Identitätspolitik: In der Sackgasse

Die Ereignisse in Charlottesville zeigen: Politik wird immer stärker von Identitätsgruppen dominiert. Denen geht es nicht um Verständigung, sondern um die Bekämpfung der „Anderen“. Das ist antipolitisch und spalterisch. Wir sollten lieber über Inhalte streiten.


Es gibt wenige politische Begriffe, die gleichermaßen so akzeptiert und verbreitet und dennoch mit so unterschiedlichen Inhalten aufgefüllt werden wie der Begriff „Identitätspolitik“. Der Schutz der eigenen Identität oder der anderer als schutzbedürftiger eingestufter Menschen ist neben dem Umweltschutz der zentrale Bereich des sozialen Engagements im 21. Jahrhundert: für die Belange von Frauen, von Homosexuellen, von Migranten, von ökologisch oder vegan Lebenden, von zivilisationsfernen. Die Liste ließe sich fast unendlich fortführen, die Identitäten können dann auch noch enger zugespitzt und beliebig kombiniert werden.

Auf der Basis ganz ähnlicher Argumentationen engagieren sich aber auch Menschen, die sich rein kulturell betrachtet in ganz anderen Welten bewegen. Ihre Anliegen sind etwa der Schutz der deutschen oder europäischen Kultur, der „weißen Rasse“, der traditionellen Ehe- und Familienstrukturen oder aber des christlichen Abendlandes. Auch ihnen geht es um die Bewahrung und Stärkung konkreter Identitäten. Es ist diese inhaltliche Vielfalt, die den Identitätsbegriff so allgegenwärtig macht – und so nutzlos.

Reaktion gegen die Aufklärung

Identitätspolitik ist keine neumodische Erfindung. Ihre Ursprünge liegen im ausgehenden 18. Jahrhundert, und sie sind eng verknüpft mit dem, was wir bis heute als Politik der Moderne verstehen und mit der Herausbildung von linken und rechten Orientierungen verbinden. Die Aufklärung verfolgte das Ziel, das vergangenheitsorientierte, deterministische und gesellschaftlich hierarchische Denken durch die Entwicklung neuer universalistischer Ziel- und Wertvorstellungen abzulösen. Es ging darum, die eigene kleine Identität im humanistischen Sinne zu transzendieren.

Die frühen Kritiker der Aufklärung widersetzten sich aber der Idee, es gäbe so etwas wie universelle menschliche Werte. Sie lehnten die Annahme, dass alle Menschen in irgendeiner Form gleich seien, vehement ab und betonten stattdessen die Besonderheit bestimmter Menschengruppen und der ihnen vorbehaltenen spezifischen Wert- und Lebensvorstellungen. Bis heute bekannt ist der Ausspruch des Staatmannes und vehementen Kritikers der Französischen Revolution Joseph de Maistre, der betonte, zwar Franzosen, Italiener, Russen und Perser, „einen Menschen aber nie im Leben gesehen zu haben“.

Dem aufklärerischen Verständnis folgend ist es gerade die Besonderheit des Menschen, bestimmte tradierte Lebens- und enge Sichtweisen überwinden zu können und darin Erfüllung zu finden. Demgegenüber vertrat die Gegenaufklärung den Standpunkt, dass der Universalismus Menschen entwurzelt und so ihrer lebenswichtigen Identität beraubt. So wurde „Identität“ gegen den revolutionären Werteuniversalismus in Stellung gebracht. Hieraus erwuchsen die uns bis heute bekannten partikularistischen Orientierungen nationalistischer und auch rassistischer Prägung, deren Konflikt mit universalistischen Orientierungen bis tief in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein die politische Landschaft prägte.

Nach Zweitem Weltkrieg nicht mehr mehrheitsfähig

Dieser Konflikt und damit auch die Rolle von Identitätspolitik veränderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg schrittweise, aber grundlegend: Offener Nationalismus, Rassismus und der traditionelle Glaube an die naturgegebene Überlegenheit des weißen Mannes waren in den Nachkriegsgesellschaften des Westens nicht mehr mehrheitsfähig. Die alten Ausprägungen der identitätsorientierten Politik wurden geächtet. Gleichzeitig schoben der Kalte Krieg und die daraus resultierende Teilung der Welt auch dem Glauben an die Erreichbarkeit großer universalistischer Ziele einen Riegel vor. In dem Maße, in dem dieser grundlegende optimistische Impuls aufklärerischen Denkens gerade auch im linken politischen Spektrum schwächer wurde und die Fixierung auf die Verteidigung eigener alternativer Lebensentwürfe zunahm, wurde „Identität“ zu einem neuen Argument im „linken“ Kampf gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit.

Sehr deutlich wurde diese Abkehr von großen universellen Zielen in der Entwicklung der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung: Viele radikaler Kämpfer für die Gleichberechtigung der schwarzen Bevölkerung kehrten den gemischten und für Gleichheit eintretenden Gruppierungen den Rücken und schlossen sich in rein schwarzen Gruppen zusammen. „Black Power“ hatte nicht mehr die unterschiedslose und universelle Gleichheit von schwarz und weiß zum Ziel, sondern formulierte offensiv „schwarze Interessen“.

Identität verdrängt Interesse

Dieser Trend zur Betonung von Partikularinteressen hat sich seither in der westlich geprägten Welt nahezu ungebrochen fortgesetzt. Identität als zentrale politische Kategorie ist heute auch im linksliberalen und linken politischen Spektrum tief verwurzelt – so tief, dass Versuchen, jenseits dieses Denkens übergreifende Ziele zu formulieren, mit großer Skepsis begegnet wird. Nicht selten wird das Überwinden von Partikularinteressen sogar als Indiz für eine unbewusste bis bösartige Verschleierung ebensolcher eigener Interessen gewertet. Auch die Kampagne „Black Lives Matter“ geht von einem quasi angeborenen Rassismus weißer Menschen aus. Deren „Weißheit“ führe dazu, dass ihnen kollektiv das Leben schwarzer Menschen als nicht so wertvoll gelte.

„Farbenblindheit“, wie sie der US-amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King vor mehr als 50 Jahren in Bezug auf die rechtliche Gleichstellung aller US-Bürger vor dem Gesetz einforderte, gilt heute vielen als implizit rassistisch, weil es unterschiedlichen Identitäten vermeintlich ignoriert und über einen Kamm schert. Für eine fortschrittliche Entwicklung der Gesellschaft ist dieses heutige Denken fatal, weil die Vorstellung, Identitäten seien durch Tradition, Erziehung oder gar Biologie fest zementiert, Veränderungen als unmöglich ausschließt, sowohl auf gesellschaftlicher als auch auf individueller Ebene.

Der über viele Jahrzehnte die Welt prägende Konflikt zwischen einer Politik, die auf starren und unveränderbaren Identitäten basiert, und einem Politikverständnis, das auf einer zukunftsorientierten Verständigung von Menschen in Form von Solidarität beruht, existiert so im 21. Jahrhundert nicht mehr. Politik heute wird nicht mehr von Interessengruppen, sondern immer stärker von Identitätsgruppen dominiert. Diese Gruppen pochen auf ihre spezifische Kultur, ihre Herkunft, ihre Anerkennung und ihre ganz eigenen Werte. In dieser Hinsicht sind sich Kontrahenten wie weiße Nationalisten und schwarze Separatisten erstaunlich einig: Es geht ihnen nicht um Verständigung und Konfliktlösung, sondern um die Bekämpfung der „Anderen“. Dies erklärt auch die zunehmende politische Gewalt, wie sie sich jüngst in der US-amerikanischen Stadt Charlottesville zeigte.

Man sollte um Inhalte, nicht um Identitäten streiten

Der ursprüngliche Impuls von Politik, die eigene begrenzte und Menschen voneinander trennende Identität zu überwinden, um gemeinsame Standards sowie Lösungen für Probleme zu entwickeln, ist heute kaum noch anzutreffen. Die Natur des Menschen, so ist mittlerweile im kompletten politischen Meinungsspektrum zu hören, verhindere tatsächliche Problemlösungen. Deshalb sei die Trennung von als inkompatibel geltenden kulturell geprägten Großgruppen die einzige Möglichkeit, das völlige Chaos zu verhindern. Anders formuliert: Hermetisch voneinander abgeriegelte und staatlich überwachte Parallelgesellschaften erscheinen als die einzige Option. Wie weit dieses misanthropische Denken bereits fortgeschritten ist, lässt sich an der zunehmend verrohenden politischen Kultur ablesen, die sich in den vergangenen Jahren herausgebildet hat: Diese ist nicht etwa freier und authentischer, sondern verordnet den Menschen unverhandelbare Verhaltensmuster und Standards und sperrt sie in neue, kulturell und pseudo-biologisch legitimierte Gefängnisse.

Diesem rückwärtsgewandten Trend kann man nicht dadurch entgegentreten, dass man sich einseitig auf weiße Nationalisten, Populisten oder Neonazis einschießt. Nicht deren politische Positionen sind das Problem, sondern die Tatsache, dass sie viel zu oft im Kern unkonfrontiert bleiben. Dies liegt nicht an der „Überzeugungskraft“ identitären Gedankenguts, sondern daran, dass Identitätspolitik inzwischen Politik großflächig ersetzt hat. Wo dieser Prozess der Verdrängung von Politik abgeschlossen ist, herrschen Sprach- und Verständnislosigkeit. Daher gibt es auch keine gute Identitätspolitik, es gibt nur spaltende, und vor allen Dingen ist sie zutiefst antipolitisch. Lasst uns endlich wieder politisch werden, lasst uns offen debattieren und uns wie Erwachsene um Inhalte streiten – nicht um Identitäten oder darum, wer das größte Opfer ist.

Dieser Artikel ist am 20. August 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ bei Cicero Online erschienen.