Zitterpartys für die Angstparteien

Eingeschüchtert durch Wählerunmut und Proteststimmung suchen CDU und SPD nach Zukunftskonzepten. Manche Kommentatoren sprechen angesichts der „Werkstatt-Manie“ von einem Spagat zwischen Wurzelsuche und Erneuerung. Doch die Wirklichkeit ist trostloser, denn in beiden Parteien gilt die Wurzelsuche bereits als Erneuerung. Einmal mehr wird deutlich: Zukunft lässt sich nicht von oben verordnen, sie entsteht in der realen Welt.

Es tut sich was. Die deutsche Politik geht in sich. Die großen Parteien reflektieren sich und veranstalten Werkstatt-Gespräche und Zukunfts-Workshops, sie karren Experten, Lokalpolitiker und handverlesene Bürger in die Vorstandsetagen, um mit ihnen Versäumnisse aufzuarbeiten und neue Strategien zu entwickeln. Dass es künftig in den Apparaten lebhafter wird, hoffen viele. Nicht umsonst haben sowohl CDU als auch SPD Parteiführer installiert, die nicht gemeinsam mit der künftigen Alt-Kanzlerin Angela Merkel am Kabinettstisch sitzen. Die Grundlagen für eine stärkere Profilierung der Parteien scheinen also gelegt zu sein.

Bewegung ohne Ortswechsel nennt man Zittern

Man braucht keine große Hoffnungen auf eine Erneuerung der Parteien haben, um in der zur Schau gestellten Aufbruchsstimmung dennoch etwas Positives zu sehen: Denn zumindest zeigt sich, dass die Abschottung der Politik von der Stimmung im Land nicht vollständig gelingt. Trotz aller Versuche, disruptive Wahlergebnisse als Resultate massenhafter Wählerverführung und -manipulation zu entwerten, hält in der Politik nun doch langsam der Gedanke Einzug, dass „es“ so nicht weitergehen könne wie bisher. Die erste von zwei Fragen, die nun in den Parteizentralen gewälzt werden, lautet: Was ist dieses „es“, das so nicht weitergehen kann? Schon die Frage ist unangenehm, denn sie bedeutet nichts Geringeres als das Ende des mehr als 20 Jahre alten politischen Dogmas der Alternativlosigkeit. Die zweite Frage „Wie soll es weitergehen?“ ist jedoch noch unangenehmer, denn sie fordert politische Fantasie jenseits von dem, was eben noch als alternativlos und unumkehrbar galt.

Beide ehemaligen Volksparteien stehen vor einem ähnlichen Problem: Sie sehen sich gezwungen, von ihrem vertrauten, aber zunehmend brüchig werdenden Fundament abzutreten, ohne dabei große Sprünge zu machen und ohne dabei den Halt zu verlieren. Sie müssen nach Alternativen suchen, die nicht zu sehr wie solche aussehen, aber dennoch anders genug sein müssen, um glaubwürdig „Erneuerung“ zu kommunizieren. Das wäre selbst für Vollblutpolitiker eine echte Herausforderung. Für moderne Politmanager und Parteistrategen, deren Augenmerk auf den kommenden Wahlergebnissen und nie auf der systematischen Entwicklung politischer Überzeugungen lag, brechen gerade Heimatwelten zusammen. Es ging in der Ära der Alternativlosigkeit immer um die Professionalisierung der Wertevermittlung und um eine erfolgreiche Anhängermobilisierung. Ein Interesse an kontroverser politischer Auseinandersetzung wurde in den Stellenausschreibungen nie nachgefragt.

Parteitherapie durch Diskurssimulation

Nun soll also plötzlich kritisch hinterfragt werden, was eben noch als gesetzt galt, und das von denen, die bis eben noch das Gesetzte mit Klauen und Zähnen verteidigt haben und dies für Politik hielten. Und das alles nur, weil die Wähler nicht mitziehen, und nicht, weil in den Parteiapparaten sich die inhaltliche Überzeugung ausbreitet hat, dass ein Umdenken geboten wäre. Der nun öffentlich wirksam inszenierte Diskussionsbedarf an den Parteispitzen ist nicht inhalts-, sondern in erster Linie angstgetrieben. Und das Ziel solcher Werkstattgespräche und Workshops ist daher auch nicht die Entwicklung neuer Inhalte, sondern die oberflächliche Linderung der Angst unter Wahrung der eigenen Glaubwürdigkeit. Dies, so die Vorstellung, erreicht man dadurch, dass man das jeweilige zentrale Ärgernis der eigenen Anhängerschaft aufgreift – und möglichst geräuscharm reduziert oder gar eliminiert. Bei der CDU ist das die Asylpolitik, bei der SPD hört der Stein des Anstoßes auf den Namen Hartz.

Es ist spannend zu beobachten, wie die Parteien sich selbst als Opfer der eigenen Vergangenheit zu stilisieren und hieraus Elan für einen „Neubeginn“ zu destillieren versuchen. Die Begrifflichkeiten „Werkstatt“ und „Workshop“ kommunizieren Emsigkeit, Hemdsärmeligkeit und Grundsätzlichkeit, eine Abkehr von großkopferten Politstrategien und theoriebasierten Großentwürfen, stattdessen Basisnähe und offene Debatte. Gleichzeitig zeigt sich in diesen als Bastelorgie inszenierten Therapiesitzungen aber eine enorme Banalisierung: Indem die SPD bei der Vorstandssitzung am letzten Wochenende wie auch schon zuvor im Berliner Debattencamp im letzten November verkündete, dass sie „Hartz IV endgültig hinter sich“ lassen wolle, betreibt sie eine Klitterung der eigenen Geschichte. Die Partei tut sie so, als sei sie vor mehr als 15 Jahren von einer fremden Agenda-2010-Politik infiziert worden und habe erst nun ein Gegenmittel gefunden. Das Abwickeln ihrer eigenen einstigen Modernisierung wird als „Aufbrechen verkrusteter Strukturen“ interpretiert, was natürlich bei der niedergeschlagenen Mitgliedschaft auf Zustimmung stößt. Dass die Inhalte dieser Exit-Strategie aber aus genau in die Zeiten führen, aus denen die Partei einst mit Gerhard Schröder und Peter Hartz zu entfliehen versuchte, ist ein tragisches Paradoxon.

Krisen haben keine Ursachen mehr, nur noch Namen

Auffällig war zudem, wie viel Raum in dem zweitätigen Debattenmarathon in Berlin-Köpenick im letzten Herbst den Feldern Umwelt und Migration gegeben wurden – nicht eben klassische SPD-Domänen, wohl aber gerade die Bereiche, in denen die Profiteure des eigenen Niedergangs inhaltlich zu Hause sind: Grüne und AfD. Aber genau das zeichnet den typischen Verlauf moderner Krisenbewältigung aus: Wenn Gegenwart und Zukunft aufgrund eigener Ideen- und Mutlosigkeit verbarrikadiert sind, versucht man, sich bis zur Selbstaufgabe anderen Ideen zu öffnen, während man sich gleichzeitig und reumütig dem Steinbruch der eigenen Vergangenheit zuwendet, um, wie es heißt „die Wurzeln zu stärken“. Dahinter steht die Hoffnung, die eigene Krise als Folge einer temporären Verfehlung einhegen zu können. Zudem lässt sich der Umstand verwischen, dass in den letzten Jahrzehnten gerade die „Zerschröderung“ der alten Traditionen als Aufbruch gesehen wurden. Die neue Zukunft fußt nun also nicht mehr auf dem Aufbruch, sondern auf der Zeit davor. Diese erscheint vielen Genossen rückblickend plötzlich gar nicht mehr so grau, sondern erstaunlich konkret und angenehm übersichtlich. Innovativ ist das nicht.

Der Versprecher der neuen CDU-Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, die zu Beginn der Werkstattgespräche ihrer eigenen Partei diese kurzerhand mit der SPD verwechselte, steht sinnbildlich für die Zwillingskrise, die beiden großen Parteien vereint: Beide beklagen seit Jahren die Erosion des Parteikerns und der Verlust des eigenen Profils und verbinden dies mit konkreten Namen: Bei der CDU ist es Angela Merkel, bei der SPD Gerhard Schröder bzw. Peter Hartz. Doch wie Schröders Aufstieg in der SPD in den späten 1990er-Jahren selbst als Folge des Niedergangs der alten SPD zu sehen ist, so ist auch Merkels Karriere Ausdruck der tiefen Identitätskrise, in der die CDU bereits am während der Kohl-Ära steckte. Durch die Fokussierung auf Personen werden die tatsächlichen Ursachen der politischen Desorientierung aber so weit ausgeblendet, dass alte gescheiterte Strategien (und Personen wie jüngst Friedrich Merz) plötzlich wieder eine Zukunft haben. Was beide Parteien als Aufbruch zelebrieren, ist in Wahrheit ideologische Leichenfledderei am eigenen Leib.

Nur Spuren im Sand

Das an sich wäre aus parteiferner Sicht kein Grund zur Besorgnis, würde hierin nicht auch wieder eine gehörige Portion Wählerverachtung zum Ausdruck kommen. Schon die Annahme, dass die Bürger auf diese pseudo-traditionelle Maskerade hereinfallen könnten, zeugt von einer schier unglaublichen Geringschätzung des demokratischen Souveräns. Möglicherweise gelingt es den Parteien mit dem Ausmotten altertümlicher und abgelebter Profile, ihre jeweils zukunftsfernsten Klientele zu stabilisieren. Tatsächlich Verdrossene hingegen wird man durch derlei kosmetische Operationen kaum zurückgewinnen. Politik ist kein Sandkastenspiel, in dem man nur die Förmchen austauschen braucht, um die Leute vergessen zu machen, dass der Sand derselbe ist.

Die Erneuerung des Denkens findet weder in alten Köpfen noch in alten Apparaten statt. Der Motor für Veränderungen liegt in der Gesellschaft. Dort tut sich viel, so viel, dass es die Parteien aus Furcht in eigens eröffnete Selbst(wieder)findungs-Werkstätten treibt. Doch diese Bastel-Workshops sind nur traurige Versuche, die Menschen dadurch vom Tragen von Gelbwesten abzuhalten, dass man sich selbst einen Bauarbeiterhelm aufsetzt und Aufbruch und Umbau suggeriert. Diese Geringschätzung der Wählerintelligenz wird den Niedergang der alten Politik nur noch weiter beschleunigen.

Dieser Artikel ist in leicht veränderter Fassung am 17. Februar 2019 in der Kolumne „Schöne Aussicht“ auf Cicero Online erschienen.