„Gaga-Politik“

Über Silvio Berlusconi, Martin Schultz und andere politische Tiefflieger des Sommers 2003

(Erschienen in Novo66, September/Oktober 2003)

Erinnern Sie sich noch? Deutschland gegen Italien. Nein, nicht das WM-Halbfinale von 1970, sondern das diesjährige Scharmützel um unpassende KZ-Aufseher-Vergleiche, dumpf-nationalistische Entgleisungen und Urlauberbeschimpfungen ist gemeint. Aber warum jetzt noch darüber schreiben?

Wäre die Affäre, die im heißen Juli das Verhältnis zwischen Rom und Berlin abkühlte, tatsächlich ein üblicher Sommerloch-Pfropf gewesen, müsste in der Tat kein weiteres Wort darüber verloren werden. Das Problem aber ist: Das Sommerloch hat mittlerweile Ausmaße erreicht, die die Jahreszeitlichkeit des Phänomens in Frage stellen. Politik wird inzwischen das ganze Jahr über aus dem Sommerloch heraus betrieben. Erschütternd ist dabei nicht nur sein Durchmesser, sondern auch seine Tiefe.

Keine Frage, Silvio Berlusconis Ausbruch bei seinem ersten Auftritt als EU-Ratspräsident vor dem Europaparlament war so, wie man ihn von einem Vorsitzenden einer klassischen Regierungs-Protestpartei erwartet. Bar jeden politisch-diplomatischen Fingerspitzengefühls und blind für Ansehen und Verantwortung für internationale Ämter wird bockig, gedanken- und inhaltslos zurückgepoltert, wann immer es angebracht erscheint. Dass derartige Politiker an die Macht kommen, ist weder ein italienisches Problem noch allein der politischen Unvernunft von Wählern anzulasten. In erster Linie ist es der Visions- und Konzeptlosigkeit implodierender politischer Eliten zuzuschreiben, dass selbst Protestpolitik visionär und wählbar wirkt.

Doch nicht nur in Rom werden politische Sandkuchen gebacken. Der Auftritt des deutschen Europaabgeordneten Martin Schulz (SPD), der überhaupt erst den Weg einschlug, auf dem sich Berlusconi anschließend vergaloppierte, war absolut reif für ein Kinderparlament.

Scheinbar geht die Erosion diplomatischer Gepflogenheiten und Standards einher mit dem Bedeutungsverlust altehrwürdiger Beziehungen und Institutionen. Anders ist es nicht zu erklären, wie ein Europa-Abgeordneter die Antrittsrede eines EU-Ratspräsidenten zu nutzen auf die Idee kommt, um diesen in respektloser Weise als korrupten Kriminellen vorzuführen, Mitgliedern seiner heimischen Regierung die Intelligenz abzusprechen und ihn aufzufordern, sich und den Seinen erst einmal den Inhalt der EU-Grundrechte-Charta bewusst zu machen.

Dass Schulz auch noch selbstherrlich forderte, Berlusconi solle sich für seine Reaktion entschuldigen, setzte dem Ganzen die Krone auf. Als jener sich weigerte, kartete Schulz in einem Interview nach und verlautbarte, Berlusconi sei „nicht Europa-kompatibel“ (Die Welt, 4.7.03). Selbst der altersweise Außenminister Fischer wäre, wenn von Schulz derart ins Visier genommen, womöglich ausfallend geworden. Er wurde es auch, wenn auch nicht stilistisch, so doch inhaltlich, als er den Ausfall Berlusconis als Argument dafür gelten ließ, die EU bräuchte dringend einen hauptamtlichen Ratspräsidenten, womit er letztlich die Aussage von Schulz, der italienische Ministerpräsident verfüge nicht über hinreichende europäische Qualitäten, bekräftigte (FTD, 4.7.03).

Schnell wurde dieser Teil der Affäre aber vom italienischen Staatssekretär Stefano Stefani überstrahlt, der mit seinen Äußerungen über „die Deutschen“ nur deren Lesart unterstrich, die Italiener seien uneuropäisch oder, wie sich Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis im Rheinischen Merkur ausdrückte, schlichtweg „gaga“ (17.7.03).

Den Rest kennen Sie. Schröder erhob in wilhelminischer Tradition seine Urlaubsplanung zum Politikum und forderte die Entlassung Stefanis. Das deutsche Gemüt beruhigte sich erst, als dieser nach einer Woche schließlich den Hut nahm und zu Kreuze kroch, was die Frankfurter Rundschau am 14. Juli dazu animierte, in Richtung Berlusconi nachzutreten und die anklagende Frage zu stellen, warum Rom mit dem Rausschmiss eine Woche gewartet habe.

Aber zurück zur Ausgangsfrage. Was hat Schulz zu seinem Straßburger Ausritt bewogen? Manch einer mag einen Zusammenhang zu dem Ende Juni die Runde machenden Gerücht sehen, die SPD habe bei den nächsten Europawahlen nicht mehr auf den ehemaligen Bürgermeister der Kleinstadt Würselen setzen wollen. Die These hat etwas bestechend Logisches: Nur wenige Tage später provoziert der selbsterklärte „Anti-Nazi“ Schulz den in dieser Hinsicht sehr verlässlichen Berlusconi bis aufs Messer und gebärdet sich nach dessen Ausfall als menschlich verletztes „Opfer“. Über Nacht wird aus dem Wackelkandidaten einer der bekanntesten Euro-Parlamentarier. Es dauert nicht lang, bis der Vorsitzende der SPD in NRW, Harald Schartau, ihm bescheinigt, er habe „Profil gezeigt“ und sei geeignet für Platz 1 der Bundesliste für die Europawahl 2004. Tags zuvor hatte Schulz sich nochmals mit der Aussage, Italien habe eine „rassistische Regierung“, ins Gespräch gebracht. Ein Schuft, der dies als geplante Profilierungsstrategie missdeutet.

Wahrscheinlicher ist aber, dass Schulz einfach nur das tat, was heute in Politikerkreisen häufig als „hartes Kritisieren“ bezeichnet wird. Wo Inhalte und Argumente, über die sachlich zu diskutieren wäre und die ein diszipliniertes und geschicktes politisches Vorgehen erforderten, fehlen und durch moralische Überzeugungen ersetzt werden, werden Höflichkeit und Professionalität zu Fesseln der Selbstentfaltung. Anders formuliert: Wem das Wasser bis zum Hals steht, den interessiert auch nicht, wo sich die Gürtellinie befindet. Wir fühlen uns erinnert an Herta Däubler-Gmelins Abschiedsgeschenk an die eigene Regierung, als sie Tage vor der Bundestagswahl George W. Bush mit Hitler verglich. Auch die Österreicher können ein Lied davon singen, was es heißt, in Europa präventiv zum Paria gestempelt zu werden, ohne auch nur das Geringste verbrochen zu haben.

Diese Art von Gaga-Politik ist kindisch; man könnte auch sagen, sie sei peinlich und einfach nur zum Lachen. Aber leider ist sie ein bisschen mehr: Denn wer derart Politik betreibt, könnte auch eines Tages wieder Scheiterhaufen errichten und das Hirn für ein Geschwür halten.