Europa hat mehr als zwei Buchstaben

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08.06.2020 – Über die Zukunft der Demokratie entscheiden nicht die EU-rokraten in Brüssel, sondern die Menschen. Wir müssen wieder lernen, die Demokratie selbst mit Leben zu füllen.

Am 31. Januar 2020 hat Großbritannien die Europäische Union verlassen. Was bedeutet dies für die Menschen in den verbleibenden 27 EU-Staaten? Jedenfalls haben die Briten eine Tür geöffnet, von der viele Menschen gar nicht wussten, dass es sie wirklich gibt. Sie haben den Menschen in der EU gezeigt, dass es sehr wohl eine Alternative gibt. Das kann für die Demokratie in Europa nur positiv sein. Tatsächlich war der per Volksentscheid im Juni 2016 beschlossene Brexit alles andere als ein rechter, fremdenfeindlicher oder  antieuropäischer Aufstand der Briten. Die britische Gesellschaft erlebt keinen Rechtsruck. Vielmehr spielen rechtsradikale Parteien seitdem keinerlei Rolle mehr. Und die bei den letzten Europawahlen überraschend starke „Brexit Party“ ist bei Weitem keine „rechte Partei“: Für sie kandidieren und engagieren sich neben ganz normalen Bürgern auch Liberale, Linke und zahlreiche überzeugte Antirassisten. Sie kommen aus allen Gesellschaftsschichten, beruflichen Milieus und politischen Richtungen, und viele verfügen über ausländische Wurzeln. Ihre Motive sind nicht nationalistischer, sondern demokratischer Natur. Der Brexit ist für sie eine große Chance, die britische Politik aus dem Brüsseler Windschatten herauszuziehen und wieder stärker dem eigentlichen demokratischen Souverän unterzuordnen: den Wählerinnen und Wählern.

Dass die EU kein gutes Haar am britischen Votum lassen würde, war vom ersten Tag nach dem Referendum klar. Der Austritt eines Mitgliedsstaats aus der Gemeinschaft war schlicht nicht vorgesehen. Dass er dennoch und gegen alle Widerstände durchgesetzt wurde, sorgt in Brüssel natürlich für Unbehagen. Denn der Brexit wird in den kommenden Jahren die Fantasie all jener anregen, die das Demokratiedefizit der EU für unerträglich halten, bislang aber keine Alternative sahen. Der Blick der EU-Kritiker wird sich sofort nicht mehr nur kritisch nach Brüssel richten, sondern auch hoffnungsvoll nach London. Dieses Gefühl der Hoffnung haben beileibe nicht nur Nationalisten und Ewiggestrige, im Gegenteil: Die Kritik an der Verfasstheit der Europäischen Union, am Demokratiedefizit ihrer Institutionen, an der Wirtschafts- und Austeritätspolitik, an der sozialen Ungleichheit, an der Bevormundung demokratisch gewählter Regierungen und an der Verhinderung einer tatsächlichen parlamentarischen Kontrolle des Brüsseler Machtapparats zieht sich durch weite Teil der Gesellschaft und ist alles andere als „rechts“ und rückwärtsgewandt.

Weit entfernt von der europäischen Idee
Woran liegt es, dass EU-Kritik von links fast gänzlich verstummt ist? Der europäische Einigungsprozess begann Anfang der 1990er-Jahre, sich zu beschleunigen – zeitgleich zum Zerfall des Ostblocks und dem Niedergang der ohnehin seit Längerem kriselnden Linken in Westeuropa. Da die alten politischen wie auch sozialen Organisationen und Bindungen für die Menschen an Bedeutung verloren, büßte auch die Linke ihre Verwurzelung und ihre gesellschaftliche Heimat ein. Die entstehende „Europapolitik“ wurde für die ziel- und orientierungslose Linke zu einem neuen Zufluchtsort. Diese Politik war zwar nicht mehr so radikal, versprach dafür aber eine größere Popularität und half dabei, die drohende gesellschaftliche Isolierung zu verhindern. Der politische Fokus  verschob sich: Es ging nicht mehr um die grundlegende Kritik und die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern um die Wahrung des Friedens und der wirtschaftlichen Stabilität in Europa. Diese Argumente sind bis heute die entscheidenden, wenn es darum geht, die EU gegen Kritik zu verteidigen. Daraus leitet sich auch die Sichtweise ab, dass jeder, der die EU kritisiert, das Rad der Geschichte zurückdrehen wolle.

Die Verteidigung der EU ist heute zum progressiven Glaubensbekenntnis geworden. Den „Ketzern“ wird vorgeworfen, sie würden die Rückkehr nationalistischer und fremdenfeindlicher Politik betreiben. Doch wie so oft bei scheinbar religiösem Eifer: Man erhält kein realitätsgetreues Abbild der Wirklichkeit. Denn es ist gerade die zunehmende Distanzierung der EU-Bürokraten von den europäischen Wahlbürgern, die der Popularität der europäischen Idee schadet. Der Apparat der Europäischen Union mitsamt seiner Kommission und dem weitgehend einflusslosen Parlament hat nicht das Entstehen eines europäischen Wahlvolkes mitsamt einem solchen Bewusstsein befördert – im Gegenteil: Wenn die europäische Idee etwas mit Demokratie und Freiheit zu tun hat, dann ist die EU  antieuropäischer als das Heer ihrer Kritiker.

Mangel an Innovation und Wachstum
Auch der Verweis auf die wirtschaftliche Stabilität und die Entwicklung des EU-Binnenmarktes wirft Fragen auf. Denn mit freien Märkten hat die wirtschaftliche Realität in Europa nicht viel zu tun. Die EU-Wirtschaftspolitik zeichnet sich durch eine fast unendliche Aneinanderreihung tiefgreifender Interventionen und Regulierungen aus. Es ist auch nicht überraschend, dass es Europas Wirtschaft an innovativen Kräften und Wachstumsimpulsen mangelt und sie auch im internationalen Vergleich enorm an Bedeutung einbüßt. Überregulierung, Technologieskepsis und eine ausufernde Risiko-Aversion ersticken fast jeden Keim des Aufbruchs und der Innovation. Auch gegenüber externen Wettbewerbern betreibt die EU eine stark protektionistische Politik – nicht nur gegenüber China und der USA, sondern auch gegenüber Russland und den afrikanischen Staaten.

Selbst den vermeintlich  friedensstiftenden Beitrag der Europäischen Union, sowohl auf dem Kontinent als auch weltweit, kann man kritisch beurteilen. Von einer einheitlichen Außenpolitik der Union kann eigentlich kaum die Rede sein, von demokratischen rinzipien und der Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker schon gar nicht. Ein Blick auf den Balkan genügt: Dort werden seit den 1990er-Jahren staatsähnliche Strukturen unter EU-Kontrolle betrieben, die keinerlei Ähnlichkeit zu demokratischen Strukturen aufweisen. Die humanen Defizite der EU-Politik werden nicht zuletzt in der Flüchtlingsfrage deutlich: Jahrzehntelang fuhr die Union gut damit, autoritäre Regime in Nordafrika zu  stabilisieren, damit diese die südlichen Außengrenzen der Union für Migranten effizient abriegelten. Heute wird dafür die Türkei bezahlt, während man in Nordafrika verzweifelt nach neuen „Stabilitäts-Partnern“ fahndet. Um Demokratie geht es dabei nicht, sondern um die Reinhaltung des Mittelmeers und der eigenen Weste.

Klare Absagen an Brüssel
Aber auch innerhalb der EU liest sich die Brüsseler Demokratiebilanz wie eine Farce: Wann immer die Menschen konkret befragt wurden, erteilten sie Brüssel eindeutige Absagen: Das Gründungsdokument der heutigen Europäischen Union, der Maastricht-Vertrag von 1992, wurde lediglich den Franzosen und den Dänen zur Abstimmung vorgelegt. Die Dänen lehnten den Vertrag ab. 2001 lehnten die Iren den ebenfalls richtungsweisenden Vertrag von Nizza ab. Vier Jahre später stimmten die Franzosen und die Niederländer gegen die neue EU-Verfassung. 2008 waren es erneut die Iren, die über die mittlerweile neu formulierte EU-Verfassung, die nun „Lissabonner Vertrag“ hieß, abstimmen durften. Nachdem die erste Wahl aus Brüsseler Sicht wieder „schief gegangen“ war, wurde so viel Druck auf die Regierung in Dublin ausgeübt, bis die Wahl in einem zweiten Anlauf „klappte“. Anderen Wahlbevölkerungen hatte man diese Verträge vorsichtshalber gar nicht erst vorgelegt. Die Angst vor demokratischen Abstimmungen ist zum eigentlichen Motor des europäischen Einigungsprozesses geworden.

Gerade vor diesem Hintergrund ist der Brexit ein historisches Ereignis, vielleicht von seiner demokratischen Dimension her sogar vergleichbar mit dem Fall des Eisernen Vorhangs Ende der 1980er-Jahre: Denn erstmals wurde ein demokratisches Mehrheitsvotum gegen die EU nicht überstimmt oder übergegangen. Erstmals hat sich ein Land dem weitreichenden und immer weiter wuchernden Macht- und Kontrollanspruch der Europäischen Union entzogen – und noch dazu auf demokratische Art und Weise. Die Vehemenz, mit der im letzten Europawahlkampf beinahe alle EU-Gegner als nationalistische, rückschrittliche und rassistische Feinde der Demokratie tituliert wurden, wird es so in Zukunft nicht mehr geben. Der Brexit hat ein Fenster geöffnet und sorgt für das Auftauen der EU-ropäischen politischen Landschaft – ob Brüssel das nun gefällt oder nicht. Großbritannien wird eben nicht, wie von führenden EU-Repräsentanten prognostiziert – in Chaos, Elend und Bürgerkrieg versinken, ebenso wenig wie es übrigens in der Schweiz der Fall ist.

Ringen um die Demokratie
Interessanterweise bietet gerade ein Blick nach Großbritannien viel Anlass zur Hoffnung auch hinsichtlich der Entwicklung der  politischen Kultur: Das Aufbrechen der alten Parteizugehörigkeiten an der Frage des Brexit zeigt, dass neue Formationen entlang neuer Konfliktlinien entstehen können, ohne dass dies zu Chaos und Gewalt führt. Der Brexit hat zu einer kaum für möglich gehaltenen Politisierung der britischen Gesellschaft geführt. Diese vielfältige, dynamische und sich jenseits alter politischer Schubladen und Stereotypen formierende Bewegung hat gezeigt, wie der Einsatz für Demokratie außerhalb undemokratischer Institutionen aussehen kann. Die Pro-Brexit-Stimmung ist nicht an rechtslastige und erzkonservative politische Organisationen gebunden. Sie hat weitaus mehr Gemeinsamkeiten mit den französischen Gelbwesten.

Fakt ist: Der Verzicht auf alte ideologische Festlegungen stößt bei vielen Menschen in Europa durchaus auf Interesse. Gerade das Ringen um die Demokratie kann ein Punkt sein, um den herum sich neue politische Organisationen bilden. Diese Chance sollten demokratisch gestimmte Geister nicht aus Angst vor den Bürgern verpassen. Manchmal ist ein Bruch mit eingefahrenen Denkweisen nötig, um sich der Wirklichkeit wieder anzunähern. Wir müssen uns trauen, Europa auch über die Europäische Union hinaus  weiterzudenken. Die EU ist nicht das Ende der Geschichte Europas, denn Europa hat mehr als zwei Buchstaben. Eine Debatte darüber, ob die Überwindung dieser zutiefst undemokratischen und elitären Organisation, die die europäische Idee der Demokratie mit Füßen tritt, nicht auch zu einem gesellschaftlichen Fortschritt führen kann, ist lange überfällig. Sie kann aber nur dann konstruktiv geführt werden, wenn man sie nicht politischen Kräften überlässt, denen man demokratische Fortschrittlichkeit nicht zutraut. Dazu braucht man ein dickes Fell und gute Argumente. Beides ist in einer Demokratie unersetzlich.

Dieser Artikel ist in „Weiterbildung – Zeitschrift für Grundlagen, Praxis und Trends„, Ausgabe 3/2020, erschienen.  Hier geht es zur PDF-Version des Artikels.