Wut-Mails aus der „Atom-Hölle“

In Japan lebende und arbeitende Deutsche liefern Innenansichten aus der Krisenregion – und ärgern sich maßlos über die hiesige Hysterie.

„Für alle Märchenliebhaber! Wir sitzen auf der verstrahlten Terrasse und genießen radioaktiv verseuchte Lebensmittel!!!“ So und ähnlich beginnen E-Mails von Deutschen in Japan an die Daheimgebliebenen, in denen die deutsche Atompanik aufs Korn genommen wird. Auch der gebürtige Passauer Christian Thoma, der seit 1981 in Japan lebt und heute in Tokio seine eigene Firma leitet, ist entsetzt angesichts der, wie er schreibt, „verdummenden Informationsstrategie, die nicht nur dem japanischen Volk Unrecht tut, sondern das Leid der Betroffenen und Angehörigen in einer unvertretbaren Weise eskaliert“.

 

Die deutsche Berichterstattung über die Ereignisse in Japan nennt Thoma „haarsträubend“ und „schamlos“, wie etwa Berichte darüber, dass Bürger in Tokio Supermärkte stürmen, um ihre Keller und Tiefkühltruhen zu füllen. „Ich frage mich: welche Keller? Die meisten Häuser in Tokio haben weder Keller noch Tiefkühltruhen.“ Auch von einem „Stürmen“ der Supermärkte kann seiner Erfahrung nach keine Rede sein: „Die Kunden stehen sehr diszipliniert an der Kasse.“ Andere Medienberichte schildern das wirtschaftliche Chaos, da die Infrastrukturen wie Brücken und Straßen im gesamten Land zerstört seien. „Welche ein Unsinn!“, schreibt Thoma. „Zerstört ist lediglich die Infrastruktur der betroffenen Gebiete. Die Infrastruktur in den anderen Teilen Japans, die ca. 80% der Wirtschaftsleistung erzielen, sind völlig unversehrt.“ Auch darüber, dass in der westlichen Welt das Tragen von Atemschutzmasken als Zeichen der Panik interpretiert werden, können deutsche Expatriates in Japan nur lächeln. In jedem Winter tragen Millionen von Japanern solche Masken, um sich vor Viren zu schützen. Zudem gehen viele Menschen hier zur Arbeit, obwohl sie krank sind. Um ihre Arbeitskollegen zu schützen, tragen sie Masken.

 

Aber es ist nicht nur die Medienberichtserstattung, die unter Deutschen in Tokio Groll erzeugt. Auch, dass die deutsche Botschaft sich fluchtartig nach Osaka „verkrümelt“ hat, aber weiterhin vollmundig per E-Mail jede Unterstützung zusagt, wird als „blanker Hohn“ beschrieben. Auch Thoma kritisiert die deutsche Botschaft als verantwortungslos, denn „obwohl viele in der Botschaft registriert sind, hält man es nicht einmal notwendig, die Deutschen in Japan zu kontaktieren, weder per E-Mail, noch per Telefon.“ Auch für die Aufforderung vieler deutscher Unternehmen, ihre deutschen Angestellten mögen das Land verlassen, hat Thoma kein Verständnis. „Gott sei dank gibt es auch noch einige Firmen, deren deutsche Vorstände in Japan bleiben, um ihren Angestellten in der Not beizustehen.“ Eigentlich sei dies eine Selbstverständlichkeit, „wohl aber nicht für viele große Firmen, deren hochbezahlte Vorstände das Weite suchen und ihre Mitarbeiter im Stich lassen. Diese Leute werden auch häufig Führungskräfte genannt“, resümiert Thoma sarkastisch.

 

„Wir schätzen die Anteilnahme wirklich“, ist in einer anderen E-Mail ist zu lesen, „aber wenn ich internationale TV-Sender einschalte oder die eingehenden Mails lese, fühle ich mich plötzlich, als ob ich einen Drink oder eine tröstende Umarmung bräuchte.“ Das immer wiederkehrende Motiv vieler Wut-Mails aus Fernost lautet: Wir bleiben in Tokio, nicht, um als Helden in die Geschichte einzugehen, sondern weil wir es der japanischen Gesellschaft gerade jetzt schuldig sind, unsere Aufgaben zu erfüllen. Und für westliche Beobachter noch erstaunlicher: „Es gibt keinerlei Panik in der Stadt, keine Gewaltausbrüche, keine Plünderungen. Japan ist völlig sicher.“ Ein anderer Mailschreiber stellt die rhetorische Frage, wie er „jemals wieder vor Studenten stehen und ihnen etwas von Wirtschaftsethik, Unternehmensführung, Verantwortung, Vorbildern und Führungsstärke beibringen soll, wenn ich mich nicht entsprechend verhalte?“ Schließlich wisse jeder, der nach Japan geht, dass sich hier jederzeit Erdbeben ereignen können.

 

Erschütterung erzeugt auch die Konzentration auf die Unfälle in Fukushima, während die Tausenden Opfer des Tsunamis fast schon in den Hintergrund geraten. „Diese Leute interessieren sich nicht für Merkels Notfallprogramm für den eigenen Machterhalt“, ist zu lesen. Manch einer möchte sich angesichts der Art und Weise, wie Fukushima „für alle möglichen Agenden in Deutschland missbraucht wird“, fast schon „schämen, Deutscher zu sein“. Sarkastisch auch diese Zeilen: „Bei den deutschen Medien möchte ich mich dafür entschuldigen, dass wir hier immer noch keinen Super-GAU wie in Tschernobyl haben.“ „Natürlich“, so ist in einer weiteren E-Mail zu lesen, sei es „more sexy, über Reaktorkatastrophen zu reden. Wenn ich das so lese, habe ich das Gefühl, als ob es manche kaum abwarten können, bis das hier tatsächlich in die Luft geht.“ „Zum Glück“, fasst der Autor jener Vermutung zusammen, „lesen Japaner aber dieser Tage kaum ausländische Presse.“