Interview mit dem Hirnforscher Prof. Dr. Wolf Singer über Tierversuche und die Forschung am Menschen.
(Erschienen in Novo38, Januar 1999)
Welche Relevanz hat Ihre Forschung für die Menschen?
Wir untersuchen höhere Hirnfunktionen, zum Beispiel kognitive Leistungen wie Wahrnehmung, Erinnerung, Gedächtnis und intensionale Funktionen wie Planung und Ausführung motorischer Handlungen. Das Gehirn ist nicht, wie wir früher angenommen haben, ein hierarchisches System, in dem ein Koordinationszentrum alle Informationen sammelt, sortiert und dann Entscheidungen fällt und Aktionen plant. Vielmehr besteht das Gehirn aus sehr vielen unterschiedlichen Funktionseinheiten, und wir wissen noch nicht genau, wie sie miteinander koordiniert werden. Wir verfolgen seit etwa 10 Jahren sehr intensiv eine Entdeckung, die wir hier in Frankfurt gemacht haben, die möglicherweise den Schlüssel zur Lösung des Bindungsproblems darstellt. Die Aufklärung des Bindungsproblems ist nicht nur von grundlegender Bedeutung für das Verständnis von Hirnfunktionen; es ist auch von unmittelbarer klinischer Relevanz, da eine Vielzahl von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen vermutlich auf Störungen dieser Bindungsfunktionen zurückzuführen sind.
Welche Art von Tierversuchen führen Sie durch?
Die meisten der Tierversuche, die ich verantworte, sind den sogenannten Alternativverfahren zuzurechnen. Eine Ratte wird eingeschläfert, Hirngewebe wird entnommen und dann zu Versuchszwecken in-vitro für einige Stunden am Leben erhalten. Das sind die Versuche mit dem höchsten Tierverbrauch, da für jeden Versuch ein Tier geopfert werden muß. Dann gibt es eine zweite Klasse von Versuchen, in denen an Ratten, gelegentlich auch an Katzen, Messungen in Vollnarkose vorgenommen und die Tiere dann ohne Wiedererwachen durch Absenken der Narkose getötet werden.
Wir führen auch Untersuchungen an wachen, verhaltenstrainierten Katzen und Rhesusaffen durch. Solche Versuche sind erforderlich, um die Sprache der Nervenzellen zu decodieren und die Funktionen zu untersuchen, die in der Narkose nicht vorhanden sind. Vermutlich kommen dergleichen Versuche dem Tierschutzgedanken am nächsten, weil man mit einem einzigen Tier mehr als zwei Jahre arbeiten kann und zur Beantwortung einer Fragestellung die Arbeit mit zwei Tieren oft genügt.
Nun wird immer wieder eingewandt, Primatenversuche seien grausam, weil die Tiere während der Messungen Schmerzen erleiden. Das ist nicht zutreffend. Die Tiere müssen, während wir die Hirnaktivität ableiten, Erkennungsaufgaben lösen und kooperativ sein. Das schließt Schmerzen, Streß und andere Belastungen aus. Sie sind lediglich in ihrer Bewegungsfreiheit leicht eingeschränkt, woran sie sich aber schnell gewöhnen.
Auf welcher Grundlage verteidigen Sie Tierversuche?
Zunächst haben wir eine ethische Verpflichtung zum Wissenwollen, solange wir handelnd in das Schicksal unserer Lebenswelt eingreifen wollen. Wir können uns diesem Handeln nicht entziehen, weil wir Hilferufe nicht überhören können, weil wir Katastrophen begegnen wollen und weil die Welt nicht heil ist. Da nichts unverantwortlicher wäre als zu handeln, ohne gleichzeitig die Konsequenzen dieses Handelns verstehen zu wollen, haben wir nur die Wahl: Entweder wir hören auf zu handeln, dann müssen wir auch nichts wissen. Oder aber wir eignen uns das Wissen an, das wir brauchen, um unser Handeln verantworten zu können.
Für Tierversuche würde ich eine stringentere, ethische Rechtfertigung fordern. Die ist gegeben in der Verpflichtung, wissen zu müssen, um im medizinisch-therapeutischen Bereich zu handeln.
Gibt es Alternativen zu Tierversuchen?
Diese Frage wird von der Wissenschaft sehr ernst genommen. Es sind ja auch die Wissenschaftler, die Alternativmethoden entwickelt haben und weiterentwickeln. Wir haben Alternativen, wie zum Beispiel die Versuche mit Gewebekulturen. Daran kann man zellbiologische oder toxikologische Untersuchungen vornehmen, aber keine Gedächtnis- oder Wahrnehmungsfunktionen testen. Es wird auch immer wieder gesagt, man solle an Computermodellen forschen. Dies ist absurd, denn um Computermodelle realistisch der Wirklichkeit nachzubilden, müßten wir schon wissen, was wir über die Modelle herauszufinden hoffen. Aus diesem Grund lassen sich Organfunktionen, und das gilt nicht nur für das Gehirn, nur am Tier erforschen.
Es werden auch bei Menschen Elektroden ins Gehirn implantiert, um etwa Bewegungsstörungen bei der Parkinsonschen Krankheit zu behandeln. Messungen können jedoch nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen vorgenommen werden, da diagnostischen und therapeutischen Zielen absolute Priorität eingeräumt werden muß.
Behindert man mit den sehr langwierigen und strengen Genehmigungsverfahren nicht die Forschung zum Wohle der Menschen, anstatt sie zu unterstützten?
Wir werden gefördert, weil wir den gesellschaftlichen Auftrag erfüllen, Wissen zu erwerben. Gleichzeitig aber schränkt uns die Gesetzgebung ein. Das ist in Ordnung. Die Arbeit der Tierschützer in den letzten Jahren hat dazu geführt, daß die Tierhaltung wesentlich verbessert wurde. Auch das Verbot von Tierversuchen im Bereich nichttherapeutischer Kosmetika ist nachvollziehbar, da die meisten der benötigten Substanzen bereits getestet sind. Natürlich wird das Arbeiten mit Wirbeltieren durch Gesetze sehr erschwert, und das hat auch schon zur Demotivierung von Nachwuchswissenschaftlern geführt, die lieber ins Ausland gegangen sind. Wenn in Deutschland Tierversuche gänzlich verboten würden, kämen wir in die mißliche Lage, es anderen zuzumuten, eine Wissenschaft zu verantworten, die wir nicht wollen, deren Ergebnisse wir aber selbstverständlich zur Behandlung unserer Patienten in Anspruch nehmen werden.
Wissenschaftliche Entdeckungen kann man nicht planen, und nicht alle Versuche kann man sofort rechtfertigen. Zerstört nicht schon der Rechtfertigungszwang die Möglichkeit, bahnbrechende Forschung zu betreiben?
In letzter Konsequenz trifft das zu. Wir können Experimente in der Grundlagenforschung nicht anhand zu erwartender Resultate und Konsequenzen rechtfertigen, da wir diese nicht kennen. Das ist das Dilemma. Insofern muß die Rechtfertigung für die Grundlagenforschung allgemeinerer Natur sein.
Die Verleihung des Hessischen Kulturpreises an Sie war begleitet von Protesten von Tierversuchsgegnern. Was ist Ihrer Meinung nach die Motivation der Tierversuchsgegner?
Der Protest richtete sich – wie immer, wenn es gegen Tierversuche geht – gegen eine einzelne Person, aber er meinte natürlich auch die Landesregierung, die diesen Preis verliehen hat und sich damit direkt zu meiner Arbeit bekennt.
Die Motive der Tierversuchsgegner sind unterschiedlich. Es gibt Menschen, die Untersuchungen an Tieren tatsächlich für ethisch nicht vertretbar halten. Über ethische Einstellungen kann man nicht wertend richten, die muß man in einer pluralistischen Gesellschaft akzeptieren. Ich finde das gut so und schätze den Diskurs mit diesen Menschen. Was ich nicht gut ertragen kann, ist Kritik, die sich auf unzutreffende Inhalte bezieht. Wir quälen keine Tiere in der Grundlagenforschung. Es trifft auch nicht zu, daß wir Tierversuche aus sadistischer Motivation heraus machen oder des Geldes oder Ruhmes wegen. Untersuchungen an lebenden Organismen sind schwierig, und insbesondere Versuche, die den Tod des Tieres zur Folge haben, sind wegen des ethischen Konfliktes für jeden, der damit befaßt ist, belastend.
Ich denke, daß viele der Proteste nur deshalb so aggressiv wurden, weil in der Öffentlichkeit fortwährend und ausschließlich diese schrecklichen Bilder gezeigt und irreführend kommentiert werden. Die Laborwirklichkeit ist ganz anders. Ich weiß nicht, aus welchen Quellen diese Bilder stammen, es sind immer die gleichen.
Oft wird von Tierversuchsgegnern argumentiert, der Mensch habe nicht das Recht, Versuche an Tieren durchzuführen. Was halten Sie dieser Sichtweise entgegen?
Ich halte dem entgegen, daß Mensch und Tier nicht gleich sind. Es trifft zu, daß Menschen und Tiere Organismen sind, die ihr Leben ganz ähnlichen Stoffwechselprozessen verdanken und ähnlich strukturiert sind. Es gibt aber einen alles entscheidenden Unterschied zwischen Mensch und Tier: Die Menschen sind kulturelle Wesen, sie verfügen über ein anderes Maß an Bewußtheit als Tiere, sie haben ein Konzept ihres Daseins in der Zeit, sie werden von denen, die sie lieben, ganz anders betrauert als Tiere, sie haben Gewissen und können zur Verantwortung gezogen werden. All das würde ich Tieren absprechen. Deshalb ist der Bereich, in dem der Mensch handelt, ein anderer als der, in dem Tiere handeln. Daher steht es uns sehr wohl zu, Unterschiede zwischen den Spezies zu machen. Und natürlich müssen auch die Tiere voneinander unterschieden werden.
Ihrer Ansicht nach müssen Tierversuche im “Interesse des Tieres” so schmerzlos wie möglich sein. Wie stehen Sie zu Tierversuchen, die für die Tiere schmerzvoll, für den medizinischen Fortschritt aber unabdingbar sind?
Die gibt es nicht. Es gibt keinen Grund, einem Tier weh zu tun, wenn man etwas in Erfahrung bringen will. Es gibt einen problematischen Bereich, die Schmerzforschung, die nicht in unseren Arbeitsbereich fällt. Hier müssen tatsächlich Schmerzen ausgelöst werden. Den Mediziner interessiert aber nur: Wo ist die Schwelle, ab der Schmerzen empfunden werden. Es geht nicht um maximale Schmerzen. Die Tiere können die schmerzhaften Reize sofort durch den Sprung auf eine Plattform oder durch Tastendruck beenden, was sie auch tun, sobald sie die Reize als unangenehm empfinden. Wenn ich einen Eingriff vornehmen muß, der für das Tier schmerzhaft ist, mache ich den natürlich in Vollnarkose.
Warum verteidigen nur wenige Wissenschaftler öffentlich die Notwendigkeit von Tierversuchen?
Weil es inzwischen in dieser Republik mit erheblichen Unannehmlichkeiten verbunden ist, Tierversuche durchzuführen. In anderen Ländern wird man nicht attackiert, wenn man wissenschaftliche Auszeichnungen erhält. Es wäre natürlich die Aufgabe der Wissenschaftler, in die Öffentlichkeit zu gehen und klarzumachen, daß biomedizinische Forschung nach wie vor der Untersuchung tierischer Organe bedarf und daß praktisch alle universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen im Bereich der Medizin, der Biologie, der Pharmazie und zunehmend auch der Psychologie Untersuchungen an Tieren vornehmen. Auch ich habe viel in der Öffentlichkeit gesprochen, weil ich es für unsere Pflicht halte, unsere Forschung einem breiten Publikum zugänglich zu machen, und ich verschweige auch nicht, daß ich Tierversuche mache. Deshalb bin ich ein leichtes Ziel, bin leicht zu identifizieren. Ein anderes Problem ist natürlich, daß die Politik in der Regel zu selten für uns Partei ergreift. Die Verantwortlichen in der politischen Szene schmücken sich gerne mit uns, wenn wir internationale Preise bekommen und unsere Forschung gelobt wird. Sobald aber die Anwürfe kommen, ist niemand da, der verteidigend für uns das Wort ergreift. Wir stehen dann meist allein und stellen überrascht fest, daß die Gesellschaft zwar unsere Arbeit unterstützt, deren Früchte bereitwillig in Anspruch nimmt, aber die Verantwortung dafür nicht teilen möchte.
Vielen Dank für das Gespräch.