Über Sinn, Zweck und Probleme von Trend- und Zukunftsforschung.
(Dieser Text basiert auf dem Vorwort der 2003 vom Zukunftsinstitut herausgegebenen Studie „Handbuch Trend- und Zukunftsforschung. Eine Branche stellt sich vor“)
Macht uns die Zukunft das Leben schwer? In gewisser Weise schon. Als es sie noch nicht gab, war alles viel einfacher. Unsere primitiven Vorfahren dachten nicht viel, wussten nicht viel, wollten nicht viel, und sie waren auch nicht viele. Sie waren mit ihrer Gegenwart beschäftigt, suchten Nahrung und kümmerten sich um den Erhalt ihrer Art. Das war der einzige, sehr indirekte Kontakt, den sie mit der Zukunft hatten. Ansonsten waren sie echte „No-Futures“. Alles Handeln war auf die Verbesserung des Hier und Jetzt ausgerichtet und beruhte mehrheitlich auf Instinkten. Das Leben war hart, kurz, absehbar und hatte einen klaren, vorgegebenen Sinn. Was hätte hier ein Blick nach vorne schon Erhellendes bringen können? Wer im Kreis läuft, hat kein Ziel. Modern ausgedrückt: Der Weg war das Ziel.
Erst als diese Wesen sich langsam aus den Bäumen abseilten und den aufrechten Gang erlernten, begannen sie auch, in die Ferne zu schauen. Dies auch im übertragenen Sinne: Ihr Handeln wurde komplexer und individueller, sie veränderten ihre Gewohnheiten, eigneten sich neue Verhaltensweisen und Kenntnisse an und begannen somit, ihre Gegenwart so zu verändern, dass sie nicht mehr einfach nur die Fortführung des Vergangenen war. Sie brachen aus dem Kreislauf des Vegetierens aus und ließen ihre nahen Verwandten im ihm zurück; sie wurden zu Menschen. Ohne es zu wissen, eröffneten sie sich Wege in ein Reich, an dessen Existenz kein Wesen zuvor je gedacht hatte: die Zukunft. Diese Wege auszukundschaften und auf ihnen voranzuschreiten wurde zu einer Triebfeder ihres Handelns und ist es bis heute.
Mithin könnte man Menschen per definitionem als Zukunftsforscher, Zukunftsdenker und Zukunftsmacher bezeichnen. Jedoch nur wenige nennen sich so. Was unterscheidet diese von anderen? Welchen Kriterien müssen sie erfüllen? Welche Zulassungsbehörde entscheidet darüber, wer sich Zukunftsforscher nennen und auf dem Markt der Zukunftsforschung tummeln darf? Und vor allem: Was macht einen „seriösen“ Zukunftsforscher aus?
Es gibt Fragen, für die wir gerne einfache und allgemeingültige Antworten hätten. Gleichzeitig wären wir wohl überrascht, solche vorzufinden. Wahrscheinlich wären wir sogar brüskiert, denn eigentlich wollen wir sie ja selbst entdecken. Und dennoch suchen wir Rat bei Experten. Wir wüssten einfach zu gerne, was kommt – sei es aus Neugier, aus Tatendrang oder aus Angst. Gerade wenn wir ein wenig den Überblick verlieren, trachten wir nach dem roten Faden, der uns mit dem Morgen verbindet und uns den richtigen Weg durch das Heute weist. Dieser Nachfrage wird entsprochen: An jeder Straßenecke stehen Lösungsanbieter, Wissende wie Warnende, und bieten uns ihre Einsichten zur Einsicht an. Sie nennen sich Zukunftsforscher, Trendforscher, Zukunftsentwickler oder dergleichen.
Eins vorneweg: Zukunft kann man nicht kaufen. Man kann sie auch nicht „kennen“, höchstens erahnen und sich erarbeiten. Deshalb sind auch Begriffe wie „Zukunftswissen“ umstritten, suggerieren sie doch, man könne genau wissen, welches Wissen tatsächlich „Zukunft“ habe. Wer fest an die eine Zukunft glaubt, ist auf dem direkten Holzweg in die Vergangenheit. Schließlich bastelt ein jeder täglich an seiner eigenen Zukunft und ist in ihrem Auftrag unterwegs. Sie ist nicht das Ergebnis genetischer Programmierung wie die eines Schimpansen, einer Eintagsfliege oder eines Grashalms, sondern sie ist offen und ungewiss. Kein Wunder, dass wir unsere Existenz manchmal als schwierig empfinden. Oft sehen wir den Wald vor lauter Möglichkeiten nicht.
Ein Blick zurück zeigt uns, wie weit uns das Streben in die Zukunft gebracht hat. Unsere Zivilisationen fußen auf unendlich vielen vergangenen Zukünften, Ideen, Visionen und Anstrengungen, vergammelten Wahrheiten und Werkzeugen, untergegangenen Reichen und menschlichen Schicksalen. Oft werden diese ein wenig verächtlich als „Müllhaufen der Geschichte“ bezeichnet. Dieses Fundament verändert sich täglich. Manchmal, so scheint es, werden an einem einzigen Tag halbe Welten auf ihm endgelagert; dann wieder hat man den Eindruck, der Müllhaufen werde abgetragen und als „Zukunft“ recycelt. Viele sagen dann, die Geschichte wiederhole sich, denn der Abstand zur Vergangenheit scheint sich zu verringern. In solchen Phasen hat „Zukunft“ manchmal etwas Bedrohliches. Gerade in Zeiten, in denen Innovationen und möglich werdende Fortschritte das Denken prägen und die Chancen die Risiken zu überwiegen scheinen, sieht man dem, was da kommen mag, selbstbewusster entgegen. In anderen Perioden schlägt die Zuversicht in ihr Gegenteil um: aus Ungewissheit und Chance werden in der Wahrnehmung Risiko und Gefahr. Manchmal genügt dazu ein einziges Ereignis, ein Jahreswechsel oder auch nur ein Missverständnis, damit sich dieses Gefühl den Weg an die Oberfläche bahnt.
Zukunft passiert also nicht einfach nur wie der nächste Sonnenaufgang, sondern sie ist das Produkt menschlichen Denkens und Handelns. Selbst wer behauptet, nur im Hier und Jetzt zu leben und nicht an morgen zu denken, trifft Vorsorge, dass dies auch morgen noch der Fall ist und verfolgt somit einen „Plan“. Das Nachdenken über die Zukunft ist eine menschliche Tätigkeit, denn sie beinhaltet das ständige Modellieren der Gegenwart. Learning by doing im wahrsten Sinne des Wortes: Der Mensch macht nicht Geschichte, er macht in erster Linie Zukunft.
Oder auch nicht. Denn im Namen der Zukunft wird auch viel Schindluder getrieben: Zukunft wird nicht nur gewollt und gemacht; sie wird auch erlogen, propagiert, herbeigeredet, befürchtet, abgelehnt, auf Eis gelegt und sogar verhindert. Beständig werden Zukünfte an Stamm-, Konferenz- oder an Küchentischen hin- und hergewälzt. In alle erdenklichen Richtungen wird im Namen der Zukunft die Gegenwart gestaltet. Konzepte wie „Zukunftsfähigkeit“ und die „Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen“ schwirren durch Köpfe, Kneipen, Kirchen und Konferenzen und erzeugen ernsthafte und besorgte Klänge.
Keine Frage: Das Nachdenken über die Zukunft ist für viele Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine Spaßveranstaltung. Es ist auch keine Science-Fiction-Lesung. Manchmal gerät es zu einer Art Requiem, als ob man das, was kommen mag, schon heute gedanklich zu Grabe tragen wolle – „nachhaltige Zukunftsbewältigung“ gewissermaßen. Wer das Denken über die Gegenwart dominiert, dominiert auch das Zukunftsdenken: Beides wird heute eher von pessimistischen Bedenkenträgern als von optimistischen Hoffnungsträgern beherrscht. Es gilt heute als bedacht, Zukunft mit Bedenken zu belegen, während es als unbedacht und bedenklich gilt, Zukunft mit Hoffnungen zu erfüllen. Wie man dazu steht, ist Ansichtssache, genau wie die Antwort auf die Frage, ob unsere Ahnen nicht doch besser auf den Bäumen geblieben wären.
Zahlreiche gegenwärtige Gedankengebäude ruhen auf der Zukunft. Sie eignet sich sogar zur Legitimation der Vergangenheit als Bauplan für eine zukunftsfreie Gegenwart. Wie zukunftsfrei mit Zukunft umgegangen werden kann, manifestiert sich in dem Leitsatz: „Wir haben uns die Welt nur von unseren Kindern geborgt.“ Verstanden wird dieser in der Regel als Mahnung, mit der Natur schonend umzugehen und möglichst wenig zerstörerisches, verbrauchendes und veränderndes Verhalten an den Tag zu legen. Der Mensch betritt als vorübergehender Gast oder Mieter den Planeten seiner ungeborenen Kinder und hat sich entsprechend aufzuführen: unauffällig, leise, die Hausordnung achtend und die Wohnungseinrichtung schützend.
Obgleich mehrheitsfähig, widerspricht dieser Leitsatz – liest man ihn einmal Wort für Wort – nahezu allen menschlichen Attributen: Menschen sind von ihrer Natur aus unfähig, dieser Anforderung zu genügen. Die Kinder, denen die geliehene Welt „zurückgegeben“ werden soll, sind, wenn schon auf dieser Welt eingetroffen, paradoxerweise gerade dabei, sich an die Spielregeln derjenigen zu gewöhnen, die offenbar gerade ihr „Gastrecht“ missbrauchen. Von dem, was in sie hineininterpretiert wird, wissen unsere Kleinen zum Glück nichts. Auch die Hausordnung, die uns das richtige Verhalten vorgeben soll, existiert nicht, sondern ist die Erfindung der selbsterklärten „Gäste“. Selbst der Zustand des Planeten ist eine offensichtliche Hinterlassenschaft von „Vormietern“, die alles getan haben, nur nicht, ihn in seinem Originalzustand zu belassen. Was also tun? Der alten Sitte der Menschheit folgen und weiter renovieren, ausbessern und entwickeln, oder aber den Ist-Zustand bewahren und die Wiederaufnahme in den ewigen Kreislauf beantragen? Die scheinbare Option ist keine. Wir haben keine Wahl, denn wir sind Chancenjäger und Ideensammler und können das Denken und Handeln einfach nicht lassen. Gerade deshalb ist der Leitsatz so falsch: Er spricht uns die Fähigkeit und die Pflicht ab, Geschichte bzw. Zukunft zu machen. Wir haben die Welt nicht geborgt. Wir haben sie erkämpft, sie der Vergangenheit abgetrotzt und mit jedem Tag, an dem wir Fußabdrücke auf ihr hinterließen, sie der Gegenwart ein Stückchen näher gebracht, sie gestaltet und auch besser gemacht.
Mit Händen greifbar wird die heute in vielen Bereichen spürbare Knebelung der Zukunft in der weit verbreiteten Gewohnheit, politische, gesellschaftliche oder wissenschaftliche Entscheidungen „im Namen künftiger Generationen“ zu fällen. Diese als Geste verantwortungsbewussten Handelns gemeinte Floskel entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als ein wahrhaftiges Generationengefängnis, das dem Menschen – dem heutigen wie dem künftigen – das abspricht, was ihn ausmacht: die Fähigkeit, die Zukunft von heute morgen schon als Schnee von gestern zu entlarven. Wer im Namen künftiger Generationen handelt und sich zum Sprachrohr der Nichtexistenten stilisiert, setzt alle Mechanismen der rationalen – im politischen Diskurs auch der demokratischen – Wahrheits- und Rechenschaftspflicht außer Kraft: Er kann nicht nur problemlos Vorstellungen, Ziele und Bedürfnisse der jetzigen Generation und damit die Gegenwart übergehen, er braucht überdies auch nicht zu befürchten, von künftigen Generationen gemaßregelt zu werden.
Erklingt heute eine Forderung im Namen künftiger Generationen, kann man fast sicher sein, dass gerade jemand versucht, die Welt anzuhalten, unsere Kinder in unseren Ereignishorizont einzusperren und um ihrer Zukunft willen eben diese zu verhindern. Die Zukunft erscheint hier als Mauer, vor die wir fahren, wenn wir nicht umdenken und umlenken. Gerade diese moralisch unverrückbar erscheinende Art der „Zukunftskolonisierung“ richtet großen Schaden an, denn sie lässt abweichende Sichtweisen und Zukünfte nicht zu. Wenn frei erfundene „Interessen künftiger Generationen“ zum Leitmotiv für die Gegenwart werden und die Menschen aufhören, sich selbst als Träger von berechtigten Eigeninteressen und entsprechenden Handlungen zu begreifen, fügen sie sich bewusst- und orientierungslos in ihr fremdbestimmtes Schicksal und verlieren das, was sie zu Menschen macht.
Man sieht, wie einfach selbst rückwärtsgerichtete Gedankengänge mit Zukunft tapeziert werden können. Diese Ausschmückung alter Denkgewölbe hat Tradition: Wer sagt schon gern von sich, das Zukünftige sei ihm zu künftig? Da ist es schon überzeugender, die Zukunft als Feindesland an die Wand zu malen, damit sich Gegenwart und Vergangenheit ein wenig heimeliger anfühlen.
Wert- und wertungsfrei ist Zukunft also kaum zu haben. Deshalb ist es auch schwer, die Früchte ihrer Erforschung wissenschaftlich-neutral zu bewerten. „Trendforscher“ und „Zukunftsforscher“ schreiben sich auf die Fahnen, Wissen zu generieren, das es möglich mache, zumindest ein paar flüchtige Blicke in die Zukunft zu werfen, bestenfalls sogar einen kleinen abgesteckten Bezirk der Zukunft zu kolonisieren. Da aber Zukunftsforscher keine Physiker sind und die Zukunft sich nicht an Naturgesetze hält, sondern von Menschen gemacht wird, sind die Visionen und Szenarien, die die Zukunftsforschung generiert, immer von dem Wissen über und vor allem von der Einstellung gegenüber dem Menschen abhängig. Ob der Mensch als destruktiv oder eher als kreativ, ob als Problem oder als dessen Lösung angesehen wird, entscheidet über die Zukunft, die zu blühen ihm vorhergesagt wird.
Entsprechend vielfältig sind die auf dem Markt der Ideen angebotenen Zukünfte: Die Angebotspalette reicht von ökologisch motivierten und nicht selten esoterischen „Doomsday-Prophezeiungen“ über scheinbar wertneutrale „mathematisierende und wenig inspirierende Zukunftsberechnungen“ bis hin zu den Produkten einiger weniger „Zukunftsoptimisten“ und „Visionären“, die auch einmal den Mut haben, sich weit aus bisher verrammelten Fenstern zu lehnen. Der Versuch einer Einordnung der unterschiedlichen Anbieter von Zukunft könnte auf vielerlei Ebenen stattfinden: angewandte Methoden eignen sich hierfür genauso wie die vorgenommene Spezialisierung auf bestimmte Forschungsbereiche. Die hierbei festzustellenden Unterschiede sind interessant und aufschlussreich, aber ihre Kenntnis reicht nicht aus, um die verschiedenen Herangehensweisen an die Zukunft zu verstehen. Da Zukunftsforschung nicht nur passiv erforschen, sondern über ihr Forschen auch Zukunft gestalten will, ist es wichtig, Mission, Selbstverständnis und grundlegende Ausrichtung in Betracht zu ziehen.
Dies ist zugegebenermaßen ein schwieriges Unterfangen. Es gibt keine „linke“ oder „rechte“ Zukunftsforschung. Diese Kategorien hatten, wenn überhaupt, hier nur in der Vergangenheit Relevanz. Moderne Scheuklappen begrenzen das Blickfeld in anderer Art und Weise. Ein denkbares Kriterium ist, wie offen, das heißt wie menschzentriert und „machbar“ Zukunft gedacht wird. Gilt Zukunft als etwas, durch das wir uns „hindurchmogeln“ und für das wir erst „fit“ gemacht werden müssen, um mithalten zu können? Oder gilt sie als etwas, das wir auch im großen Stil nach unseren eigenen Vorstellungen und Inspirationen prägen, kreieren und bewusst gestalten können? Eröffnet Zukunftsforschung den Blick in neue Richtungen, zeigt sie uns tatsächlich die Vielfalt unserer Handlungsoptionen, oder verengt sie unseren Denkhorizont und Spielraum? Will sie uns ermuntern, Zukunft zu machen, oder will sie uns warnen vor dem Glauben an die Machbarkeit des Zukünftigen?
Zukunftsforschung spiegelt den Zeitgeist, und auch wenn sie es nur ungern hört: Sie tat es schon immer. Dies gilt es zu beachten, wenn man die Szenarien und Empfehlungen der Zukunftsforschung in sein eigenes Denken einverleibt. Befragt man Menschen über die Zukunft, erfährt man viel über ihre Sichtweise der Gegenwart, noch mehr aber über sie selbst. Auch in dieser Beziehung ist Zukunftsforschung zumeist Gegenwartsforschung. Da es erklärtermaßen zum Jobprofil eines „Zukunftsforschers“ gehört, über den Tellerrand zu blicken und quer und damit auch „zeitgeistkritisch“ zu denken – schließlich ist nichts jetztzeitabhängiger als der Zeitgeist – , muss er sich daran messen lassen. Die hier unternommene Darstellung des Marktes der Trend- und Zukunftsforschung ist mehr als nur eine Verbraucherinformation und Kundenberatung; sie ist zugleich eine Aufforderung, Zukunft nicht nur als „Fortsetzung der Gegenwart mit anderen Mitteln“ aufzufassen, auf die man wie auf einen Zug aufspringen und mitfahren kann. Wenn die Reise in Richtung Zukunft geht, sind alle Menschen Piloten und Pioniere, und vor allem: Sie sind „Zukunftsmacher“. Augen auf!