Pisa-Studie 2019: Wo bleibt die Neugier?

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08.12.2019 – Nach der neuen PISA-Studie stellt sich die Frage: Warum ist das Land der Dichter und Denker im internationalen Vergleich keine Leuchte. Dabei sind die Ursachen für die Bildungsferne klar. Aber wie kann dieses Problem gelöst werden?

Seit dem Jahr 2000 wiederholt sich bei jeder Neuauflage der Pisa-Studie die immer gleiche Debatte: Fast reflexhaft entbrennen Kontroversen über Grundschule, Lehrermangel und Ausbildung, über Universitätsabschlüsse und BAfög, über „soft skills“ und die Halbwertszeit harter Fakten sowie über den Umgang mit altem Wissen. Dann wird der x-te „Bildungsaufbruch“, mehr Geld und weniger Föderalismus gefordert. Tatsächlich werden aber Bildungspolitiker nicht diejenigen sein, die die Probleme der Bildung lösen werden.

Denn wenn heute irgendetwas dazu führt, dass sich Menschen jeden Alters weniger dem Wissenwollen widmen, dann ist es die zeitgenössische Bewertung von Bildung – und zwar nicht vonseiten der sogenannten „bildungsfernen Schichten“, sondern von denen, die sie haben und verwalten. Es wird Zeit, Wissen und Neugier gegen einen Zeitgeist zu verteidigen, der eher dem Vergessen, Vereinfachen und Entschlacken von Lehrplänen und Ansprüchen das Wort redet.

Neugier kann man nicht lehren, nur vorleben
Es stimmt: Menschen müssen heute mit viel mehr und mit anderem Wissen umgehen können als ihre Vorfahren. Daher braucht es neue Techniken der Wissensaneignung. Trockenschwimmübungen machen aber genauso wenig jemanden zu einem begeisterten Schwimmer, wie Lernmethoden ohne ernsthafte Beschäftigung mit dem zu erwerbenden Wissen jemanden zu einem Wissbegierigen machen.

Immer häufiger wird heute erklärt, dass das konkret „beigebrachte“ Wissen nicht mehr so wichtig sei, da es ja angesichts der rasanten Veränderungen ohnehin bald weder wichtig noch richtig sein werde. Wichtiger sei es stattdessen, dass die Menschen sich selbst fortlaufend neues Wissen aneignen. Der Begriff des „lebenslangen Lernens“ als bildungspolitische Zielsetzung meint genau dies: Die Menschen sollten in eine permanente Lernroutine kommen und sich weniger um Inhalte, sondern um ihre Lernkompetenz kümmern.

Aus Wissenden werden Lernende
Der „Lernstoff“ erscheint aus dieser Perspektive wie eine Hantel, mit der man den Denkmuskel trainiert. Und da nicht mehr Lern- und Lehrmethoden den Inhalten angepasst werden, sondern umgekehrt Inhalte dazu da sind, um Lernkompetenz zu entwickeln, verwischt auch der qualitative Unterschied zwischen akademischer Bildung und beruflich orientierter Ausbildung. Schon jetzt erinnern Universitäten hinsichtlich Ausrichtung und Bildungsstruktur stark an die einstigen Fachhochschulen.

Gleichzeitig wird der universitäre Fächerkanon ausgedünnt. Kein Wunder: Schließlich ist das moderne Bildungskonzept nicht auf eine umfassende intellektuelle Persönlichkeitsbildung ausgerichtet, sondern auf den Erwerb von Fähigkeiten zur Sicherung ökonomischer Bedarfe. Ein umfassender humanistischer Bildungsansatz hat hier keinen Platz. Es gibt in diesem modernen Konzept keine mündigen „Wissenden“ mehr, sondern nur noch „Lernende“.

Keiner will mehr Pauker werden
Die Aufwertung des Lernens gegenüber dem Wissen hat Auswirkungen darauf, welche Menschen sich für den Beruf des Lehrers entscheiden und aus welchen Motiven. Wissensvermittlung ist nicht mehr das Hauptmotiv des nachwachsenden Lehrkörpers. Keiner will mehr „Pauker“ werden: Der „Mit-Lerner“ und „Lernbegleiter“ ist viel populärer. Berufswunsch Vertrauenslehrer – ob das Schülern wirklich weiterhilft, mag bezweifelt werden.

Tatsächlich waren die mich am stärksten inspirierenden Lehrer diejenigen, die mich mit Wissen überhäuft, mitgerissen und an meine Grenzen gebracht haben, anstatt sich therapeutisch um mein Wohlbefinden zu kümmern oder darum, dass ich soziale Werte vermittelt bekomme. Selbstverständlich ist einiges von dem, was ich (Abiturjahrgang 1990) in der Schule gelernt habe, heute überholt. Meiner getrübten Erinnerung zufolge war das Periodensystem lückenhafter als heute, dafür aber war Pluto noch ein Planet und Ostberlin die Hauptstadt eines zweiten deutschen Staates.

Frieden mit Schiller und Goethe
Ansonsten empfand ich viel von dem, was ich damals lernte, auch damals schon als antiquiert, was in erster Linie an mir lag: Goethes Faust und Schillers Wallenstein, mit denen ich mich im Abitur zu duellieren hatte, waren für mich keineswegs wertvolle Wissensquellen – was sich allerdings seither verändert hat, wie ich zugestehen muss. Dies jedoch aufgrund von Impulsen aus ganz anderen Wissensbereichen: Sie halfen mir, meinen Frieden mit Goethe und Schiller zu machen.

Das ist ein Weg, wie Wissen entsteht: die Fähigkeit, einzelne Informationen nicht nur abzuspeichern, sondern miteinander in Verbindung zu setzen und Zusammenhänge zu erkennen, sodass ein vertiefendes Verstehen möglich wird. Dies zu ermöglichen und zu schulen, ist die eigentliche Bedeutung von Interdisziplinarität.

Wenn Bildung zur Ausbildung wird
Viel zu häufig wird heute Wissen auf Zahlen und Fakten reduziert, während das Verarbeiten, Einordnen und kontextuale Verstehen vernachlässigt wird. Dies ist nicht nur in den zahllosen Quizsendungen der Fall. Auch ein Blick in Lehrpläne nährt den Eindruck, dass es vielfach vor allem darum geht, Themen abhaken zu können. Informationen, Daten und Fakten sind sicherlich grundlegende Voraussetzungen für das Entwickeln von tiefgehendem Wissen und müssen vorhanden sein – aber sie sind eben nicht hinreichend: Echtes Verständnis kann sich nur entwickeln, wenn auch die Fähigkeit gestärkt wird zu konzeptualisieren, zu vergleichen und etwas kritisch zu betrachten. So können dann auch große Mengen an Informationen eingeordnet, zumindest aber besser in wichtige und unwichtige unterschieden werden.

Wenn aber der Bildungsprozess sich eher auf das Datenmanagement als auf die Freude am Wissen konzentriert, dann verliert die Bildung ihre Rolle und auch ihren Antrieb: Sie wird zur Ausbildung, zu einer Art Training. Dass „Wandel“ heute eher als Quelle von Unsicherheit und Unverständnis gilt, hat mehr mit unserer Einstellung gegenüber dem Wissen zu tun als mit der auf uns einströmenden Mengen an Informationen. Denn in vielen Bereichen unseres Lebens dominiert gerade eben nicht der stetige und beschleunigte Wandel, sondern eher die Zähigkeit und Langlebigkeit alten oder veralteten Denkens und Wissens.

Bildung ist der Fressfeind des apokalyptischen Denkens
Die Zukunftsorientierung ist der Grund dafür, dass sich die humanistische Bildung schon immer als Retterin und Vermittlerin alter Kulturen, alter Denkschulen, alter Gewissheiten, alter Künste und alter Sprachen verstanden. Sie mag in Form und Inhalt konservativ erscheinen, jedoch ist tiefgehendes Verstehen ermöglichendes Wissen eine weitaus stabilere und fruchtbarere Basis für Aufbrüche in die Zukunft als die überforderte und hysterische Scheu vor Veränderung.

Aktiv betriebener Wandel braucht wissensbasierte Zuversicht und ein umfassendes Verständnis von Zusammenhängen. Ein zentraler Motor für das Entstehen eines solchen Wissens ist die menschliche Neugier. Eine Gesellschaft, die aber aus Angst vor dem Wandel den Notstand ausruft und somit Neugier, Experimentierfreude und Optimismus problematisiert, entwickelt eine gefährliche Bildungsferne. Es liegt an uns allen, wieder gieriger auf die Zukunft und auf Neues zu sein.

Dieser Artikel ist am 8. Dezember 2019 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.