Keine grüne Weihnacht

Christbaum, Schnee, Frost, Autoscheibe

22.12.2019 – Der menschenverachtende Ebenezer Scrooge aus Charles Dickens‘ Weihnachtsgeschichte wäre mit seinen Einstellungen heute wahrscheinlich kein Kapitalist, sondern eher ein radikaler Umweltaktivist. Nirgendwo finden sich elitäre Verachtung gegenüber der Bevölkerung und die Ablehnung jeder Form von Menschlichkeit so hochkonzentriert wieder wie im ökologischen Denken.

Als am 19. Dezember 1843 die Erzählung „Christmas Carol“ („Eine Weihnachtsgeschichte“) des englischen Schriftstellers Charles John Huffam Dickens erschien, traf sie den Nerv der Zeit: Der Nahe der südenglischen Stadt Portsmouth in einfachen Verhältnissen geborene Dickens lenkte mit seiner heute weltweit bekannten Erzählung die öffentliche Aufmerksamkeit auf die zum Teil menschenunwürdigen Lebensumstände der armen Bevölkerung in den englischen Städten des 19. Jahrhunderts.

Geistreich gegen Menschenhass
Die Geschichte handelt vom Schicksal des herzlosen und inhumanen Geschäftemachers und Geldverleihers Ebenezer Scrooge, der Weihnachten als „kommerziellen Humbug“ genauso verabscheut wie die Menschen, die sich ihm trotz seiner offenen Ablehnung in unerschütterlicher Menschlichkeit zuwenden. An Heiligabend wird Scrooge vom Geist seines vor sieben Jahren verstorbenen und noch geizigeren Geschäftspartners Marley heimgesucht und aufgefordert, sein Leben grundlegend zu verändern, um nicht dasselbe grauenhafte Schicksal zu erleiden. Noch in derselben Nacht erscheinen Scrooge drei weitere Geister, die ihn mit seiner eigenen armseligen und unmenschlichen Existenz konfrontieren.

Der Geist der vergangenen Weihnacht entführt Scrooge in seine unglückselige Jugend und erinnert ihn an seine emotionale Verletzlichkeit, an seine verlorene Liebe und an das Leid, das ihn selbst so gefühllos hatte werden lassen. Der Geist der gegenwärtigen Weihnacht führt Scrooge die menschliche Größe, aber auch die bedauernswerte Armut seiner Zeitgenossen vor Augen, die er zuvor abfällig als „überschüssige Bevölkerung“ bezeichnet hatte. Der Geist der künftigen Weihnacht führt Scrooge an sein eigenes Sterbebett und an sein eigenes Grab, an dem niemand ihm nachtrauert. Scrooge erkennt seine Versäumnisse und zieht die zentrale Schlussfolgerung. „Die Wege der Menschen deuten ein bestimmtes Ende voraus, auf das sie hinführen, wenn man auf ihnen beharrt. Aber wenn man von den Wegen abweicht, ändert sich auch das Ende.“

Dickens ist hochmodern und veraltet zugleich
Menschlich geläutert, begeht Scrooge den nachfolgenden Christmas Day erstmals mit großer Freude, Güte und Großzügigkeit und wandelt sich fortan zum gütigsten und den Notleidenden helfenden Menschen weit und breit. Mit seiner Weihnachtsgeschichte kritisierte Dickens nicht nur gesellschaftlichen Zustände in Großbritannien im 19. Jahrhundert sowie die Arroganz der Eliten, seine Botschaft war auch eine positive und hoffnungsvolle: Güte, Mitgefühl und Großzügigkeit helfen nicht nur den offensichtlich Hilfsbedürftigen, sondern gerade auch den Helfenden. Dass Menschen dies zur Weihnachtszeit eher spüren, ist bei allem Hype und bei aller aufgesetzter Freundlichkeit ein kleiner Vorgeschmack auf die Menschlichkeit, die tatsächlich jeder in sich trägt, jeden Tag.

Wie sähe die Weihnachtsgeschichte wohl aus, wenn Charles Dickens sie heute hätte schreiben wollen? Welche Zustände hätte er angeprangert? Und wie wäre die öffentliche Reaktion gewesen? Zugegeben, eine hypothetische Frage. Und doch kam sie mir, als ich, wie jedes Jahr, eine der zahlreichen Verfilmung des Weihnachtsklassikers ansah und mir auffiel, wie seltsam realitätsnah und doch weit entfernt die Geschichte sich heute anfühlt. Sicherlich, auch heute gäbe es für Charles Dickens genügend Gründe, um auf das Schicksal Mittelloser hinzuweisen. Und natürlich gibt es viel Anlass, auf den Mangel an Mitgefühl und Menschlichkeit im gesellschaftlichen Alltag und in unser aller Miteinander aufmerksam zu machen. Dieser Teil der Geschichte ist absolut realitätstauglich. Menschliche Läuterung hat noch nie jemandem geschadet.

Der moderne Scrooge ist grün
Komplizierter ist es hingegen, die Personalie Ebenezer Scrooge in die heutige Zeit zu übertragen. Die elitären und sich offen der Geldgier und dem Geiz hingebenden Halsabschneider und Kapitalisten kennen wir heute nur noch aus alten Spielfilmen oder überdrehten und fantastischen Comics. Viele der echten Großunternehmer geben heute viel Geld für CSR-Programme, für Betriebskindergärten, Waisenhäuser in Afrika und Umweltschutzprojekte in aller Welt aus. Sie müssen dies sogar tun, um nicht gesellschaftlich geächtet zu werden, und einige tun dies sogar ausgesprochen gerne, da sie, wie es scheint, hierin den eigentlichen Sinn ihres Wirtschaftens erkennen. Die reichen und elitären Herren leben heute auch nicht in calvinistischer Enthaltsamkeit in der Nachbarschaft der armen Leute, sondern gut abgeschottet in ihren Luxusvillen und genießen ihr Leben.

Die Charakterzüge des Scrooge – Menschenfeindlichkeit, elitäre Arroganz gegenüber dem tumben Pöbel, Abscheu gegenüber Kommerz, simpler Freude und unbeschwerter Ausgelassenheit– sind nicht mehr stellvertretend für die kleine Kaste der wohlhabenden Unternehmenslenker. Der moderne Scrooge wäre kein knauseriger Geldverleiher, er wäre der Prototyp des radikalen Umweltaktivisten, der weder Verständnis noch Toleranz für menschliche Regungen oder für die Freiheitsliebe seiner Zeitgenossen hegt. „Menschliche Läuterung“ wäre für ihn ein Ausdruck von humanoider Arroganz und Sinnbild des verwerflichen Strebens, immer selbst im Mittelpunkt der Welt stehen und sein eigenes, unbedeutendes Schicksal über das der Welt zu stellen.

Misanthropie getarnt als Planetenschutz
Dem Öko-Scrooge 2020 gilt gerade das Streben nach dem kleinen menschlichen Glück als Inbegriff der Fehlentwicklung und als Versuch, den globalen Notwendigkeiten nicht ins Auge zu sehen. Er kann mit dem Begriff „überschüssige Bevölkerung“ ebenso viel anfangen wie mit der Kritik am „kommerziellen Weihnachtstrubel“ und an der verlogenen Mitmenschlichkeit. Die weihnachtliche Beleuchtung in Stadt und Land wäre ihm reine Lichtverschmutzung, der Weihnachtsbaum ein jährlicher Tannen-Holocaust, ganz zu schweigen von Truthahn und Weihnachtsbraten, von unökologischen Fernreisen zu Verwandten und vor allem von dem elenden materialistischen Geschenke-Wahn, der die Augen der Kinder zwar zum Leuchten bringt, ihnen aber gleichzeitig die Zukunft raubt, da Lametta und Glitzer in 500 Jahren nicht verrotten.

Und so zeigt der grüne Scrooge 2.0 an Weihnachten am deutlichsten sein wahres Gesicht: Sein Einsatz für den Schutz des Planeten ist in Wahrheit ein Kampf gegen den Anspruch des Menschen, gemäß seinen Möglichkeiten und Wünschen auf diesem Planeten zu leben. Es geht ihm nicht um Ausgewogenheit und um bestmöglichen Fortschritt zum Wohle aller, sondern um die Tilgung überschüssiger Menschlichkeit. Es wird wohl mehr als dreier Geister der Weihnacht bedürfen, um aus diesem verknöcherten Antihumanisten einen weihnachtlich gestimmten Zeitgenossen zu machen.

Der Geist der Weihnacht ist ein Humanist
Aber vielleicht reicht es in der modernen Fassung von Dickens‘ Weihnachtsgeschichte auch aus, einfach die anderen Menschen gegen den Einfluss des misanthropischen Zeitgeists zu immunisieren, das Glänzen der Kinderaugen zu bewahren und die Menschen davon abzuhalten, über die Feiertage „dem Planeten zuliebe“ den Gürtel enger zu schnallen und auf Liebgewonnenes zu verzichten, weil die gepredigte Notstandslogik dies zu befehligt. Wenn das gelänge, wäre dies die tatsächlich frohe Botschaft. Weihnachten wird niemals grün sein, denn es ist ein Fest der Menschlichkeit. Der Geist der Weihnacht ist stärker als jeder apokalyptische Zeitgeist, er ist und bleibt ein Humanist.

 

Dieser Artikel ist am 22. Dezember 2019 unter dem Titel „Der grüne Onkel Scrooge“ in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.