-Spiritualität, sondern auch das Verwischen von rationaler Kritik und irrationalem Glauben.
Verschwörungstheoretische Argumentationsmuster sind fest im Mainstream verankert. Die Polarisierung der öffentlichen Debatte führt dazu, dass das Abweichen von der Norm oder das Infragestellen des Konsenses schnell in die Nähe politischer Verschwörungen gerückt wird. Paradoxerweise ist die Verengung des als akzeptabel geltenden Meinungsspektrums insbesondere in jenen Medien zu beobachten, die gleichzeitig wie Aasgeier über die Theoreme der apokalyptischen Prediger herfallen. So wird die Schar der vermeintlichen Verschwörungstheoretiker immer größer und diffuser, was wiederum Angst und Empörung steigert. Die Bereitschaft, an „verborgene“ Wahrheiten zu glauben und die Wirklichkeit als verlogen und fiktiv abzutun, ist kein Randphänomen mehr, sondern in den verängstigten Mittelschichten angekommen. Dies wird gerade in der Coronakrise überdeutlich, in der zwielichtige Theorien auf erhebliches Interesse stoßen. Kein Wunder, denn auch die etablierte Politik bedient sich dieses Verschwörungsjargons zur Diffamierung politischer Gegner.
Angstapostel liefern keine Orientierung
Die Normalisierung des verschwörungstheoretischen Denkens ist eine der gefährlichsten Entwicklungen des 21. Jahrhunderts. Ihre Dynamik geht aber nicht von ihren düsteren Protagonisten aus. Ihren Aufstieg verdankt sie dem Niedergang der politischen Kultur, der öffentlichen Geringschätzung von Dissens und Debatte und damit der Verachtung des eigenständigen und rational denkenden Individuums. Im finsteren Mittelalter betrachteten ungebildete und unaufgeklärte Menschen Unfälle und Katastrophen als das Werk verborgener Kräfte. Diese primitive Sichtweise ist zurückgekehrt und prägt heute die Art und Weise, in der selbst gebildete Menschen Ereignissen einen Sinn geben.
Um Missverständnisse zu vermeiden: Die Suche nach Sinn und nach Zukunft ist eine positive menschliche Eigenschaft. Sie hat unsere Vorfahren dazu gebracht, den bloßen Anschein der Dinge infrage zu stellen. Selbstvertrauen und Zuversicht waren nötig, um Angst, Zweifel und Aberglaube zu überwinden. Allerdings hat Bedeutung ohne Faktenbasis keine lange Halbwertszeit. Deswegen werden weder die heutigen Entfremdungserzählungen noch deren Propagandisten länger strahlen als ein Strohfeuer in dunkler Nacht. Überleben können sie einzig durch die Beachtung, die wir ihnen durch unsere Ängste und Selbstzweifel schenken. Die auf Skandale und absurde Randerscheinungen ausgerichteten Scheinwerfer ab- und stattdessen das Licht im eigenen Oberstübchen anzuschalten hilft in doppelter Hinsicht: gegen die Furcht und für den eigenen Durchblick. Diese Art Orientierung macht weitaus mehr Sinn.
Dieser Artikel ist am 14.06.2020 in meiner Kolumne Schöne Aussicht auf Cicero Online erschienen.