Urlaub: Auszeit vom guten Gewissen

Während ich diesen Text schreibe, befinde ich mich im Urlaub. Dies bringt mich dazu, einmal anders über Urlaub nachzudenken. Was ist eigentlich das Besondere daran?

Für die meisten und auch für mich ist Urlaub der legale Ausbruch aus dem, was man Alltag nennt. Dass er „legal“ ist, zeigt schon die Herkunft des Wortes. Es geht auf das alt- und mittelhochdeutsche „urloup“ zurück, das nicht mehr bedeutet als „Erlaubnis“, beispielsweise die Erlaubnis wegzugehen. Später bezog sich der Begriff dann auch auf eine zeitlich begrenzte Freistellung aus einem Dienstverhältnis.

Urlaub hat also etwas mit Freiheit zu tun, wenn auch nur auf Zeit. Urlaube erfüllen für mich persönlich dann ihren Zweck, wenn ich mich aus bestimmten Zwängen befreien kann: wenn ich Dinge sehe und tue, die ich sonst nicht tue, wenn ich mit Ritualen, Gewohnheiten und Traditionen breche und Alltagsgrenzen infrage stelle. Urlaub heißt dann auch die Tage nicht komplett durchplanen, sondern sich auf etwas Neues und Unbekanntes einlassen und spontan sehen, was kommt.

Es sind die kleinen Dinge

Eines meiner befreiendsten Urlaubserlebnisse hatte ich, als ich als Pflegehelfer mit einer Reisegruppe von behinderten und nicht-behinderten Menschen „im Urlaub“ war. Als wir abends abgekämpft an der Hotelbar saßen, sprach mich ein Herr im Rollstuhl an: „Wissen Sie, was ich schon seit über 20 Jahren nicht mehr gemacht habe?“ Ich zuckte mit den Achseln. „Ich habe seit 20 Jahren nicht mehr auf einem Barhocker gesessen“, beantwortete er seine Frage selbst.

Kurzerhand rief ich zwei weitere Helfer herbei, wir besorgten uns mehrere Anschnallgurte, hoben den Herrn aus seinem Rollstuhl und schnallten ihn auf einem Barhocker fest. Seine Augen leuchteten. Das war das Highlight seines Urlaubs, von dem er noch lange danach berichtete. An diesem einen Abend konnte er eine für ihn im Alltag kaum zu überwindende Barriere „überspringen“ und auf Augenhöhe an der Bar dem Barkeeper auf die Finger schauen.

Der Alltag kommt mit

Urlaub kann auch Ausblick auf ein anderes Leben und eine andere Welt sein: Utopia für die Reisetasche sozusagen. Deswegen machen Urlauber so viele Fotos. Sie versuchen, den Moment ihres kleines Utopias festzuhalten. Und nicht umsonst werden gerade auf weiten Reisen große Pläne für die Zukunft geschmiedet. Die Annahme, dass weit gereiste Menschen einen weiteren Horizont haben, ist nicht allein Ausdruck elitärer Arroganz, sondern birgt einiges an Wahrheit in sich. Nicht von ungefähr gilt es als erhellend, wenn man Dinge auch einmal „von einer anderen Warte aus“ betrachtet.

Jetzt werden einige natürlich einwenden, dass es solche Warten in den Bettenburgen des Massentourismus gar nicht gäbe und dass Leute auch nicht in den Urlaub führen, um die Welt anders zu sehen. Das mag sein. Und dennoch ist der Effekt von Urlaubsreisen genau der: Viele versuchen zwar krampfhaft, im Urlaub ihr Alltagsleben fortzusetzen, nur jetzt mit Sonne, doch es gelingt ihnen eben nur teilweise. Was dann auch die häufig anzutreffende Urlauber-Unzufriedenheit erklärt. Vor allem dann, wenn die Spinne im Bad größer, die Anzahl der Fernsehprogramme überschaubarer, der Kaffee stärker, aber dafür das Bier dünner ist als zu Hause.

Man wird nicht zu einem anderen Menschen

Natürlich ist im Urlaub keine vollständige Entwurzelung und Befreiung möglich. Die Menschen öffnen sich diesem Angebot unterschiedlich stark. Manchen reicht auch die schiere Möglichkeit, Fünfe gerade sein zu lassen – auch, wenn sie es dann doch nicht tun. Man wird im Urlaub nicht zu einem anderen Menschen. Ich finde es interessant, Urlauber beim Ausfechten genau dieses Konflikts zu beobachten, zu sehen, wo sie ihrer angeborenen, aber im Alltag oft unterdrückten Neugier nachgeben und wo sie die Grenze ziehen und versuchen, alte Gewohnheiten zu retten. Einfach jeden Tag ein Ei frühstücken; sich allen Unkenrufern zum Trotz in die pralle Sonne fläzen und mit Cocktails und Eiscreme genau die Strandfigur verhunzen, die man ohnehin nie hatte – auch das ist Urlaub! Und, für mich: Bild-Zeitung lesen.

Es gibt aber eine Sache, die ich noch interessanter finde als Urlaubern beim Ringkampf mit dem eigenen schlechten Gewissen zuzusehen: und das ist die abschätzige Reaktion all derer, die diese Art von Urlaub für eine Art „Verbrechen“ halten: ein Verbrechen an der Umwelt, an den Urlaubsländern, an der dortigen Bevölkerung, am guten Gewissen und den eigenen Vorsätzen, an der Zivilisation und am guten Geschmack. Ich spreche von den Anti-Massen-Touristen, den nachhaltigen Urlaubern, den Ökotouristen, die lieber Trampelpfade in den Urwald tänzeln als sechsspurigen Autobahnen gen Süden zu folgen. Eins vorneweg: Sie sollen das gerne tun. Auch ich mag es, ab und an schöne Orte und Momente nicht mit hunderten Mitreisenden teilen zu müssen.

Flucht in die absolute Reinheit

Doch Menschenleere allein macht Orte für mich noch nicht schön. Bei manchen Gegnern des Massen- und Pauschaltourismus scheint aber genau dieses Denken vorzuherrschen: Die Flucht vor anderen Menschen, um endlich einmal so zu sein, wie man eigentlich immer sein will. Am Massentourismus stören sie die Menschen selbst, die verzweifelt versuchen, ein paar Tage zu erleben, die ein wenig schöner und anders sind als alle anderen. Für sie dreht sich das Verhältnis zwischen Urlaub und Alltag um. Der Urlaub wird zum Ziel des Lebens, weil man endlich einmal konsequent seinem Gewissen folgen kann. Urlaub ist für sie die Flucht in die Absolutheit und Reinheit, aus der Welt des Kompromisses und der ewigen Verführungen und Verleitungen.

Für die meisten anderen ist Urlaub genau das Gegenteil: Die Flucht aus der Alternativlosigkeit und der Regulierung hinein in eine wohltemperierte und etwas freiere Version ihres eigenen Lebens. Aufeinandertreffen sollten all inclusive und all exclusive möglichst nicht – schon gar nicht im „heiligen Urlaub“! Aber letztlich trägt auch hier jeder sein Päckchen. Die Frage ist nur: Kann man in den zwei Wochen Freigang genug Freiheit einfangen, um den Rest des Jahres davon zu zehren? Wohl kaum. Und ebenso wenig kann man in zwei Wochen so „gut“ und „nachhaltig“ sein, dass man dadurch die Welt rettet.

Leben in starren Korsetten

Für mich ist Urlaub auch der Moment, in dem ich bei allem Müßiggang und Freiheitsdrang in aller Ruhe darüber nachdenke, was in den letzten Monaten meines Lebens passiert ist, was vor mir liegt und was ich erreichen möchte. Eine Auszeit verbunden mit dem Elan, das eigene Leben wieder zu bestreiten und gestalten. Ich weiß, dass es nach dieser Auszeit wieder in „mein Leben“ zurückgeht. Und auch, wenn Urlaube eigentlich immer zu kurz sind: Es ist gut, schöne Aussichten nicht nur als Urlaubszerstreuung zu genießen, sondern sie auch im echten Leben anzustreben.

Unser ganzes Dasein ist in enge und starre Korsette gepresst, sowohl zeitlicher als auch materieller oder ideeller Art. Wir werden so permanent und flächendeckend belehrt und gemaßregelt, dass wir es immer schwieriger finden, mit Freiräumen umzugehen, wenn sich einmal welche bieten. Vom eigenständigen Entscheiden, was man selbst für richtig und wichtig erachtet, ganz abgesehen. Diese Art der moralischen Überfrachtung und Überregulierung auch noch auf den Urlaub zu übertragen, ist in letzter Konsequenz das Gegenteil von „urloup“ und die Ausdehnung der Gewissens-Haft auf den Freigang. Und da kann ich dann nur sagen: Ich bin raus.

Dieser Artikel ist am 6. August 2017 in meiner Cicero-Kolumne „Schöne Aussicht“ erschienen.