Zwei Jahre nach „Je suis Charlie“: Für das Recht auf die falsche Meinung

16-07-14-meinungsfreiheit

„Charlie Hebdo“ erscheint zwar mittlerweile auch in deutscher Sprache, doch die Meinungsfreiheit bleibt hierzulande in der Defensive. Hoffnung macht, dass viele Menschen sich nicht mehr von der Regierung vorschreiben lassen wollen, was sie zu denken haben.


Auch zwei Jahre nach dem Terroranschlag auf die Redaktion der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo ist die Meinungsfreiheit in großer Gefahr. Jedoch kommt diese Gefahr nicht von außen und auch nicht aus den Moscheen, sie kommt aus den politischen Institutionen und dem derzeitigen politischen Denken in der westlichen Welt. Terroristen können zwar Menschen umbringen und Gebäude in die Luft sprengen – Gesetze ändern und Rechte beschneiden können sie nicht, das müssen die Attackierten und Verängstigten schon selbst tun. Leider geht diese Terror-Rechnung immer wieder auf, wie auch nach dem 7. Januar 2015.

Zwar war auf dem halben Globus spontan viel von Betroffenheit und Mitgefühl mit den Opfern des Anschlags zu hören. Mit einer Demonstration für das Recht auf Meinungsfreiheit hatte dies jedoch nichts zu tun. Der Slogan „Je suis Charlie“ symbolisierte den Wunsch, sich gemeinschaftlich mit einem positiven Gedanken zu identifizieren. Solche Gemeinschaftsgefühle kann der Einsatz für die Meinungsfreiheit aber nur schwer erzeugen: Schließlich ist die Meinungsfreiheit ein Recht, das erst dann seine Wirkung entfaltet, wenn es für Menschen gilt, mit denen man sich nicht identifizieren mag. Die Meinungsfreiheit ist das Recht, das man für den Gegner erkämpft, um es selbst in Anspruch nehmen zu können.

Wie groß der Unterschied zwischen spontaner Solidarisierung und der Verteidigung von Freiheitsrechten sein kann, zeigte sich im Januar 2015 an einem anderen, ähnlich gelagerten Ereignis: Vier Tage nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo wurde in Hamburg ein Brandanschlag auf das Verlagsgebäude der Hamburger Morgenpost verübt. Doch obwohl auch hier die Ermittlungsbehörden recht schnell islamistische Motive in Betracht zogen, fand dieses Ereignis in der deutschen Öffentlichkeit kaum Beachtung. Dies einfach nur damit zu erklären, dass zum Glück niemand verletzt wurde, greift zu kurz. Vielen Menschen, die sich noch tags zuvor spontan mit Charlie Hebdo identifizierten, wäre es schwer gefallen, mit dem Slogan „Je suis Mopo“ im eigenen Facebook-Profil Solidarität mit einem Boulevard-Blatt zu bekunden.

Meinungsfreiheit wird gezielt eingeschränkt
Rückblickend betrachtet wurden die tödlichen Schüsse von Paris vor zwei Jahren zu einem Startsignal für eine europaweite Kampagne zur Einschränkung der Meinungsfreiheit. Quer durch das gesamte politische Spektrum wuchs die Kritik an Charlie Hebdo angeblich wegen der zu einseitigen und verletzenden Inhalte. Das Argument, dass radikale Islamkritik oder politisch unkorrekte Satire das friedliche Zusammenleben gefährdet, ist für die Meinungsfreiheit gefährlicher als jeder Terroranschlag. Es stellt genau die angsterfüllte Reaktion auf den Terror dar, die von Terroristen angestrebt wird. Die Kritik an Charlie Hebdo ging so weit, dass man die Redakteure gar des „Meinungsfreiheits-Fundamentalismus“ bezichtigte, der nicht Aufklärung, sondern selbst Gewalt zum Ziel habe. Die Realität steht auf dem Kopf: Während der Mut von Journalisten und Satirikern, kontroverse Themen kritisch und provokant zu behandeln, als verrückt und letztlich freiheitsfeindlich dargestellt wird, erscheint Zurückhaltung und Anpassung an den Mainstream als progressiv und wahrhaft aufgeklärt.

Diese Haltung bekam auch der Sänger der Band „Eagles of Death Metal“, Jesse Hughes, zu spüren. Das Konzert der Band im Pariser Bataclan war am 13. November 2015 zum Schauplatz eines grausamen Terroranschlags geworden, bei dem 89 Menschen starben. Wegen einiger nicht gerade mehrheitsfähiger Statements des Sängers zum Tathergang und zu der Reaktion von Muslimen wurde die Band sechs Monate nach dem Anschlag von zwei großen französischen Musikfestivals ausgeladen. Ich beschrieb damals diese Entscheidung im Cicero als „nachträgliche Aufwertung derer, die die ‚Eagles of Death Metal‘ bereits vor sechs Monaten zum Schweigen bringen wollten“. Immerhin hatte die Terrormiliz „Islamischer Staat“ nach eigenen Angaben den Bataclan angegriffen, weil dort „eine perverse Feier“ stattgefunden habe. Offenbar ist Jesse Hughes nicht nur „zu pervers“ für den IS, sondern auch für das Frankreich nach den Terroranschlägen.

Journalisten als Erzieher
Dieser zutiefst intolerante Konsens der Angst erklärt auch, warum das in einigen Staaten der EU geplante Vorgehen gegen die Erzeuger und Verbreiter sogenannter „Hass-Kommentare“ oder „fake news“ so wenig Aufruhr erzeugt. Zwar wird hin und wieder ironisch bemerkt, dass die Regierungspläne an das „Wahrheitsministerium“ aus George Orwells Klassiker „1984“ erinnern. Doch dass von solchen Eingriffen in die Meinungs-, Rede- und Pressefreiheit ernste Gefahren ausgehen, scheint auch in der Medienwelt nicht gesehen zu werden. Offenbar wähnt man sich dort gerne selbst auf der Seite der Privilegierten und Aufrichtigen, anstatt das Recht derjenigen zu verteidigen, die die Welt mit weniger bedacht gewählten Worten beschreiben.

Die Aufgabe der Meinungs- und Pressefreiheit in einem demokratischen Gemeinwesen besteht darin, den öffentlichen Marktplatz der Ideen, auf dem die verschiedensten und selbst hanebüchene Interpretationen der Wirklichkeit miteinander um die Gunst des Publikums ringen, vor Eingriffen von außen zu schützen. Das Niveau des Inhaltsangebots kann nicht dadurch verbessert werden, dass man abstruse Sichtweisen gezielt unterdrückt. Dies kann im Gegenteil nur durch die größtmögliche Informations- und Meinungsfreiheit gelingen – Freiheit ist die Grundlage für den offenen Ideenwettbewerb, ohne den die Demokratie jede progressive Dynamik einbüßt. Dieser Zusammenhang ist offenbar in etablierten Journalistenkreisen in Vergessenheit geraten. Lieber sieht man sich dort nicht als unabhängige Informanten der Bevölkerung, sondern als deren Erzieher und Therapeuten. Und daher gilt vielen die Idee einer staatlichen Zulassungsbehörde für Realitätsbeschreibungen und Meinungen als ein probates Mittel zur Stärkung der eigenen Mission im Kampf gegen die Verrohung der Sitten.

Furcht vor der eigenen Bevölkerung?
Die Konsequenzen dieser Haltung sind aus mehreren Gründen fatal: Zum einen werden durch die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit die Selbstreinigungskräfte der Medienlandschaft stark beeinträchtigt. Denn wie im Wissenschaftsbetrieb, so führt auch hier nur der offene und freie Austausch von Inhalten und Argumenten dazu, Lügen und Halbwahrheiten zu entlarven. Wenn aber die Festlegung, was eine Lüge und was ein Hass-Kommentar ist, in die Hände der Obrigkeit gelegt wird, dann wird die Wahrscheinlichkeit, dass staatstragende Politik überhaupt noch der Lüge überführt werden kann, weiter sinken.

Hinter dem „staatlichen Vorkosten“ von Standpunkten und Sichtweisen steht aber vor allen Dingen die Geringschätzung und die Furcht vor der eigenen Bevölkerung. Offensichtlich meint man, diese vor dem verführerischen und aufstachelnden Einfluss abweichender Sichtweisen abschirmen zu müssen. Bei genauerer Betrachtung ist diese Haltung gegenüber dem „demokratischen Souverän“ beleidigender und herablassender als jeder im Internet zu findende Hass-Kommentar. Wenn sich die Politik anmaßt, festlegen zu können, was Hass-Kommentare und was falsche und wahre Nachrichten sind, dann braucht sie sich nicht wundern, wenn sie selbst plötzlich nicht mehr erste Wahl ist.

Alternativlosigkeit als Politikersatz
Und genau diese Erfahrung hat die westliche Welt im Jahr 2016 erschüttert: Eine zunehmend entrückte und verunsicherte Elite mitsamt ihren medialen, kulturellen und zivilgesellschaftlichen Anhängseln versucht reflexartig alles, was die eigene Meinungsführerschaft infrage stellt, für demokratiefeindlich zu erklären. Über viele Jahre hat die so begründete „Politik der Alternativlosigkeit“ die Menschen in die Apathie getrieben. Doch dies gelingt heute immer weniger. Deutliche Hinweise darauf gab es in 2016 zu Hauf: Die steigenden Wahlbeteiligungen bei sinkender Zustimmung zur etablierten Politik, das Votum der Briten für den „Brexit“, das Votum der Italiener gegen die Verfassungsreform sowie das Erstarken sogenannter „populistischer“ Parteien – gemeint sind so unterschiedliche Kräfte wie die AfD, der französische Front National, die spanische Podemos, die österreichische FPÖ, die italienische Fünf-Sterne-Bewegung, die griechische Syriza und natürlich der künftige US-Präsident Donald Trump.

Die „Alternativlosigkeit“ hat als sedatives Politikersatzprogramm ausgedient. Die Frage ist, ob die angebotenen Alternativen wirklich welche sind. Ich teile die zum Teil rückwärts gerichteten und auch offen antidemokratischen Positionen der vermeintlichen Alternativbewegungen keineswegs. Aber dennoch ist es die gute Nachricht des Jahres 2016, dass mehr und mehr Menschen wieder beginnen, nach Alternativen zu suchen und sich in ihrer eigenen Meinungsbildung nicht mehr von amtlichen Verlautbarungen ausbremsen lassen. Dass diese „Reaktivierung“ nach Jahren der Bevormundung und Diffamierung nicht nach Regierungsplänen vonstattengeht, sollte weder überraschen noch verängstigen. Vielmehr gilt es nun, auf diesem neu entstehenden Ideenmarktplatz die eigenen Überzeugungen zu äußern und diese Möglichkeit nicht jenen zu überlassen, mit denen man nicht übereinstimmt. Meinungsfreiheit ist kein Almosen, sie muss aktiv in Anspruch genommen und verteidigt werden, sonst verfällt sie.

Dieser Artikel ist am 8. Januar 2017 in meiner Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.