Putin, IS, Erdogan und die „Globulisierung“ westlichen Denkens

Aus westlicher Sicht ereignen sich in Südosteuropa sowie im Nahen Osten derzeit nahezu unvorstellbare Zivilisationsbrüche. Doch als Opfer dieser moralischen Verwerfungen sollte sich die westliche Welt nicht fühlen – vieles von dem, das nun zivilisationsbedrohend und barbarisch von außen auf sie einzuwirken scheint, hat in Wirklichkeit in ihr begonnen.

Der Krieg in der Ukraine, die zunehmend abstruser werdenden Verlautbarungen und Handlungen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, die Gräueltaten der Terrormiliz „Islamischer Staat“, dazu noch der auflodernde Antisemitismus in Europa – es ist gut möglich, dass das Jahr 2014, passend zur 100. Wiederkehr des Beginn des Ersten Weltkrieges, dereinst als der neuerliche Anfang vom Niedergang globaler zivilisierter Maßstäbe in der Austragung von Konflikten und Meinungsverschiedenheiten erinnert werden wird. Offenbar wie aus dem Nichts, gleichsam befeuert durch den ängstlich suchenden Blick auf mögliche Parallelen zu 1914, hat sich in den letzten Monaten eine Krisenstimmung von erheblicher Ansteckungskraft verfestigt, noch zusätzlich angereichert durch Naturkatastrophen und den Ausbruch tödlicher und kaum zu bändigender Krankheiten.

Und all dies trifft uns, die aufgeklärten westlichen Gesellschaften, nicht nur gänzlich unvorbereitet, sondern auch in ehrlich empfundener und tiefster Unschuld. So nehmen es zumindest die meisten Menschen wahr. Wie gebannt betrachten sie, wie an der Peripherie des europäischen Kontinents die „dünne Zivilisationsschicht“ quasi im Handumdrehen von machtpolitisch wie auch religiös motivierter Barbarei mit einer Vehemenz durchstoßen wird, die bis in unsere Metropolen hinein zu moralischen Verwerfungen führt. Gleichzeitig werden Grundannahmen und Werte, die wir als weltweit gültig und alternativlos betrachteten, in einer Radikalität weggefegt, die uns erschauern lässt.

Doch entspricht die Wahrnehmung, dass die zivilisierte westliche Welt Gefahr läuft, von außen in Brand gesetzt zu werden, tatsächlich der Realität? Haben diese „Zivilisationsbrüche“ ihren Ursprung tatsächlich an der Peripherie? Oder gibt es nicht auch eine innerwestliche Selbstvertrauenskrise, einen Verlust von Überzeugungen und einen Hang zur fast grenzenlosen Verwässerung einstiger Handlungsstandards, die die Strahlkraft dessen, was einst als „der Westen“ war, auf das Niveau einer leuchtschwachen Energiesparlampe heruntergedimmt haben? Haben wir die „dünne Zivilisationsschicht“ vielleicht selbst abgehobelt und durchlöchert?

Zumindest eines muss an dieser Stelle wohl festgestellt werden: Die westlichen Gesellschaften reagieren auf Drohgebärden und Provokationen nicht gerade wie souveräne, starke und von sich überzeugte zivilisierte Entitäten. Stattdessen laden sie mit ihren verunsicherten, orientierungslosen und auch paranoiden Reaktionen geradezu zum Provozieren und Bedrohen ein. Da man zudem damit rechnen kann, dass diese Verunsicherung entschlossenes und einheitliches Reagieren und Agieren systematisch verhindert, haben Provokationen und Bedrohungsszenarien nicht nur realistische Chancen, Wirkung zu entfalten, sondern entwickeln auch eine morbide Anziehungskraft, wie wir es derzeit am Beispiel der westlichen Dschihad-Touristen erleben. In ihrer Unentschiedenheit und Verunsicherung ob der eigenen Standpunkte und Standards erweist sich die westliche Angstkultur als leicht angreif- und beeinflussbar. Dies wird dazu führen, dass die Anzahl derer, die meinen, mit gezielten Provokationen und Bedrohungen wenn auch nicht territoriale, so doch zumindest aber moralische Gewinne erzielen zu können, mit Sicherheit nicht abnehmen wird.

Einer der Akteure, der das Spiel mit den Schwächen des Westens gut beherrscht, ist der russische Präsident Vladimir Putin. Er kann sich sicher sein, dass die im Zusammenhang des Ukrainekonflikts von den westlichen Regierungen erhobene Forderung, er solle die territoriale Integrität anderer Staaten akzeptieren, nicht einmal von diesen Regierungen selbst anerkannt und dementsprechend mit wenig Überzeugungskraft und Inbrunst vertreten wird. Tatsächlich wurde das völkerrechtliche Prinzip der Nichteinmischung in souveräne Staaten sowie die Achtung ihrer territorialen Integrität in den 1990er-Jahren sowohl moralisch als auch praktisch und vor allem vorsätzlich und gezielt zerstört: Der sich als humanitär gebärdende westliche Interventionismus der letzten Jahrzehnte richtet sich nunmehr gegen die Motive seiner Erfinder.

Putin muss in diesem ideologischen Spiel nichts weiter tun als sein Eingreifen in der Ukraine als humanitär begründen, auf das Selbstbestimmungsrecht der Menschen im Osten der Ukraine sowie auf die Präsenz extrem nationalistischer und möglicherweise sogar faschistischer Kräfte innerhalb der ukrainischen Maidan-Bewegung hinweisen, um Unbehagen und Selbstzweifel in der westlichen Haltung zu aktivieren. Er braucht dabei keine eigene Glaubwürdigkeit ausstrahlen; tatsächlich reicht es ihm aus, die Doppelmoral westlicher Außenpolitik aufzuzeigen und sie so auf ein ethisches Niveau herunterzuziehen, auf dem sie nicht mehr ist als das bloße Ringen um politische und wirtschaftliche Einflusssphären – also genau das, was sie ihrerseits Russland vorwirft.

Ebenfalls westlich-progressive Gedankenfragmente greift ausgerechnet die Terrormiliz „Islamischer Staat“ auf. Betrachtet man die zahlreichen „IS-Propagandavideos“, die im Internet zirkulieren, so fällt auf, wie zielsicher Jugendliche im Westen angesprochen werden und wie gut es gelingt, den Dschihad als eine „coole Alternative“ zur als inhaltsleer, wertfrei und perspektivlos dargestellten Existenz in den Gesellschaften des Westens zu positionieren. Und auch hier reagiert die westliche Politik hilflos: Das einzige, was ihr einfällt, ist, die heimischen Grenzen für die an den IS verlorenen und nun rückkehrwilligen Jugendlichen zu schließen. Spannend an der Strategie des IS ist zudem die Leichtigkeit, mit der die transnationale Idee des Kalifats in die Praxis umgesetzt wird. Höchstwahrscheinlich ist der IS sogar die Organisation, die am konsequentesten die Idee der nationalen Selbstbestimmung und der territorialen Integrität zum Wohle einer „postnationalen Strategie“ überwunden hat. Jedenfalls muss jede in den Machtzentren des Westens gegenüber dem IS erhobene Forderung nach Respektierung der irakischen oder syrischen Staatsgrenzen allen dort lebenden Menschen wie purer Zynismus erscheinen.

Ein weiterer namhafter Player auf dem morastigen Spielfeld internationaler Politik ist der türkische Präsident Erdogan. Auch er versteht es, die westliche Öffentlichkeit in Wallung bzw. in Angst und Schrecken zu versetzen, in dem er ihr einen Zerrspiegel vorhält. Schon im letzten Frühjahr gelang ihm dies mit der Ankündigung, YouTube und Facebook in der Türkei abschalten zu wollen, da, wie er behauptete, von sozialen Netzwerken eine „tödliche Gefahr für die Gesellschaft“ ausgehe. Sein jüngster historischer Erkenntnisvorstoß, die Entdeckung Amerikas sei nicht Christopher Kolumbus, sondern muslimischen Seeleuten des 12. Jahrhunderts zu verdanken, ließe sich problemlos in eine Liste geradezu abstruser und fast schon pathologischer Gedankenausreißer einreihen – vorausgesetzt, man gibt sich mit der oberflächlichen und ignoranten Lesart zufrieden, der türkische Präsident habe schlicht und ergreifend nicht mehr alle Latten am Zaun. Gegen diese oberflächliche Diagnose spricht allerdings die zielgenaue Themenauswahl Erdogans und die Zielsicherheit, mit der er das westliche Selbstverständnis an neuralgischen Punkten seines ohnehin wankenden Weltbildes trifft: an der individuellen Freiheit, der globalen Vernetzung sowie an der Unumstößlichkeit wissenschaftlicher und historischer Fakten.

Betrachtet man die westlichen Reaktionen auf Erdogans Provokationen, so muss man einräumen: Der Mann weiß, wohin er zielen muss, und er ist treffsicher. Hätte sich die aufgeklärte europäische Öffentlichkeit über die These von der Gefährlichkeit freier und unkontrollierter Kommunikation und sozialer Netzwerke so ereifert, wenn es nicht auch bei uns tiefsitzende Befürchtungen angesichts einer vermeintlich gesetzeslosen und potenziell destabilisierenden Internet- und Kommunikationskultur gäbe? Natürlich wurde der Ausspruch von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Internet, Facebook & Co. seien „Neuland“, schnell in die Hitparade der politischen Peinlichkeiten ausgelagert. Doch nicht nur die offensichtliche Ferne zu modernen Kommunikationsformen, auch die allenthalben spürbare Angst vor öffentlichen Debatten ohne politisch-korrekte Leitplanken, ohne Verhaltens- und Argumentationskodizes und ohne möglichst verletzungsfreie Sprachregulierungen liefert ein Indiz dafür, dass das Unwohlsein angesichts unkontrollierter globaler Vernetzungspotenziale keine allein von Erdogan herbeifantasierte Paranoia ist, sondern durchaus auch in westlichen Hauptstädten diagnostiziert werden kann.

Mit seinem letzten Angriff auf einen scheinbar unumstößlichen Pfeiler des global-historischen menschlichen Wissensgebäudes – die Entdeckung Amerikas – legt Erdogan sehr gezielt den Finger in eine weitere offene Wunde des westlichen Denkens. Natürlich wäre es auch hier ein Leichtes, sich über derartige Absurditäten lustig zu machen und sie als besondere Blüten der Islamisierung der Türkei anzuprangern. Andererseits bedarf es dieser Islamisierung gar nicht, um menschliches Wissen, moderne Wissenschaft und historische Wahrheiten infrage zu stellen – oder noch weitergehend – deren Existenz grundsätzlich zu relativieren. Denn genau dies, das skeptische Entwerten von Rationalität und Objektivität, das Kritisieren von Wissenschaftlichkeit und das Relativieren der menschlichen Fähigkeit zu Vernunft, haben die westlichen Gesellschaften und insbesondere ihre akademischen Eliten in den letzten Jahrzehnten selbst mit Eifer und Nachdruck und beinahe ohne Unterlass betrieben.

Die westliche Kultur des frühen 21. Jahrhunderts ist geprägt von einem enormen Werterelativismus und einer fast schon manischen Abwehrhaltung gegenüber allen Versuchen, Positionen, Standpunkte oder Werte als moralisch „richtig“ oder „falsch“ bzw. als „gut“ oder „schlecht“ zu untermauern und zu verteidigen. Daher gilt Wissenschaft heute entweder als ein Dogma, auf dessen Basis Politik durchgesetzt wird, wenn sie öffentliche Zustimmung nicht zu erlangen imstande ist. Oder aber sie wird als manipulierbares Instrument der Wirtschaft betrachtet. Wer heute rational argumentiert, gilt als kalt, unmenschlich und als potenziell mit psychischen Problemen belastet. Wer hingegen sich der wissenschaftlich aufgeklärten Weltsicht verweigert, anstatt an die Globalisierung lieber an die „Globulisierung“ glaubt und den Sinn des Lebens jenseits den Prinzipien der Moderne in Esoterik, Ökologie oder sonstigen quasi-religiösen Glaubensbekenntnissen sucht, gilt als progressiv, sehend, authentisch und ganzheitlich menschlich. Diese Subjektivität kann – wie bei Glaubensfragen generell üblich – durchaus rabiat verteidigt werden, wie die zahlreichen erhitzten und moralinsauren Debatten über Vegetarismus, Klimawandel, Atomkraft, umweltfreundliche Stromversorgung etc. eindrucksvoll belegen.

Wenn also in unserer Gesellschaft das Misstrauen gegenüber Wissenschaft, Objektivität und der Autorität von Wissen grassiert – wie kann sie dann einem türkischen Präsidenten überzeugend entgegentreten, der in ganz ähnlicher Form nicht nur historische Fakten offen infrage stellt, sondern auch den Nerv der ohnehin selbstzweiflerischen westlichen Seele trifft (und das ausgerechnet beim Thema Kolumbus, den man mitsamt der ihm nachfolgenden blutigen Eroberung Amerikas ohnehin wohl am liebsten aus den Geschichtsbüchern tilgen würde)? Ein tatsächlich angemessener Umgang mit Erdogans Thesen bestünde in einem selbstbewussten Lächeln, in der Verteidigung seines Rechts, die Welt so zu sehen, wie er es mag, und ansonsten in der Fortsetzung des auf eigene Ziele ausgerichteten Handelns. Dazu müsste man jedoch über die Selbstsicherheit und die Überzeugung verfügen, dass wissenschaftliche Fakten mehr wert sind als bloß subjektive Meinungen und diese auch überdauern. Doch gerade daran hapert es.

Die tatsächlich zutage tretende Entrüstung angesichts der Erdogan-Thesen zeigt nicht von ungefähr das glatte Gegenteil einer solchen Selbstsicherheit. Schlagzeilen wie „Rütteln am Kolumbus-Mythos: Erdogan beansprucht Entdeckung Amerikas für Muslime“ transportieren neben viel Spott eben auch das Gefühl der westlichen Bedrängtheit durch einen als überbordend selbstbewusst empfundenen Islam – und das, obwohl dieser sich durch die Absurdität seiner redenden wie kämpfenden Protagonisten gerade selbst immer weiter diskreditiert. Um dies aber bloßzustellen, bedarf es einer grundlegenden inhaltlichen Selbstvergewisserung, einer standfesten Orientierung und des Glaubens daran, dass man selbst nicht nur im Recht ist, sondern auf einer stabilen Wertebasis agiert, die sich weder durch einen Herrn Erdogan noch durch irgendwelche islamistischen Menschenschlächter erschüttern lässt.

Doch gerade ein solches Denken ist dem postmodernen, selbstreflexiven und relativistischen westlichen Denken nicht nur fremd, sondern gilt ihm als gefährlich und unterdrückerisch. In diesem Zusammenhang erhalten die Aufforderung von Erdogan an die muslimische Welt, man solle „an westliche Quellen nicht glauben, als wären es heilige Texte“, sowie seine Ankündigung, seine „ermunternde“ Rolle in der kritischen Auseinandersetzung mit diesen Quellen beibehalten zu wollen, eine interessante wie auch mahnende Dimension: Es gibt für ihn keinen Grund, ein derartig auf die eigene Instabilität gerichtetes und zusätzlich durch Zynismus und Antihumanismus geschwächtes Gedankengebäude wie das westliche nicht auch einmal grundlegend und von außen zu hinterfragen.

Wir haben es also mitnichten mit „Zivilisationsbrüchen“ zu tun, die die heile und intakte westliche Welt wie aus dem Nichts ereilen und von außen gefährden. Tatsächlich ist es der Verlust der eigenen Selbstsicherheit, der inneren Aufrichtigkeit im Umgang mit den eigenen Werten sowie der intellektuellen Verortung in Moderne und Aufklärung, der die westliche Kultur überhaupt erst zu einem so anfälligen Gebilde hat werden lassen, in dem dumpfe Aufrufe zum Dschihad und die nicht minder dumpfe Leugnung der Weltgeschichte als potente Bedrohungspotenziale wahrgenommen werden bzw. tatsächlich zu solchen werden können.

Solange hier kein Umdenken und eine Besinnung sowohl auf eigene moralische wie auch wissenschaftliche und gesellschaftliche Errungenschaften der Moderne unternommen wird, werden wir uns nicht nur immer häufiger und schneller, sondern auch von immer absurderen Provokationen ins Bockshorn jagen lassen. Anstatt uns von der Existenz rückwärtsgewandten gesellschaftlichen Strömungen einschüchtern zu lassen, deren Terror nicht Ausdruck von Stärke, sondern von Schwäche und Feigheit ist, haben wir allen Grund dazu, der Welt selbstbewusst und mutig zu zeigen, dass eine aufgeklärte, an Wissenschaft und humanistischer Moral orientierte, freie und demokratische Gesellschaft die „coolste“, vielversprechendste, stabilste und auch erfüllendste Gesellschaftsform überhaupt ist.

Dieser Artikel ist am 24.11.14 auf der Website der Achse des Guten erschienen.