24.11.2019 – In aller Welt protestieren Menschen für mehr Freiheit und Demokratie, gegen Bevormundung, sinkende Lebensstandards und steigende Steuern. In Deutschland hingegen ist nicht der Mut zu Veränderung, sondern Angst und Panik das beliebteste Motiv politischer Proteste.
Vor etwas mehr als einem Jahr, am 17. November 2018, gingen in Frankreich knapp 300.000 Menschen in gelben Westen an mehr als 2.000 Orten auf die Straßen und blockierten Kreuzungen und Tankstellen. Auslöser der Proteste war die von Staatspräsident Emmanuel Macron zur Finanzierung der französischen Energiewende geplante höhere Besteuerung fossiler Kraftstoffe. Tatsächlich waren die Steuererhöhungen jedoch nur ein Symbol für die von vielen Franzosen persönlich empfundene Benachteiligung und Marginalisierung. Da in Paris lediglich 13 Prozent der Menschen mit dem Auto fahren, wurde die Benzinsteuererhöhung schnell als Sondersteuer für die Landbevölkerung interpretiert. Da zudem das Bruttosozialprodukt der wenigen französischen Metropolregionen um die Hälfte höher ist als im Rest des Landes, ist es kein Wunder, dass sich viele Franzosen auch fühlen wie „der Rest“ und so die Proteste gewaltsam nach Paris und in andere Großstädte getragen wurden.
Aufstand der Marginalisierten
Nicht umsonst skandierten die Demonstranten immer wieder den Slogan: „Die Regierung redet vom Ende der Welt, wir vom Ende des Monats!“ Auch wenn heute im Vergleich zum November 2018 nur noch wenige zu den Demonstrationen der Gelbwesten kommen: Weder die Lage noch die Stimmung der Menschen haben sich nicht verändert. Weiterhin halten zwei Drittel aller Franzosen die Forderungen der Gelbwesten für richtig – allen Bemühungen der französischen Regierung zum Trotz, die Bewegung zu diffamieren, zu kriminalisieren und blutig niederzuschlagen. Die Menschen fühlen sich auch weiterhin als die Ignorierten, die Marginalisierten und Übergangenen in einer hauptsächlich auf die urbanen Eliten fokussierten politischen Landschaft. Die Proteste mögen abflauen, nicht aber die Unzufriedenheit und die Wut – und auch nicht das flaue Gefühl im Magen der französischen Politik.
30 Jahre nach 1989: Deutschlands politische Amnesie
Es wird interessant sein zu beobachten, wie sich die Dinge in Frankreich weiterentwickeln werden. Interessant ist aber auch, wie diese und andere Proteste in Deutschland aufgenommen und diskutiert werden. Zum Jahrestag der Gelbwestenproteste wurde jedenfalls hierzulande hauptsächlich über deren Abebben und darüber philosophiert, dass Demonstrationen in Frankreich immer radikaler und brutaler seien als bei uns. Was tatsächlich ein Jahr nach Beginn der Proteste in den französischen Provinzen geschieht, wie und ob sich die Menschen künftig anders organisieren und wie es insgesamt im Nachbarland weitergehen soll, findet hierzulande hingegen kaum Beachtung.
Die deutsche Gesellschaft hat grundsätzlich ein seltsames Verhältnis zu Protesten. Fragt man hierzulande nach den wichtigsten Protesten des Jahres 2019, so ist die Antwort eindeutig: An allererster Stelle kommen die „Fridays for Future“-Demonstrationen. Danach kommt erst einmal lange nichts – und dann eventuell die aktuellen drastischen Ereignisse in Honkong. Die Gelbwesten sind kein Thema. Wenn überhaupt, dann überwiegen inhaltsleere Erschütterung und Betroffenheit ob der Gewalt – auf beiden Seiten, wie immer betont werden muss –, verbunden mit der nicht minder inhaltsleeren Hoffnung, diese möge bald enden. Die Marschroute lautet: Bloß kein Statement abgeben, dass in irgendeiner Form Menschen dazu motivieren könnte, Proteste als etwas Sinnvolles und Gewinnbringendes anzusehen. Dass dieses Denken 30 Jahre nach dem Fall der Mauer in Deutschland den Zeitgeist prägt, ist nicht nur bedauerlich, sondern ein untrügliches Anzeichen von politischer Amnesie.
Proteste werden mit alten Stereotypen wegerklärt
Die in Deutschland medial präsentierte „Bewertung“ der verschiedenen Protestbewegungen wird beinahe ausschließlich an den äußeren Erscheinungsformen festgemacht. Und sie werden jede für sich dargestellt, ganz so, als hätten wir zwar eine vernetzte Welt, nur die Proteste hätten miteinander nichts zu tun – und auch nichts mit uns. In zahllosen Ländern der Welt demonstrieren Menschen für mehr politische Teilhabe und Freiheit, für mehr Demokratie, gegen Autoritarismus, gegen Preiserhöhungen und sinkende Lebensstandards. Aber deutsche Medien berichten darüber, als schauten sie durch ein Fernrohr auf eine Lichtjahre entfernte Welt, deren niedere Probleme (Lebensstandard, Konsum, Demokratie, Freiheit) mit unseren, also den wirklich wichtigen und zukunftsweisenden (Klimawandel, CO2, Energiewende etc.) gar nicht zu vergleichen sind. Man könnte launisch zusammenfassen: Die Welt kämpft um ihre Freiheit, und Deutschland redet vom Wetter.
Aufgrund dieser Oberflächenfixierung werden inhaltliche Nuancen und Entwicklungen innerhalb der Protestbewegungen kaum wahrgenommen, geschweige denn kommuniziert. Stattdessen ist die Diskussion geprägt von alten Stereotypen: Bei den Gelbwesten ist es die alte französische Liebe zur Revolte, bei den Brexit-Briten schlagen traditionelle Verrücktheit und imperialer Starrsinn durch, bei den Italienern ist es die angeborene Korruptheit, bei den Osteuropäern wiederum der historische Demokratiemangel. Im Iran hat eh alles keinen Sinn, und wenn in Chile Hunderttausende das Land lahmlegen, sodass die UN-Weltklimakonferenz verschoben werden muss, dann wird nur zögerlich darüber berichtet, dass sich die Proteste wie in Frankreich ursprünglich gegen die dortige Umweltpolitik richteten.
Wegschauen als Politikersatz
Auch der Blick auf innenpolitische Konflikte bleibt auffällig oberflächlich: Wenn die Bauern in Deutschland Straßen und Greenpeace-Büros blockieren, weil sie nicht länger zum Sündenbock gemacht werden wollen, dann ist dies selbstverständlich allein eine Machtdemonstration des rückständigen Bauernverbandes sowie korrupter Verteidiger des alten Systems. Auch die Frage, ob Ostdeutsche nicht eventuell gute Gründe haben, sich im westdeutsch dominierten Parteiensystem unwohl zu fühlen, darf natürlich auch nicht ernsthaft diskutiert werden, ohne schon vorher eine eindeutige Positionierung gegenüber „Dunkeldeutschland“ vorzunehmen. Und dass Wähler von Donald Trump per se unterbelichtet sind, wird wahrscheinlich ohnehin demnächst von „der Wissenschaft“ festgestellt.
Diese Rezeption des politischen Weltgeschehens, aber auch der Situation im eigenen Lande, ist dem eigentümlichen deutschen Zeitgeist geschuldet: Er vereint Ängstlichkeit vor der „zivilisatorischen Peripherie“ an den Rändern des Mainstreams mit einem auffälligen Mangel an Empathie für Menschen, die sich für eigentlich selbstverständliche Interessen und Rechte einsetzen. Während sich die Welt an vielen Stellen auf den Weg macht in Richtung Freiheit, schnallt die deutsche Seele aus Angst vor den Nebenwirkungen des Fortschritts die Scheuklappen enger und enger.
Ist Gewalt im Kampf um die Demokratie legitim?
Eine kluge Strategie ist dies nicht. Denn die Menschen lassen sich nicht einmal von diktatorischen mörderischen Regimes davon abhalten, für ihre Freiheit zu kämpfen, geschweige denn von demokratisch gewählten, aber verängstigten Regierungen. In allen europäischen Staaten wächst der Unmut der Menschen. Diesem zu begegnen und sich nicht wegzuducken, müsste eigentlich die oberste politische Priorität sein, wenn es darum geht, sich dem Gefühl der zunehmenden Entfremdung und Marginalisierung entgegenzustellen. Doch genau das geschieht nicht.
Stattdessen zuckt das deutsche Gemüt zusammen, wenn der Hongkonger Demokratie-Aktivist Joshua Wong angesichts der zunehmenden Polizeigewalt die Frage stellt, ob der Einsatz von Gewalt im Kampf um die Demokratie nicht legitim sein könne. Irgendwann könnte sich auch hierzulande der Unmut der Menschen in Mut verwandeln. Wann und in welche Richtung es dann geht? Das werden die kommenden Jahre zeigen.
DIeser Artikel ist zuerst am 24.11.2019 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.