Ein sport-politischer Essay gegen den Anti-Korruptions-Kampf in Politik und Sport.
(Erschienen in der Zeitschrift Der tödliche Pass, Februar 2007)
Fifa-Chef Sepp Blatter ist korrupt und vertritt einen autoritären Führungsstil. Der ehemalige IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch kann auf eine faschistisch-bewegte Vergangenheit zurückblicken. Adi Dassler produziert Sportschuhe, um Profite zu machen. Es soll Menschen geben, die all dies nicht gewusst haben. Aber es ist gut, dass wir es nun wissen.
Wissen allein ist jedoch noch kein Garant dafür, dass der Wissende in der Lage ist, die angehäuften Informationen logisch miteinander zu vernetzen, ihre kausalen Zusammenhänge zu erkennen, sich aus ihnen einen Reim zu machen und kluge Schlussfolgerungen zu ziehen. Wie also umgehen mit der wenig überraschenden Erkenntnis, dass es im Leistungssport Korruption in großem Stile gibt? Eine Vielzahl von Möglichkeiten bietet sich an: Man kann häufiger in die Oper gehen, öfter zu einem guten Buch greifen, anstatt DSF zu gucken, oder sich im Fitnessstudio anmelden und selbst Sport treiben – ganz ohne Werbeunterbrechungen und Wettskandale. Und es gibt viele Menschen, die fordern, Strafrecht, Staat und Politik sollten aufräumen in dem „Sauladen“, der sich „organisierter Sport“ nennt. Zahlreiche Initiativen ranken sich um derlei Forderungen, alle mit dem Ziel, der Korruption das Handwerk zu legen und Transparenz zu schaffen. Prominentestes Beispiel hierfür ist die „Unabhängige Untersuchung des europäischen Fußballs“, die von der EU in Auftrag gegeben wurde und die angesichts der Ereignisse der letzten Jahre einen „dringenden Bedarf nach einer formellen Struktur für die Beziehung zwischen den EU-Institutionen und dem europäischen Fußballdachverband“ diagnostiziert (mehr dazu unter: www.independentfootballreview.com).
Es mag sein, dass die ersten drei aufgelisteten Handlungsoptionen (Oper, Buch, Fitnessstudio) eher einer desillusionierten Haltung entspringen, während die letztere – der Kampf gegen die Korruption – immerhin von einer positiv-idealistischen Robin-Hood-Wolke umgeben ist. Ist dieser ethisch-moralische Nebel jedoch einmal verflogen, werden zahlreiche Argumente sichtbar, die gegen einen mit Staatsgewalt flankierten Feldzug gegen die Korruption sprechen.
1. Der Kampf gegen Korruption ist undemokratisch
Die Geschichtsbücher sind prall gefüllt mit Demagogen und autoritären Führern, die versuchten, im Namen des Kampfes gegen die Korruption und für mehr Sauberkeit demokratische Ordnungen zu überwinden. Die Forderung, mit dem korrupten Abschaum kurzen Prozess zu machen, ist eine gerne von zutiefst konservativen und nicht selten auch zutiefst demokratiefeindlichen Geistern erhobene Forderung. Das gilt auch für die jüngste Vergangenheit: Wann immer seit den 1990er-Jahren – seit dem Ende des Kalten Krieges erlebte die Anti-Korruptions-Politik eine neue Blütezeit – Politiker aufbrachen, um den „Korrupten“ das Handwerk zu legen, war Vorsicht geboten.
Zu einem Großthema wurde der Kampf gegen Korruption, als 1992 in den USA Ross Perot bei den Parlamentswahlen gegen die beiden Kandidaten der großen Parteien antrat. Das „Programm“ des vielfachen Millionärs bestand aus der Aussage, dass sich die politische Elite in Washington in erster Linie um ihr eigenes Wohl kümmere – ein fürwahr glaubhaft geäußerter Vorwurf, konnte man doch sicher sein, dass es Perot um derart Niederträchtiges nicht gehen könne. Ein weiterer Anti-Korruptions-Kämpfer von internationalem Format war Silvio Berlusconi, dessen konservative Regierung Mitte der 90er-Jahre die aufgrund von Korruptionsvorwürfen kollabierenden Sozialisten und Christdemokraten beerbte, um dann selbst dem Kreuzzug gegen die Korruption zum Opfer zu fallen. Der auf ihn folgende Saubermann, Romano Prodi, hielt sich ebenfalls nicht lange, so dass ein paar Jahre später schließlich erneut Berlusconi das Ruder übernahm, um dann wiederum von Prodi abgelöst zu werden. Zwischenzeitlich ging die europäische Kommission im eigenen Korruptionssumpf ebenso baden wie in Deutschland die CDU in ihre eigenen schwarzen Kassen. Wir lernen: Anti-Korruptions-Politik ist rund und dreht sich im Kreis. Die Konsequenz von alledem: ein vorübergehender „Wechsel“ an den Schalthebeln, der jedoch ohne eine inhaltlich stabile Bewegung auskommt und daher immer nur begrenzte Haltbarkeit hat – bis zur nächsten Enthüllung.
Dass diese kommen wird, liegt in der Natur der Sache. Seit es Demokratie und Kapitalismus gibt, unterhalten finanziell wohl ausgestattete Kreise intime Beziehungen zu gewählten Politikern und anderen Entscheidungsträgern. Dabei handelt es sich um einen alten Kompromiss der bürgerlichen Demokratie: Die Wirtschaft lässt ein gewähltes Gremium gewähren, mit der Einschränkung, dass alle tatsächliche Macht nicht Sache der Öffentlichkeit, sondern privatisiert ist. Wollen Politiker oder Verbandsfunktionäre dennoch etwas bewegen, gilt es, sich den Gesetzen der Korruption nicht zu verschließen.
Dass Korruption heute (mal wieder) ein großes Thema ist, hat wenig mit einer tatsächlichen Zunahme von Korruptionsfällen zu tun. Die Aufmerksamkeit steigt vielmehr dann, wenn der Verdruss mit der Politik und das gleichzeitige Fehlen von Alternativen ein so hohes Niveau erreicht haben, dass die Schwachpunkte des bürgerlichen Demokratiekompromisses selbst zum Stein des Anstoßes werden. Anders formuliert: Es ist eine ohnmächtige und orientierungslose Wut auf ein System, die sich Bahn bricht, die aber zugleich Gefahr läuft, positive Errungenschaften gleich mit über Bord zu werfen. Nicht zufällig ist der aktuelle Stellenwert des Korruptionsthemas gerade heute so groß, in einer Zeit, in der das Vertrauen in die Demokratie so gering ist wie selten zuvor.
Der Kampf gegen Korruption hat etwas Beklemmendes. Denn so richtig befriedigend ist der Ausgang solcher Skandale eigentlich nie. In der Regel folgt dem Korrupten sein bisheriger Stellvertreter oder aber ein bislang mit ähnlichen Mitteln arbeitender Gegenspieler. Ein systemimmanenter Austausch erfolgt, ein Befreiungsschlag hingegen bleibt aus. Insofern ist der Kampf gegen Korruption auch ein Ersatz für tatsächliche Veränderungen. Ein nicht hinreichender, denn zumeist verstärkt sein Ausgang die Desillusionierung noch weiter. Wie wenig „revolutionär“ der Kampf gegen Korruption und wie nützlich Anti-Korruptionskämpfer in Wirklichkeit sind, brachte einst ein Kommentator in der britischen Zeitung The Spectator zum Ausdruck, als er über den (linken) Korruptionsgegner Paul Foot schrieb, dieser glaube, „er würde so die bürgerliche Ordnung untergraben. Aber die Wahlergebnisse zeigen, dass dem ganz und gar nicht so ist. Wenn er sich unserer Empörung über Verfehlungen bedient, spannt er damit nicht die Bourgeoisie vor seinen Karren, wir spannen ihn vor unseren Karren. Seine Enthüllungen stärken das bürgerliche Lager, da sie ihm den Glanz der Rechtschaffenheit verleihen.“ (4.4.98)
2. Der Kampf gegen Korruption richtet sich gegen uns alle
Ein systematischer Kampf gegen die Korruption ist mithin nur möglich, wenn man nicht nur die Korruption bekämpft, sondern ihre systemischen Wurzeln erkennt und die entsprechenden Schlussfolgerungen zieht. Somit würde dieser Kampf aber seinen Charakter grundlegend verändern, er würde politisch und könnte dann nicht an Politiker outgesourct werden. Da dies so aber kaum gesehen wird, sondern man sich stattdessen nur zu gern an den konkreten Blüten der Niederträchtigkeit labt – Anti-Korruptions-Aktivisten in Politik und Sport zeichnen sich in der Regel nicht durch klar durchdachte programmatische Alternativ-Visionen, sondern primär durch zur Schau getragene Entrüstung und einen gehörigen Schuss Desillusionierung aus –, müssen andere Ursachen für die ständige Wiederkehr eben dieser Niedertracht gefunden werden. Zu einer umfassenden Kritik an Systemen bedarf es zumindest der Vorstellung, man könne Systeme durch eigenes Handeln aktiv verändern oder gar überwinden. Fehlt diese Vorstellungskraft, bleibt als Ursprung allen Korruptionsübels einzig und allein die menschliche Natur übrig. Daher werden in nahezu jeder aufkommenden Korruptionsdebatte nur allzu gern auch gleich alle anderen Menschen mit „eingemeindet“. Wir seien potenziell alle käuflich und korrupt, heißt es dann, und dass wir genau die Politiker und Funktionäre hätten, die wir verdienten. Der Kampf gegen Korruption wird somit zur beständig sich wiederholenden Kritik am Menschen selbst, an uns allen.
Deshalb wird auch immer wieder gerne über Doping lamentiert. Zum einen, weil sich hier zeigt, dass selbst diejenigen, die in aller Öffentlichkeit eben noch als „Vorbilder“ gefeiert wurden, auch nur verführbare Menschen sind. Zum anderen, weil in der Doping-Debatte die Funktionäre nicht nur aus der Schusslinie kommen, sondern sogar die Möglichkeit erhalten, sich als Verfechter der Moral aufzuspielen und harte Strafen gegen schwarze Schaffe fordern können. Warum und auf Basis welcher Legitimation auf Funktionäre und Bürokraten schimpfen, wenn wir doch alle korrupt und misstrauenswürdig sind? Diese Diskussionskultur ist zutiefst misantrophisch, denn sie lässt kein gutes Haar am Menschen. Da vergeht einem der Spaß – auch am Sport.
3. Der Kampf gegen Korruption untergräbt Freiheitsrechte
Diese Kultur des Misstrauens, die uns in der Politik, in der Gesellschaft und im Sport entgegenschlägt, hat üble Konsequenzen: Wenn Menschen, egal in welcher Position, nicht zu trauen ist, dann werden erkämpfte Freiheiten und Freiräume, die sich einem direkten Zugriff des Staates entziehen, in der allgemeinen Wahrnehmung zu Quellen krimineller Energie. Die Forderung der Anti-Korruptions-Aktivisten, Sümpfe trocken zu legen und Sauställe auszumisten, wird in diesem Klima automatisch zu einer Forderung nach mehr staatlicher Kontrolle in genau den Bereichen, die man einst wohlwollend „Zivilgesellschaft“ nannte. Dass Verbände selbst mittlerweile die Hilfe der Politik einfordern, um dem eigenen Chaos Herr zu werden, macht die Sache nicht besser. Derartiges ist nichts anderes als das Eingeständnis in die eigene Unfähigkeit und die Bereitschaft, auf Kosten grundsätzlicher Freiheitsrechte – wie zum Beispiel dem Recht auf Vereinigungsfreiheit – den eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Natürlich sind mächtige Verbände wie die Fifa, die Uefa oder das IOC keine Musterbeispiele für demokratische Verfasstheit. Hieraus aber den Schluss zu ziehen, sie sollten ihre Eigenständigkeit zugunsten staatlicher Kontrolle aufgeben, kommt der Aufgabe individueller und kollektiver Autonomie gleich. Zudem ist die Vorstellung, der Mangel an verbandsinterner Demokratie könnte durch Kontrolle von außen behoben werden, ein fataler Trugschluss. Eine ohnehin bereits unterentwickelte demokratische Kultur – in einer Organisation oder in einem Gemeinwesen – kann nicht durch externe Kontrolle und Überwachung gestärkt werden.
Demokratie und Freiheit bedürfen eines Grundvertrauens in die Vernunftbegabtheit und die Fähigkeit von Menschen, aus Fehlern zu lernen, eigenständig rationale Entscheidungen zu treffen und sich auch von Demagogen und aus autoritären Strukturen befreien zu können. Wenn uns Strukturen als undemokratisch erscheinen, müssen wir danach trachten, sie entweder aktiv zu verändern oder sie abzuschaffen. Voraussetzung hierfür ist eine aktive Auseinandersetzung in der Sache und das ständige Überprüfen, ob die Veränderungen, die angestoßen werden, wirklich mehr Demokratie bringen. Das gilt für alle gesellschaftlichen Bereiche, für die Politik genauso wie für den organisierten Sport.
Könnten wir dies nicht und wären stattdessen alle korrupt geboren, sollte uns konsequenterweise auch das Wahlrecht vorenthalten werden. Vereinigungen zu gründen, wäre dann ebenso wenig angezeigt wie das Beharren auf Freiheitsrechten. Die Lösung im Anti-Korruptions-Kampf sähe wie folgt aus: Wir beauftragen eine ethisch-moralisch unantastbare Expertenelite, die alles steuert. Ethisch korrekte Gleichschaltung im Namen von Fair-Play. Willkommen im therapeutischen totalen Staatssport. Schlusspfiff.