Der französische Staat hat nach den Ausschreitungen in den Pariser Vororten im Herbst 2005 kurzerhand die Straßen der betroffenen Banlieues auf unbestimmte Zeit für den Verkehr geschlossen. Damit erhofft man sich, der Gewalt ein Ende zu bereiten. Stimmt nicht, sagen Sie? Sie haben Recht. Wäre auch absurd und das Pferd von hinten aufgezäumt. Aber genau so reagierte Italien auf die jüngsten Ausschreitungen im Umfeld des Serie A-Spiels zwischen den beiden sizilianischen Fußballklubs Catania Calcio und US Palermo Anfang Februar, bei denen ein Polizist zu Tode kam.
(Erschienen in Novo87, März/April 2007)
Was das noch mit Fußball zu tun habe, lautete die am häufigsten gestellte Frage. Nichts mehr, lautete die entsprechende Antwort, weshalb man entschied, den Calcio in leeren Stadien stattfinden zu lassen. Nach den Ausschreitungen nach einem Spiel des sächsischen Bezirksligisten 1.FC Lok Leipzig Mitte Februar wurde gar der Spielbetrieb im Freistaat an einem Wochenende komplett ausgesetzt. Die Logik dahinter: Wenn man gewaltbereiten Fans nur die Möglichkeit versage, alte und modernen Sicherheitsstandards nicht genügende Stadien zu besuchen, würde sich das Problem wie von selbst lösen. Sie glauben nicht, dass das funktioniert? Nun ja, Sie haben wieder Recht.
Fußball ist und war noch nie die Ursache sozialer Gewaltausbrüche. Weder macht die Abseitsregel Fußballfans zu Rechtsradikalen, noch führen politisch unkorrekte Fangesänge dazu, dass ein aufrechter Bürger nach dem Abpfiff zur Eisenstange greift. Die Ursachen für derlei Exzesse sind auch nicht im morschen Beton restaurationsbedürftiger Stadien zu finden. Auch wenn es so scheint, als hätten die modernen, familienfreundlichen und rundumüberwachten deutschen WM-Arenen das hierzulande ohnehin immer relativ begrenzte Hooligan-Problem gelöst – es wurde lediglich aus den Augen der Öffentlichkeit verbannt und in untere Ligen verdrängt, die nicht im Fernsehen gezeigt werden und deren Vereine nicht über Fußball-Hochsicherheitstrakte verfügen, sondern auf Dorfsportplätzen kicken. Für Randale eignen sich die Bundesligastadien einfach nicht mehr. Wer sie will, sucht sich heute andere Plätze und Anlässe.
Wut, Frustration und daraus entstehende blinde Gewaltbereitschaft sind gesellschaftliche Probleme, und sie nehmen unterschiedliche Formen an – eine davon findet im Fußballkontext statt. Der Fußball kann aber Probleme nicht lösen, die er nicht verursacht hat, ebenso wenig wie die Existenz von Straßen in Pariser Vororten für die auf ihnen stattfindenden Straßenschlachten verantwortlich ist. Dass Politik und Öffentlichkeit den Fußball jedoch für die Gewalt verantwortlich machen, daran ist der Fußball alles andere als schuldlos: Seit Jahren spielen sich Fußballfunktionäre in ganz Europa zu Ersatz-Sinnstiftern einer an mangelndem Zusammenhalt und fehlenden Visionen krankenden Gesellschaft auf. Vehement pochen sie darauf, allerlei ethisch-moralische Aufgaben übernehmen und damit in die Rolle verantwortungsvoller „politischer“ Entscheidungsträger schlüpfen zu wollen. Dass man sie nunmehr tatsächlich als „Verantwortliche“ in die Pflicht nimmt, sollte daher nicht überraschen. Die Politik rennt die von innen geöffneten Türen ein und ist nur zu gerne bereit, die Verantwortung für das reibungs- und gewaltlose Funktionieren einer zersplitterten und orientierungslosen Gesellschaft zu „privatisieren“ und an den Fußball outzusourcen.
Der Fußball, so heißt es, zeige der Gesellschaft wieder einmal sein hässliches Gesicht. In Wirklichkeit drückt aber die Gesellschaft dem Fußball ihr hässliches Gesicht auf. Dass der Fußball nur noch wenig mit Fußball zu tun hat, liegt nur insofern am Fußball, als dass er meint, mehr sein zu müssen als „nur Fußball“.